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GregorMichalski
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Ihr<line type="empty"/> Ihr<line type="empty"/>
Lenz.</letterText> Lenz.</letterText>
<letterText letter="24">Mein <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Doch ich will, von jetzt an, immer ohne Titel an Sie schreiben. Wenn Geister zu einander treten und
sich miteinander besprechen, so können sie, mein ich den Scharrfuß wohl weglassen. Ich schreibe an
Sie, um Ihnen eine Veränderung zu melden, die mit mir vorgegangen. Ich bin ein Christ geworden
glauben Sie mir wohl, daß ich es vorher nicht gewesen? Ich habe an allem gezweifelt und bin jetzt, ich
schreib es mit von dankbarer Empfindung durchdrungenem Herzen, zu einer Ueberzeugung
gekommen, wie sie mir nöthig war, zu einer philosophischen, nicht bloß moralischen. Der
theologische Glaube ist das <aq>complementum</aq> unserer Vernunft, das dasjenige ersetzt, was dieser zur
gottfälligen Richtung unsers Willens fehlt. Ich halte ihn also blos für eine Wirkung der Gnade, zu der
wir nichts beitragen, als daß unser Herz in der rechten Verfassung sey, sie anzunehmen; diese
Verfassung aber besteht in einer vollkommen ernstlichen Liebe zur Tugend, zum Wahren, Guten und
Schönen. Dieser Glaube ist eine nothwendige Gabe Gottes, weil bei den meisten Menschen die
Vernunft noch erst im Anfange ihrer Entwicklung ist, bei vielen aber niemals entwickelt wird. Je mehr
sich aber unsere Vernunft entwickelt (das geht bis ins Unendliche), desto mehr nimmt dieser
<aq>moralische</aq> Glaube, der in der That mehr in den Empfindungen als in der Erkenntnis gegründet ist, ab
und verwandelt sich in das Schauen, in eine Ueberzeugung der Vernunft. Ueberhaupt bedürfen wir
nicht mehr und nicht weniger moralisch zu glauben, als zur Seligkeit nothwendig ist, das übrige haben
wir immer noch die Freiheit in <aq>suspenso</aq> zu lassen. Aber auch dieses müssen wir viel mehr suchen in
Erkenntnis und Anschauen zu verwandeln, weil, nach Ordnung Gottes, unser Wille sich nach unserer
Erkenntniß richtet. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Dieses sind die Prämissen, die ich Ihnen voranschicke, um Ihnen eine vollständige Idee von meiner
Ueberzeugung von unsrer Religion zu geben. Ich habe bisher die Erlösung unsers Heilands für nichts,
als ein in die Augen fallendes Beispiel der Folgen der Sünde gehalten, das uns an der Person des
vollkommensten Menschen, zur heilsamen Warnung aufgestellt worden. Denn, hab ich gedacht, die
Idee eines Verdienstes, und wär es auch des vollkommensten, widerspricht der allervollkommensten
Barmherzigkeit Gottes, als welche nicht braucht erst durch ein Verdienst sich die Vergebung unserer
Sünden gleichsam abfodern und abzwingen zu lassen. Aber ich habe gefunden, daß ich sehr irrte.
Gott ist die Liebe allein die übeln Folgen der Sünde aufzuheben (denn das heißt Sünde vergeben)
ohne die Sünde durch eben diese übeln Folgen zu strafen, hieße die Natur dessen, was gut und böse
ist, verändern und uns eben so viel Aufmunterung zum Bösen, als zum Guten, geben. Aber diese
übeln Folgen der Sünden einer ganzen Welt, auf einen dritten Gegenstand lenken, das konnte Gott,
das wird der Vernunft nicht schwer zu begreifen, das war das einzige Mittel, Sünde zu vergeben, ohne
sie zu strafen. Und eben dies läßt seine Barmherzigkeit in dem nämlichen Glanze. Freilich könnt es
scheinen, daß sie, gegen diesen dritten Gegenstand, welchen wir so lange unsern Heiland nennen
wollen, nicht ausgeübt worden, allein eben dieses ist der Gegenstand unsers Glaubens, hier kann die
Vernunft nicht weiter. Die Offenbarung sagt uns, dieser Heiland sei ein ganz reiner vollkommener
Mensch, vielleicht das Ideal der menschlichen Natur gewesen, dem sich die Gottheit selbst, auf eine,
uns unbegreifliche, Weise offenbart und mitgeteilet (das Wort vereinigt find ich nicht in der Bibel und
ist schon ein Schritt zu weit von unsern Theologen), den die Gottheit selbst, zu diesem großen
Geschäft unterstützt; den die Gottheit selbst, nach Vollendung desselben belohnt und ihm einen
Namen gegeben, der über alle Namen ist. Dieser Heiland aber, hat uns, außer seiner Lehre und
Beispiel, auch sein Verdienst gelassen, dessen er uns durch die Sakramente theilhaftig macht. Indem
er sich besonders durch das Sakrament des Abendmahls auf eine, zwar unbegreifliche, aber doch der
Vernunft nicht widersprechende, Art, mit uns geistig verbindet, so daß wir jetzt gleichsam alle an
seiner vollkommnen menschlichen Natur Antheil nehmen. Die Pflichten des Christenthums aber,
laufen alle dahin zusammen, diese Wahrheiten, die Christus uns verkündigt, zu glauben, gegen ihn
voll Liebe und Dankbarkeit sein Leben immer besser zu studieren, damit wir ihn immermehr lieben
und nachahmen, von ihm aber (welches die Hauptsache ist) zu Gott, als dem höchsten Gut, hinauf zu
steigen, ihn immer besser erkennen zu lernen, ja, alle Erkenntnisse, die wir hier erwerben, zu ihm, als
dem letzten Ziel zu lenken, um ihn als die Quelle alles Wahren, Guten und Schönen mit allen Kräften
unserer Seele zu lieben und (das ist die natürliche Folge davon) seinen Willen auszuüben, d.h. ihn von
ferne, im Schatten, nachzuahmen, wie er ganz Liebe und Wohlthätigkeit gegen das menschliche
Geschlecht, so kein größeres Glück kennen, als andere glücklich zu machen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Sehen Sie hier den Extrakt meiner Religion, das Fazit einer aufmerksamen Lesung der Evangelisten,
deren göttliche oder menschliche Begeisterung ich unausgemacht lasse, und sie bloß als aufrichtige
Erzähler ansehe. Denn dieses ist gut zu wissen, aber nicht verderblich nicht zu wissen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich habe es für nöthig gehalten, Ihnen den Zustand meiner Seele zu schildern, damit wir uns ganz
kennen lernen. Ich bin also jetzt ein guter evangelischer Christ, obgleich ich kein orthodoxer bin. Kann
ich in meiner Überzeugung weiter kommen, so will ich dem Gott dafür danken, der es weiß, daß
dieses das Lieblingsstudium meiner Seele ist und ewig bleiben wird. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Doch hoffe ich, niemals Prediger zu werden. Die Ursachen da müßt ich Ihnen Bogen voll schreiben.
Ich fühle mich nicht dazu. Dies ist aber kein dunkles, sinnliches sondern das Gefühl meines ganzen
Wesens, das mir so gut als Überzeugung gilt. Aber ich fühle mich als Ihren Freund <line type="empty"/><line type="break"/>
Lenz.</letterText>
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August Stöber: Der Dichter Lenz und Friederike von Sesenheim. Basel 1842, S. 7478
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