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@@ -373,7 +373,7 @@ Tarwast den 9ten November 1767.
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<line type="break" />Vites aequora Cycladas.</aq></align>
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<line tab="1" />Wenn ich auf einer dieser Inseln scheitre – wäre es ein so großes Wunder? Und sollte mein Salzmann so strenge ·sein, mich auf denselben, als einen zweiten Robinson Crusoe, ohne Hilfe zu lassen? Ich will es Ihnen gestehen (denn was sollte ich Ihnen nicht gestehen?), ich fürchte mich vor Ihrem Anblick. Sie werden mir bis auf den Grund meines Herzens sehen – und ich werde wie ein armer Sünder vor Ihnen stehen und seufzen, anstatt mich zu rechtfertigen. Was ist der Mensch? Ich erinnere mich noch wohl, daß ich zu gewissen Zeiten stolz einen gewissen G. tadelte und mich mit meiner sittsamen Weisheit innerlich brüstete, wie ein welscher Hahn, als Sie mir etwas von seinen Thorheiten erzählten. Der Himmel und mein Gewissen strafen mich jetzt dafür. Nun hab’ ich Ihnen schon zu viel gesagt, als daß ich Ihnen nicht noch mehr sagen sollte. Doch nein, ich will es bis auf unsere Zusammenkunft versparen. Ich befürchte, die Buchstaben möchten erröthen und das Papier anfangen zu reden. Verbergen Sie doch ja diesen Brief vor der ganzen Welt, vor sich selber und vor mir. Ich wünschte, daß ich Ihnen von Allem Nachricht geben könnte, ohne daß ich nöthig hätte zu reden. Ich bin boshaft auf mich selber, ich bin melancholisch über mein Schicksal – ich wünschte von ganzem Herzen zu sterben.
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<line tab="1" />Den Sonntag waren wir in Ses. den Montag frühe ging ich wieder hin und machte in Gesellschaft des guten Landpriesters und seiner Tochter eine Reise nach Lichtenau. Wir kamen den Abend um 10 Uhr nach S. zurück: dieser und den folgenden Tag blieb ich dort. Nun haben Sie genug. Es ist mir als ob ich auf einer bezauberten Insel gewesen wäre, ich war dort ein anderer Mensch, als ich hier bin, alles was ich geredt und gethan, hab ich im Traum gethan.
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<line tab="1" />Heute reiset Mad. Brion mit ihren beyden Töchtern nach Sarbrücken, zu ihrem Bruder auf 14 Tage, und wird vielleicht <b>ein Mädchen</b> da lassen, das ich wünschte nie gesehen zu haben. Sie hat mir aber bei allen Mächten der L– geschworen, nicht da zu bleiben. Ich bin unglüklich, bester bester Freund! und doch bin ich auch der glücklichste unter allen Menschen. An demselben Tage vielleicht, da sie von Saarbrük zurük kommt, muß ich mit H. v. Kleist nach Straßburg reisen. Also einen Monath getrennt, vielleicht mehr, vielleicht auf immer – Und doch haben wir uns geschworen uns nie zu trennen. Verbrennen Sie diesen Brief – es reut mich, daß ich dies einem treulosen Papier anvertrauen muß. Entziehen Sie mir Ihre Freundschaft nicht: es wäre grausam mir sie jetzt zu entziehen, da ich mir selbst am wenigsten genug bin, da ich mich selbst nicht leiden kann, da ich mich umbringen möchte, wenn das nichts Böses wäre. Ich bin nicht schuld an allen diesen Begebenheiten: ich bin kein Verführer, aber auch kein Verführter, ich habe mich leidend verhalten, der Himmel ist schuld daran, der mag sie auch zum Ende bringen. Ich schließe mich in Ihre Arme als
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<line tab="1" />Heute reiset Mad. Brion mit ihren beyden Töchtern nach Sarbrücken, zu ihrem Bruder auf 14 Tage, und wird vielleicht <it>ein Mädchen</it> da lassen, das ich wünschte nie gesehen zu haben. Sie hat mir aber bei allen Mächten der L– geschworen, nicht da zu bleiben. Ich bin unglüklich, bester bester Freund! und doch bin ich auch der glücklichste unter allen Menschen. An demselben Tage vielleicht, da sie von Saarbrük zurük kommt, muß ich mit H. v. Kleist nach Straßburg reisen. Also einen Monath getrennt, vielleicht mehr, vielleicht auf immer – Und doch haben wir uns geschworen uns nie zu trennen. Verbrennen Sie diesen Brief – es reut mich, daß ich dies einem treulosen Papier anvertrauen muß. Entziehen Sie mir Ihre Freundschaft nicht: es wäre grausam mir sie jetzt zu entziehen, da ich mir selbst am wenigsten genug bin, da ich mich selbst nicht leiden kann, da ich mich umbringen möchte, wenn das nichts Böses wäre. Ich bin nicht schuld an allen diesen Begebenheiten: ich bin kein Verführer, aber auch kein Verführter, ich habe mich leidend verhalten, der Himmel ist schuld daran, der mag sie auch zum Ende bringen. Ich schließe mich in Ihre Arme als
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<line type="break" /><align pos="right">Ihr melancholischer Lenz.</align>
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<line type="empty" />
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<line type="break" /><note>am Rand</note> Haben Sie die Gütigkeit, der ganzen Tischgesellschaft meine Ergebenheit zu versichern. …
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@@ -560,7 +560,7 @@ Tarwast den 9ten November 1767.
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<letterText letter="29">
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<line tab="1"/>Hören Sie liebster Papa! ich habe eine Schrift von Ihnen gelesen die den Tittel führt … Keine Versöhnung geschieht ohne Blutvergießen – – ich sag Ihnen nichts von den schönen Sachen die ich drin gefunden – selbst die Hauptidee die vielleicht manchen kalten Grübler erwärmen – – – aber mir gefällt es nicht, daß Sie unsern Gott wollen sterben lassen, weil es so seyn muß und in dem ganzen Naturreich alles Leben durch Tod eines andern erhalten werden muß
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<line tab="1"/>Wie wär es, wenn wir den Tod Christi vielmehr als ein Symbol und Vorbild von den Erfolgen unsrer Mor – – – oder Immoralität ansähen? Die Idee ist apostolisch, das weis ich, zweyten Thessalonicher lesen Sie nur. Christus war Gesetzgeber mehr durch sein Leben und Thaten als durch seine Worte. Er heilte Kranke mit seinem Athem, mit seinem Anrühren (hier kommen Sie mir zu Hülfe) alles symbolisch, ich bin der Herr dein Arzt nennt er sich im 2 Buch Mose und <gr>ίησουσ</gr> in den Evangelisten. Heißt: folgt ihr meinen Gesetzen voll Liebe, so verlieren sich, verschwinden alle Krankheiten Cörpers und Geistes (merken Sie wohl die unsaubern Geister) jenachdem ihr meinem Cörper <ul>homogener</ul> werdt (siehe Lavater)
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<page index="2"/>Das ist gelallt. Uebersetzen Sie es in Männersprache.
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<page index="2"/><line tab="1"/>Das ist gelallt. Uebersetzen Sie es in Männersprache.
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<line tab="1"/>Ich küsse Ihnen die Hand für den Februar und bitte um weiters.
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<line tab="1"/>Adieu Adieu
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<line type="break" /><align pos="right">JMR Lenz</align>
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@@ -568,7 +568,6 @@ Tarwast den 9ten November 1767.
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<letterText letter="30">Hier, meine liebe Freunde <aq>Lenke</aq> und <aq>Röderer</aq> – den März. April ist noch nicht gemacht. – Habt ihr <aq>Herders älteste Urkunde des Menschengeschlechts</aq>, so lest miteinander, und sättigt Euch, und wärmt euch an der Morgensonne.
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<line tab="1"/>Ach! daß er mir – mein tiefster Wunsch – so gut würde, dieß Jahr Euch auch nur eine Stunde zu sehn – Lebet und leidet, und liebt! –
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<line type="break" /><align pos="right">L.
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<line type="break"/>Den 22. April 74.</align>
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