diff --git a/data/xml/briefe.xml b/data/xml/briefe.xml index fcd473f..818af53 100644 --- a/data/xml/briefe.xml +++ b/data/xml/briefe.xml @@ -5061,6 +5061,65 @@ abzugeben bey M. Röderer an der neuen Kirch zu + + Straßburg, den 6. März + + Hochwohlgeborner Herr, schätzbarster Freund und Gönner! Wie oft habe ich den Gedanken gefaßt + und wieder fahren lassen, den Genuß der wenigen glücklichen Augenblicke, die Sie mir in Straßburg + haben schenken wollen, wieder zu erneuern: aber verschiedene Rücksichten haben mich bisher zu + schüchtern dazu gemacht. Unser Verhältniß ist nicht mehr dasselbe, dacht’ ich, es war vielleicht mehr + die Neugier eines philosophischen Reisenden, der unterwegens nichts aus der Acht läßt, als wahre + unbefriedigte Bedürfniß des Herzen und Geistes, was Ihre Aufmerksamkeit auf mich lenkte, und ich konnte + Ihnen in meiner Situation wohl nicht anders vorkommen als ein Zeitungsblatt oder eine unbedeutende Broschüre, + die man nicht gern zum zweitenmal liest. So resignirte ich mich endlich, in einem Herzen in + Vergessenheit zu gerathen, das ich in den wenigen Stunden unsers Umgangs von so viel liebenswürdigen + Seiten kennen gelernt hatte und das ich nicht so leicht vergessen konnte. Hundert Arten peinvolle Zerrungen + der tausend kleinen Fäden kamen dazu, die an dem Nervensystem eines Menschen angeknötet sein müssen, der + nur durch und in andern Menschen existirt – der Ihrige war einmal abgerissen, und ich sahe kein Mittel, bei + einem verzettelten Knäuel seiner wieder habhaft zu werden. + + Vielleicht hat die Gegenwart meines Freundes Goethe durch die unerklärbare Association der Ideen + einige schwache, dunkle Erinnerungen von mir wieder bei Ihnen rege gemacht. Ich muß diese + Gelegenheit haschen, sollte ich sie auch nicht zu halten im Stande sein. Wenigstens habe ich denn alles + gethan, was mein Herz von mir foderte. Sie haben in der Zeit viel neue Gegenstände aufgefaßt, die Ihrer + Beobachtung und Bearbeitung würdiger waren, als alles, was Straßburg Ihnen (den Münsterthurm ausgenommen) + anbieten konnte. Eine Stadt, deren Bürger nur die Ausgelassenheit der Sitten denen Franzosen scheinen abgelernt + zu haben und mit den wahren Vorzügen dieser Nation unbekannter als Deutschland und Moskau sind. Nur auf dem + Lande hätten Sie (wenn die Absicht Ihrer Reise es erlaubt,) vielleicht Charakter und Sitten angetroffen, + die Sie zum Neide gegen einen Boden verleitet hätten, der, wenn er nicht verdorben wird, in seinen + physischen sowohl als moralischen Producten einer der mildesten und reichhaltigsten unter der + Sonne ist. + + am Rand + Doch muß ich auch Straßburg Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich habe hier neulich eine Dame von + Adel kennen lernen, die nun freilich über alle mein Lob erhaben ist. Verzeihen Sie, daß ich alle Ränder + vollschreibe; ich konnte es nicht über mein Herz bringen, diese große Ausnahme von der Regel nicht + anzuzeigen. + + Wenn Sr. Durchlaucht der Herzog sich noch des unbedeutendsten aller Eindrücke zurückerinnern + können, den ein Mensch in einem damals gewiß seltsamen Aufzuge und noch seltsamem Lage auf Sie + gemacht haben muß, der, wie Diogenes aus seinem Schneckenhause geschüttelt, in einer sehr + unphilosophischen Verlegenheit dastand, als ihm die zuvorkommende Herablassung eines solchen + Prinzen alle seine weitausgesponnenen Ideen von Verläugnung der Welt mit einemmal zerschnitt und + ihn außer der Sonne noch etwas Besseres schätzen lehrte, so legen Sie mich Höchstebenselben unterthänigst + zu Füßen. Wie nicht weniger Sr. Durchlaucht dem Prinzen und unbekannterweise den Durchlauchtigsten + Herzoginnen. Ich bewundere einen Hof, der Deutschland das erste Muster von Beschützung der deutschen + Musen aufstellt, das in der bekannten Wanderung der Wissenschaften gewiß Epoche machen wird. Ich + wollte lieber sagen, wie sehr ich ihn dafür verehre, wenn es hier nicht rathsamer wäre, meine Empfindungen + in mein Herz zu schließen, als damit Geräusch zu machen und den Argwohn eines Clienten zu erregen. + + Haben Sie denn auch wohl so hübsche Mädchens in Sachsen, als unter unsern Flechten stecken? Ich + weiß, daß Sie über die rothen Backen hier manche boshafte Anmerkung machten. Sie haben aber + diese Nymphen der Diana noch nicht sprechen, noch nicht die O und A trotz den Italiänern schleppen + hören, besonders wenn ihre Sittsamkeit, oder wie soll ich es nennen? Durch artige Sachen, die man + ihnen vorsagt, in Verlegenheit gesetzt wird. Da soll mir einer sagen, daß die deutsche Sprache keines + Wohllauts fähig sei. + + am Rand + Ich habe einen Petrarch geschrieben, für den mich die hiesigen Damen steinigen, weil sie alles das für + geistliche Lieder halten. In Goethens Werther ist ihnen nur die Stelle verständlich, als er losdrückt + und darnach im Blut gefunden und hinterm Kirchhof begraben wird. Wenn er nur ehrlich begraben + wäre, hätt’ alles nichts zu sagen. diff --git a/data/xml/meta.xml b/data/xml/meta.xml index 05acac8..d7cd100 100644 --- a/data/xml/meta.xml +++ b/data/xml/meta.xml @@ -1845,6 +1845,20 @@ + + + + + + + + + + + + + + diff --git a/data/xml/traditions.xml b/data/xml/traditions.xml index 85787b0..687cc39 100644 --- a/data/xml/traditions.xml +++ b/data/xml/traditions.xml @@ -757,6 +757,14 @@ + + + Heinrich Düntzer: Zur deutschen Literatur und Geschichte. Ungedruckte Briefe aus Knebels Nachlaß, 2 + Bde., Nürnberg 1858, Bd. 1, S. 56–59 + + + +