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Ich bin bis ins Grab
Ihr
Lenz.
+
+ Mein – –
+
+ Doch ich will, von jetzt an, immer ohne Titel an Sie schreiben. Wenn Geister zu einander treten und
+ sich miteinander besprechen, so können sie, mein’ ich den Scharrfuß wohl weglassen. Ich schreibe an
+ Sie, um Ihnen eine Veränderung zu melden, die mit mir vorgegangen. Ich bin ein Christ geworden –
+ glauben Sie mir wohl, daß ich es vorher nicht gewesen? Ich habe an allem gezweifelt und bin jetzt, ich
+ schreib es mit von dankbarer Empfindung durchdrungenem Herzen, zu einer Ueberzeugung
+ gekommen, wie sie mir nöthig war, zu einer philosophischen, nicht bloß moralischen. Der
+ theologische Glaube ist das complementum unserer Vernunft, das dasjenige ersetzt, was dieser zur
+ gottfälligen Richtung unsers Willens fehlt. Ich halte ihn also blos für eine Wirkung der Gnade, zu der
+ wir nichts beitragen, als daß unser Herz in der rechten Verfassung sey, sie anzunehmen; diese
+ Verfassung aber besteht in einer vollkommen ernstlichen Liebe zur Tugend, zum Wahren, Guten und
+ Schönen. Dieser Glaube ist eine nothwendige Gabe Gottes, weil bei den meisten Menschen die
+ Vernunft noch erst im Anfange ihrer Entwicklung ist, bei vielen aber niemals entwickelt wird. Je mehr
+ sich aber unsere Vernunft entwickelt (das geht bis ins Unendliche), desto mehr nimmt dieser
+ moralische Glaube, der in der That mehr in den Empfindungen als in der Erkenntnis gegründet ist, ab
+ und verwandelt sich in das Schauen, in eine Ueberzeugung der Vernunft. Ueberhaupt bedürfen wir
+ nicht mehr und nicht weniger moralisch zu glauben, als zur Seligkeit nothwendig ist, das übrige haben
+ wir immer noch die Freiheit in suspenso zu lassen. Aber auch dieses müssen wir viel mehr suchen in
+ Erkenntnis und Anschauen zu verwandeln, weil, nach Ordnung Gottes, unser Wille sich nach unserer
+ Erkenntniß richtet.
+
+ Dieses sind die Prämissen, die ich Ihnen voranschicke, um Ihnen eine vollständige Idee von meiner
+ Ueberzeugung von unsrer Religion zu geben. Ich habe bisher die Erlösung unsers Heilands für nichts,
+ als ein in die Augen fallendes Beispiel der Folgen der Sünde gehalten, das uns an der Person des
+ vollkommensten Menschen, zur heilsamen Warnung aufgestellt worden. Denn, hab’ ich gedacht, die
+ Idee eines Verdienstes, und wär es auch des vollkommensten, widerspricht der allervollkommensten
+ Barmherzigkeit Gottes, als welche nicht braucht erst durch ein Verdienst sich die Vergebung unserer
+ Sünden gleichsam abfodern und abzwingen zu lassen. Aber ich habe gefunden, daß ich sehr irrte.
+ Gott ist die Liebe – allein die übeln Folgen der Sünde aufzuheben (denn das heißt Sünde vergeben)
+ ohne die Sünde durch eben diese übeln Folgen zu strafen, hieße die Natur dessen, was gut und böse
+ ist, verändern und uns eben so viel Aufmunterung zum Bösen, als zum Guten, geben. Aber diese
+ übeln Folgen der Sünden einer ganzen Welt, auf einen dritten Gegenstand lenken, das konnte Gott,
+ das wird der Vernunft nicht schwer zu begreifen, das war das einzige Mittel, Sünde zu vergeben, ohne
+ sie zu strafen. Und eben dies läßt seine Barmherzigkeit in dem nämlichen Glanze. Freilich könnt’ es
+ scheinen, daß sie, gegen diesen dritten Gegenstand, welchen wir so lange unsern Heiland nennen
+ wollen, nicht ausgeübt worden, allein eben dieses ist der Gegenstand unsers Glaubens, hier kann die
+ Vernunft nicht weiter. Die Offenbarung sagt uns, dieser Heiland sei ein ganz reiner vollkommener
+ Mensch, vielleicht das Ideal der menschlichen Natur gewesen, dem sich die Gottheit selbst, auf eine,
+ uns unbegreifliche, Weise offenbart und mitgeteilet (das Wort vereinigt find’ ich nicht in der Bibel und
+ ist schon ein Schritt zu weit von unsern Theologen), den die Gottheit selbst, zu diesem großen
+ Geschäft unterstützt; den die Gottheit selbst, nach Vollendung desselben belohnt und ihm einen
+ Namen gegeben, der über alle Namen ist. Dieser Heiland aber, hat uns, außer seiner Lehre und
+ Beispiel, auch sein Verdienst gelassen, dessen er uns durch die Sakramente theilhaftig macht. Indem
+ er sich besonders durch das Sakrament des Abendmahls auf eine, zwar unbegreifliche, aber doch der
+ Vernunft nicht widersprechende, Art, mit uns geistig verbindet, so daß wir jetzt gleichsam alle an
+ seiner vollkommnen menschlichen Natur Antheil nehmen. Die Pflichten des Christenthums aber,
+ laufen alle dahin zusammen, diese Wahrheiten, die Christus uns verkündigt, zu glauben, gegen ihn
+ voll Liebe und Dankbarkeit sein Leben immer besser zu studieren, damit wir ihn immermehr lieben
+ und nachahmen, von ihm aber (welches die Hauptsache ist) zu Gott, als dem höchsten Gut, hinauf zu
+ steigen, ihn immer besser erkennen zu lernen, ja, alle Erkenntnisse, die wir hier erwerben, zu ihm, als
+ dem letzten Ziel zu lenken, um ihn als die Quelle alles Wahren, Guten und Schönen mit allen Kräften
+ unserer Seele zu lieben und (das ist die natürliche Folge davon) seinen Willen auszuüben, d.h. ihn von
+ ferne, im Schatten, nachzuahmen, wie er ganz Liebe und Wohlthätigkeit gegen das menschliche
+ Geschlecht, so kein größeres Glück kennen, als andere glücklich zu machen.
+
+ Sehen Sie hier den Extrakt meiner Religion, das Fazit einer aufmerksamen Lesung der Evangelisten,
+ deren göttliche oder menschliche Begeisterung ich unausgemacht lasse, und sie bloß als aufrichtige
+ Erzähler ansehe. Denn dieses ist gut zu wissen, aber nicht verderblich nicht zu wissen.
+
+ Ich habe es für nöthig gehalten, Ihnen den Zustand meiner Seele zu schildern, damit wir uns ganz
+ kennen lernen. Ich bin also jetzt ein guter evangelischer Christ, obgleich ich kein orthodoxer bin. Kann
+ ich in meiner Überzeugung weiter kommen, so will ich dem Gott dafür danken, der es weiß, daß
+ dieses das Lieblingsstudium meiner Seele ist und ewig bleiben wird.
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+ Doch hoffe ich, niemals Prediger zu werden. Die Ursachen – da müßt’ ich Ihnen Bogen voll schreiben.
+ Ich fühle mich nicht dazu. Dies ist aber kein dunkles, sinnliches – sondern das Gefühl meines ganzen
+ Wesens, das mir so gut als Überzeugung gilt. – Aber ich fühle mich als Ihren Freund
+
+ Lenz.
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+ August Stöber: Der Dichter Lenz und Friederike von Sesenheim. Basel 1842, S. 74–78
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