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Einpflegung von Brief 363.
This commit is contained in:
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<align pos="right">in tiefster Unterthänigkeit J.M.R. Lenz</align></letterText>
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<align pos="right">in tiefster Unterthänigkeit J.M.R. Lenz</align></letterText>
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<letterText letter="363"><align pos="right">Aus <ul>Moskwa</ul> den ??<!-- Fragezeichen im Text? --></align> <line type="empty"/>
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<align pos="center">Geliebter Bruder!</align> <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Lebt unser Vater noch? Ist er gesund munter? Denkt er noch an den 10ten Julius und liest er bisweilen
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in den Büchern Mosis vom zehnten Tage des siebenten Monden? <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Siehe lieber Bruder! den Menschen der unter allen die mißverstanden worden, am meisten
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mißverstanden wird und den die Hand Gottes noch erhält – ihm Freunde und Beschützer zuwendet
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und in keiner Noth gänzlich untergehen ließ. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Ich höre vom jungen Herrn Reimmann daß Hartknochs Sohn den Handel seines Herrn Vaters fortsetzt.
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Wenn du ihn siehst, erzeige mir die Liebe und frage ihn, was unsere Schweizerfreunde machen – und
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wofür sie mich etwa wohl itzt halten? Ist Herr Füeßli sein Reisegesellschafter, den ich in Petcrsburg
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kennen lernte auch wiedergekommen? Ach wie werden einem doch so flüchtige Augenblike des Genusses
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als ich in der Schweitz beym Anschauen der Physischen und Moralischen bessern Natur hatte, offt
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wieder durch so viele Proben verbittert! Wie empfindlich ist es, von ausschweiffender oder verschrobener
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Phantasey solcher Personen zu leiden, die sich selbst den Genuß einer Seele frey von unruhigen
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Leidenschaften, die zum Schaden des Nächsten abzweken, auf dieser Unterwelt niemals zu gönnen
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scheinen. Von Personen die durch ihre Talente desto mehr Schaden anrichten, je mehr sie sich
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stellen uns nicht zu verstehen, um durch üble Auslegungen von Worten und Handlungen ausser allem
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Zusammenhang, unsägliche Schmerzen aufzulegen. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Man sprach einige Zeitlang von neuen Universitäten in der Gegend um Pieskau und hier gegen den Dnepr
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in Zemigow, wo ein Erzbischoff und eine Drukerey ist, in welcher verschiedene Schriften der Geistlichen
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in Russischer Sprache herauskommen. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/><sidenote pos="left" page="1" annotation="am linken Rand der ersten Seite, vertikal">Wenn Herr von Karamsin durchgeht, so erzeige mir die Freundschaft, mein Trauter! ihm wo möglich den
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Aufenthalt recht angenehm zu machen. Er liebt die deutsche Sprache vorzüglich, spricht und schreibt
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sie wie ein geborner Deutscher und könnte mit Hülfe des Herrn Bakmeister in Peterburg, da er itzt viel
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Bekanntschaft mit ausländischen Gelehrten gemacht, manchen guten Rath in Ansehung benachbarter
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Universitäten geben. Was macht der unglüklich ausgelegte noch viel mehr als ich mißverstandne Goethe
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und seine Autorschaft? Hört man nichts von ihm?</sidenote> <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Allein der Bibelabdruk, der in Ostrogoschk wo Augsspurgische Colanisten sind herausgekommen ist sehr alt
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und den meisten unverständlich. Es möchten sich im hiesigen Gouvernement Maaßregeln zu einem neuem finden,
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dem auch eine neue deutsche Uebersetzung mit Auslassung vieler Zweideutigkeiten der <ul>alten Sprache,</ul> bey gefügt
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werden könnte, z. B. des öftern, <ul>er bethete ihn an,</ul> wenn von Menschen gegen Menschen die Rede ist.
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Und Ehr. 7,10 die fürtreflichste und heiligste Stelle der ganzen Bibel, die ein wenig allzu unehrerbietig
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herauskommt. Zu geschweigen der poetischen Schönheiten in Psalmen und Propheten – wobey dennoch die alte
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Uebersetzung soviel möglich beyzubehalten wäre. Man hat hier einige Lateinische, wie mich deucht von vielem Werth. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Lieber Bruder! kennest du nicht in Liefland oder vielmehr Riga einen <ul>Druschinin</ul> für die Russischen
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Angelegenheiten und sollte sich nicht daselbst eine <ul>Cirkulationsbank für den einheimischen Handel</ul> etwa
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gegen Polozk zu eröfnen lassen, von welchem Projekt dir vielleicht gar ein gedruktes Blatt zuzusenden
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hoffe, an dem ich selbst gearbeitet, daß einsichtsvollere Patrioten dasselbe verbessern können. [Verweiszeichen]<!-- Verweiszeichen -->
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Die Hauptursache ist der schwürige <ul>Transport in und von den Seehäfen,</ul> die weit bequemere Eröfnung der sich
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überall berührenden Flüsse Rußlands und der die vielen vennittelnden kleinern <ul>Städte und Jahrmärkte</ul> und
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reisenden <ul>Russischen Kaufleute</ul> wegen weit bequemere <ul>Wechsel von Waare gegen Waare durch an diesen Orten
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bestellten Commissionärs</ul> oder <ul>kleine Consuls.</ul> Die Ausländer selbst würden an einen solchen vermittelnden
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Ort z. B. einer Rigischen Cirkulationsbank, in deren Nachbarschaft die einheimischen Produkte aufgeschüttet
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würden, mit welchen die Crone grosse Geschäfte machte und das Geld in kleinen Summen gegen Sicherheit an
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Russische Mäkler ausliehe sehr viele Bestellungen machen und von denen südlichen Provinzen am Dnepr gegen
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Zemigoff zu, ihrerseits wieder erhalten. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/><sidenote pos="left" page="2" annotation="am linken Rand der zweiten Seite, vertikal">[Verweiszeichen]<!-- Verweiszeichen -->Wir haben sieben Cirkulationsbanken, ausser den 2. in Moskau und Petersburg. 1. Jaroslaff 2. Smolensk
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3. Welikiustjoug 4. Astrachan 5. Nischnowgrod 6. Wischneiwolotschk 7. Tobolsk – zwischen welchen nach Ditheys
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Wechselrecht Beständige Correspondenz und Uebermachung von Geldsummen ist, so daß, wer z. B. rohe Seide, Thee,
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Pelzwerk, Gewürz u. s. f. aufzukauffen an einem entfernten Ort begehrte, an dem nächsten das Geld dafür deponirt
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und die Waare durch Kaufleute auf den Jahrmärkten erhält. Umgekehrt kann ers mit Bestellungen z. B. aus Kleinrußland,
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Belgrood, Orel, durch rükreisende Kaufleute mit Waaren aus den Seehäfen eben so machen</sidenote> <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Dieses geht hauptsächlich denjenigen Adel an, der eigene Manufakturen anlegt, von denen einige kenne, zu welchen er
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die ersten Materialien hier aus der nächsten Hand erhält. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Noch eine Freundschaft bitte mir zu erzeigen und mir zu berichten, welches itzt die weltlichen Mitglieder des
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Rigischen Oberconsistorium sind und ob noch Mitglieder aus dem Hofgericht dazu gezogen werden. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Ich habe weder von dem Bruder aus Derpt, noch dem lieben französischen Bruder Moritz – so wenig als von unserm
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jüngsten Bruder aus Reval die mindesten Nachrichten, seitdem Freund <ul>Hüne,</ul> der wo ich nicht irre Verwandte in Reval
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hat, aus unserer Stadt verschwunden ist. Wenn sie sich nur alle wohl befinden, wenn sie nur alle meine Thorheiten
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vergessen können, über welche die ganze Correspondenz unsers lieben theuren Vaters <insertion pos="top">und Bruders</insertion> durch Feuer
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verloren. O möchte doch in ganz Rußland alle alten Sauerteigserinnerungen ausgefegt und vergessen werden! – – <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Ist nicht Herr Huthoff durch Riga gereist und hat etwa bey dir eingesprochen? Er soll wie man mir gesagt, in
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Hannover seyn und wollte Briefe und Aufträge von mir mitnehmen, welche Gelegenheit aber entwischte. Ich hätte
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gern die ersten fünf Gesänge der Russiade (des alten Israelitenkriegs gegen Götzendiener längst durch
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Sündfluthen verwischter Generationen) ihm anvertraut, die vielleicht Herr Boje in das Museum gerükt haben würde,
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um doch das deutsche Publikum mit dem Genius der Russischen Epopée auch bekannt zu machen. So aber flog er
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davon und ich kann nicht einmal zu meinem Manuscript kommen, denn es scheint es kann hier in Moskau schwerlich
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abgedrukt werden, ohngeachtet das Russische Exemplar in jedermanns Händen ist, das für deutsche Leser einige
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Erklärung bedurfte. Da die Urussen ehemals selbst eine Tatarische Völkerschaft waren, so wäre es Wahnsinn und
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Aberwitz, da die vornehmsten Geschlechter in Rußland aus diesem Stamme sind, ein Gedicht dieser Art mit unsinnigen
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witzelnden Anwendungen und Anspielungen zu lesen. <line type="empty"/>
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<sidenote pos="left" page="3" annotation="am linken Rand der dritten Seite, vertikal">es gehen wo ich nicht irre schon itzt nach Dünaburg Rigische Wittinere mit Geträide für Peterburg und Moskau <line type="empty"/></sidenote>
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<page index="4"/> <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Man studiert überhaupt in Liefland zu wenig Russische Geschichte. Es würde dieses hunderttausend Schwürigkeiten und
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Steine des Anstosses heben, die durch verwirrenden und verfinsternden Wahn der Leidenschaften und des Mißverstandes
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gemacht werden. Auch kommen zu wenig Russische Bücher ins Land, z. B. Lebensgeschichte alter Russischen Geistlichen
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mit ihren Gesichtern und altfränkischer Kleidung, die in heutigen Zeiten nichts anstössiges haben sollte. Erfährst
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du lieber Bruder etwas vom verdienstvollen Herrn Topografen Hupel, so erkundige dich doch nach seinem Aesthiisch
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Phrygischen Wörterbuch. Ich habe einen Aufsatz liegen über die alte Emblematische Sprache des alten Phrygischen
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Götzendienstes der durch ganz Europa verbreiteten Gallen oder Priester der Cybele, wie auch der Vreesen, Frisen,
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(Phrygier) in Holland, der Esthier (<aq>Aesthii</aq> des Tazitus) und <ul>Litthuanier</ul> oder Lateiner die an der <ul>Küste</ul> wohnten,
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worinn ich die Verwandschaft aller Sprachen in Rußland vermuthe und aus einigen Proben dazuthun mich getraute.
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Z. B. alle Benennungen des Teufels oder bösen <aq>principii</aq> von zaubern, <aq><ru>'lepmb</ru>, <ru>'lapoaamb</ru>, <gr>Διάβολος</gr></aq> von <aq><gr>διαβαλλω</gr></aq> ich
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zaubre, verleumde, <aq>oatav,</aq> von <aq><gr>εαζο</gr></aq> ich unterjoche, bezaubere <aq>kurrad</aq> von <aq><ru>noKopRmb,</ru><gr> κορονιαο</gr></aq> im Griechischen und
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Russischen ich bestreite unterjoche u. s. f. im gleichen die Benennung Gottes von <aq>Hut, Gut</aq> durch die Kehle gesprochen,
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<aq>hoja</aq> ich hüete, <aq>choronit</aq> im Slawischen das verwandelte <ul>Hort</ul> der alten deutschen, <aq>tueor</aq> im Lateinischen wovon <aq>Deus</aq> und
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das Litthuanische (<aq>littus</aq>) Wort <aq>deaws</aq> kommt: denn die Priester des Bachus <aq>Sabeer, Sabier</aq> in Italien und Latien und
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am Schwarzen oder Sabachischen Meer und die Gallen oder Priester der Vesta und Cybele hatten beständige Kriege
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gegeneinander. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Wir hoffen auf eine Akademie der Sprachen und auf eine allgemeine Bibelübersetzung mit stehenden Pressen, zu welchen
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hier eine alte Gloke gebraucht werden könnte. Diese wird die Ueberreste der alten Emblematischen Phrygischen und
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alle ihre schändlichen ehmaligen Mysterien bald ausfegen, wozu das Feigenblatt Anlaß gab das <aq><ru>if;pucKocb</ru></aq> hieß und im
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neuen Bunde verflucht ward. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Doch ich plaudere zu viel und vergesse dich deine liebe Gemalinn und alle die deinigen und unsrigen tausendmal in
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Gedanken zu seegnen Lieber Bruder! ich leide – und darf nicht heraussagen, von welcher Seite her. Auch im äusserlichen
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drükt mich Mangel. Lebe wohl. <line type="empty"/>
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<align pos="center">Dein Freund</align><line type="break"/>
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<align pos="right">JMRLenz</align> <line type="empty"/>
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<line tab="1"/><sidenote pos="left" page="4" annotation="am linken Rand der vierten Seite, vertikal">Was macht Herr Rektor Hehn unser ehmalige Freund und seine liebe Gemalinn? Was macht unser lieber Sczibalsky? Melde mir
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doch einige Neuigkeiten, Verheurathungen u. s. f. wenn es Personen sind die ich kenne. Ich erinnere mich noch immer der
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Messe in Derpt und der Bärenhetze, wo die jungen Herrn hernach riefen: Aber wo werden wir essen? – Singt man in Liefland
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noch <aq>Kasike Kanike</aq>. Siehst du daß wir alle Tartarn sind? – Es giebt freilich auch was man gute Zauberey oder lieber
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Kenntniß der Natur nennt, <ul>aber</ul></sidenote></letterText>
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<date when="1789-05-15">Moskau, Ab Mai 1789</date>
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Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, Ms. 1113, F. 25, V. 31, Nr. 34
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Reference in New Issue
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