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	Einpflegung von Brief 123.
This commit is contained in:
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| 			abzugeben bey M. Röderer an der neuen Kirch<line type="break"/>  | 			abzugeben bey M. Röderer an der neuen Kirch<line type="break"/>  | ||||||
| 			zu <ul>Strasburg</ul></letterText> | 			zu <ul>Strasburg</ul></letterText> | ||||||
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|  | 		<letterText letter="123">Straßburg, den 6. März <line type="empty"/> | ||||||
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|  | 			<line tab="1"/>Hochwohlgeborner Herr, schätzbarster Freund und Gönner! Wie oft habe ich den Gedanken gefaßt  | ||||||
|  | 			und wieder fahren lassen, den Genuß der wenigen glücklichen Augenblicke, die Sie mir in Straßburg  | ||||||
|  | 			haben schenken wollen, wieder zu erneuern: aber verschiedene Rücksichten haben mich bisher zu  | ||||||
|  | 			schüchtern dazu gemacht. Unser Verhältniß ist nicht mehr dasselbe, dacht’ ich, es war vielleicht mehr  | ||||||
|  | 			die Neugier eines philosophischen Reisenden, der unterwegens nichts aus der Acht läßt, als wahre  | ||||||
|  | 			unbefriedigte Bedürfniß des Herzen und Geistes, was Ihre Aufmerksamkeit auf mich lenkte, und ich konnte  | ||||||
|  | 			Ihnen in meiner Situation wohl nicht anders vorkommen als ein Zeitungsblatt oder eine unbedeutende Broschüre,  | ||||||
|  | 			die man nicht gern zum zweitenmal liest. So resignirte ich mich endlich, in einem Herzen in  | ||||||
|  | 			Vergessenheit zu gerathen, das ich in den wenigen Stunden unsers Umgangs von so viel liebenswürdigen  | ||||||
|  | 			Seiten kennen gelernt hatte und das ich nicht so leicht vergessen konnte. Hundert Arten peinvolle Zerrungen  | ||||||
|  | 			der tausend kleinen Fäden kamen dazu, die an dem Nervensystem eines Menschen angeknötet sein müssen, der  | ||||||
|  | 			nur durch und in andern Menschen existirt – der Ihrige war einmal abgerissen, und ich sahe kein Mittel, bei  | ||||||
|  | 			einem verzettelten Knäuel seiner wieder habhaft zu werden. <line type="empty"/> | ||||||
|  | 			 | ||||||
|  | 			<line tab="1"/>Vielleicht hat die Gegenwart meines Freundes Goethe durch die unerklärbare Association der Ideen  | ||||||
|  | 			einige schwache, dunkle Erinnerungen von mir wieder bei Ihnen rege gemacht. Ich muß diese  | ||||||
|  | 			Gelegenheit haschen, sollte ich sie auch nicht zu halten im Stande sein. Wenigstens habe ich denn alles  | ||||||
|  | 			gethan, was mein Herz von mir foderte. Sie haben in der Zeit viel neue Gegenstände aufgefaßt, die Ihrer  | ||||||
|  | 			Beobachtung und Bearbeitung würdiger waren, als alles, was Straßburg Ihnen (den Münsterthurm ausgenommen)  | ||||||
|  | 			anbieten konnte. Eine Stadt, deren Bürger nur die Ausgelassenheit der Sitten denen Franzosen scheinen abgelernt  | ||||||
|  | 			zu haben und mit den wahren Vorzügen dieser Nation unbekannter als Deutschland und Moskau sind. Nur auf dem  | ||||||
|  | 			Lande hätten Sie (wenn die Absicht Ihrer Reise es erlaubt,) vielleicht Charakter und Sitten angetroffen,  | ||||||
|  | 			die Sie zum Neide gegen einen Boden verleitet hätten, der, wenn er nicht verdorben wird, in seinen  | ||||||
|  | 			physischen sowohl als moralischen Producten einer der mildesten und reichhaltigsten unter der  | ||||||
|  | 			Sonne ist. <line type="empty"/> | ||||||
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|  | 			<note>am Rand</note> | ||||||
|  | 			<line tab="1"/>Doch muß ich auch Straßburg Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich habe hier neulich eine Dame von  | ||||||
|  | 			Adel kennen lernen, die nun freilich über alle mein Lob erhaben ist. Verzeihen Sie, daß ich alle Ränder  | ||||||
|  | 			vollschreibe; ich konnte es nicht über mein Herz bringen, diese große Ausnahme von der Regel nicht  | ||||||
|  | 			anzuzeigen. <line type="empty"/> | ||||||
|  | 			 | ||||||
|  | 			<line tab="1"/>Wenn Sr. Durchlaucht der Herzog sich noch des unbedeutendsten aller Eindrücke zurückerinnern  | ||||||
|  | 			können, den ein Mensch in einem damals gewiß seltsamen Aufzuge und noch seltsamem Lage auf Sie  | ||||||
|  | 			gemacht haben muß, der, wie Diogenes aus seinem Schneckenhause geschüttelt, in einer sehr  | ||||||
|  | 			unphilosophischen Verlegenheit dastand, als ihm die zuvorkommende Herablassung <b>eines solchen  | ||||||
|  | 			Prinzen</b> alle seine weitausgesponnenen Ideen von Verläugnung der Welt mit einemmal zerschnitt und  | ||||||
|  | 			ihn außer der Sonne noch etwas Besseres schätzen lehrte, so legen Sie mich Höchstebenselben unterthänigst  | ||||||
|  | 			zu Füßen. Wie nicht weniger Sr. Durchlaucht dem Prinzen und unbekannterweise den Durchlauchtigsten  | ||||||
|  | 			Herzoginnen. Ich bewundere einen Hof, der Deutschland das erste Muster von Beschützung der deutschen  | ||||||
|  | 			Musen aufstellt, das in der bekannten Wanderung der Wissenschaften gewiß Epoche machen wird. Ich  | ||||||
|  | 			wollte lieber sagen, wie sehr ich ihn dafür verehre, wenn es hier nicht rathsamer wäre, meine Empfindungen  | ||||||
|  | 			in mein Herz zu schließen, als damit Geräusch zu machen und den Argwohn eines Clienten zu erregen. <line type="empty"/> | ||||||
|  | 			 | ||||||
|  | 			<line tab="1"/>Haben Sie denn auch wohl so hübsche Mädchens in Sachsen, als unter unsern Flechten stecken? Ich  | ||||||
|  | 			weiß, daß Sie über die rothen Backen hier manche boshafte Anmerkung machten. Sie haben aber  | ||||||
|  | 			diese Nymphen der Diana noch nicht sprechen, noch nicht die O und A trotz den Italiänern schleppen  | ||||||
|  | 			hören, besonders wenn ihre Sittsamkeit, oder wie soll ich es nennen? Durch artige Sachen, die man  | ||||||
|  | 			ihnen vorsagt, in Verlegenheit gesetzt wird. Da soll mir einer sagen, daß die deutsche Sprache keines  | ||||||
|  | 			Wohllauts fähig sei. <line type="empty"/> | ||||||
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|  | 			<note>am Rand</note> | ||||||
|  | 			Ich habe einen <b>Petrarch</b> geschrieben, für den mich die hiesigen Damen steinigen, weil sie alles das für  | ||||||
|  | 			geistliche Lieder halten. In Goethens <b>Werther</b> ist ihnen nur die Stelle verständlich, als er losdrückt  | ||||||
|  | 			und darnach im Blut gefunden und hinterm Kirchhof begraben wird. Wenn er nur ehrlich begraben  | ||||||
|  | 			wäre, hätt’ alles nichts zu sagen.</letterText> | ||||||
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| 	</document> | 	</document> | ||||||
| </opus> | </opus> | ||||||
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| @@ -1845,6 +1845,20 @@ | |||||||
| 			<isDraft value="false" /> | 			<isDraft value="false" /> | ||||||
| 		</letterDesc> | 		</letterDesc> | ||||||
| 		 | 		 | ||||||
|  | 		<letterDesc letter="123"> | ||||||
|  | 			<date value="Straßburg, 6. März 1776" /> | ||||||
|  | 			<sort value="1776-03-06" /> | ||||||
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| 		</letterTradition> | 		</letterTradition> | ||||||
| 		 | 		 | ||||||
|  | 		<letterTradition letter="123"> | ||||||
|  | 			<app ref="4"> | ||||||
|  | 				Heinrich Düntzer: Zur deutschen Literatur und Geschichte. Ungedruckte Briefe aus Knebels Nachlaß, 2  | ||||||
|  | 				Bde., Nürnberg 1858, Bd. 1, S. 56–59 | ||||||
|  | 			</app> | ||||||
|  | 		</letterTradition> | ||||||
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| 	</traditions> | 	</traditions> | ||||||
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