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Lenz.</letterText>
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<letterText letter="25"><line tab="1"/>Hier haben Sie wieder ein Blättgen mit einer Hypothese. Untersuchen Sie sie, halten Sie sie an den
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Probierstein der Wahrheit – Der menschliche Verstand muß von der höchsten Wahrscheinlichkeit zur
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Wahrheit übergehen; ich habe zu dieser schärfern Untersuchung keine Zeit – auch keine Fähigkeit, ich
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überlasse sie Ihnen. Sie sagten in Ihrem letzten Briefe, Gott thue alles zu unserer Besserung mittelbar
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und könne dazu nicht unmittelbar in uns wirken. Ich bin Ihrer Meinung, doch nur in einer gewissen
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Einschränkung. Sie sollen sie sogleich hören. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Leibnitz, da er den Ursprung des Bösen mit der höchsten Güte Gottes reimen will, hält viel auf diese
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unmittelbare Einwirkung, oder Einfluß der Gottheit, welchen er eine immerfortwährende Schöpfung
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nennt. Er vergleicht ihn einem Strom, der seinen Lauf hält, die Freyheit des Menschen aber einem
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Boot auf diesem Strom, das, je nachdem es schwerer oder leichter beladen, langsamer oder
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geschwinder auf demselben fortgeht. Da die Sünde eigentlich in einer Privation des Guten besteht
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und also die Quelle derselben nichts als Trägheit ist, die von unsern Fähigkeiten nicht den gehörigen
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Gebrauch machen will, so gleicht diese Trägheit der Last oder Schwere des Boots und kann die Schuld
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warum letzteres nicht so geschwinde fortgeht, nicht dem Strom, sondern dem Boot zugeschrieben
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werden. Man kann ihm aber, und mich deucht mit Recht, einwenden, warum der Strom nicht mit
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einer solchen Geschwindigkeit und Kraft fortfliesse, daß er die kleine Schwere des Boots überwinde
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und aufhebe? und da bleibt bei Zulassung des Bösen von Seiten Gottes immer dieselbe Schwürigkeit.
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Ich glaube weit sicherer zu gehen, wenn ich mich bei der einmal angenommenen Lehre von der
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Erhaltung Gottes (welche allerdings wahr ist), an dem Wort <aq>Erhaltung</aq><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> halte, und also keine
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fortwährende Schöpfung unter derselben verstehe. <aq>Fortwährend</aq><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> ist freilich ein Begriff, der der
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Gottheit angemessen ist, allein eine solche <aq>Schöpfung</aq><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> nicht. Wenigstens kann sich unser Verstand
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keine Schöpfung denken, die in Ewigkeit fortgeht, denn Schöpfung ist nach der einmal
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angenommenen Bedeutung des Wortes, eine <aq>Hervorbringung<!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? Wichtig! Frage gilt für den gesamten Abschnitt--> aus Nichts</aq>, die nur einen Augenblick
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währen könnte, nemlich den, da Gott sprach: Es werde! <aq>Bildung</aq> dieses Etwas, die kann fortgehen in
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Ewigkeit, aber nicht die unmittelbare Schöpfung. – Nun hat Gott uns gewollt, das heißt er hat uns
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geschaffen, als freywillige und selbstständige Wesen, versehen mit gewissen Kräften und Fähigkeiten,
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von denen wir einen Gebrauch machen können, welchen wir wollen, und wenn wir einen Einfluß
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Gottes in uns annehmen wollen (welches uns Vernunft und Offenbarung heißet, weil wir <aq>abhängige</aq>,
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geschaffene Wesen sind), so ist dieses kein anderer, als der allgemeine, den Gott in die ganze Natur
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hat, vermöge dessen er nach den ewigen Gesetzen der Natur, die in ihr gelegten Kräfte und
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Fähigkeiten <aq>unterstützt, erhält</aq>, daß sie nicht ins vorige Nichts zurückfallen. Wenn wir diese Handlung
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auch eine <aq>Schöpfung</aq> nennen wollen, so mag es hingehen, nur muß man alsdann die <aq>fortgehende
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Wirksamkeit Gottes</aq> von diesem Begriff absondern. Diese Einwirkung Gottes ist die allgemeine und
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wird schon in der Bibel, durch den mystischen Ausdruck angezeigt: der <aq>Geist</aq> Gottes schwebte auf den
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Wassern. Ich kann diese Stelle nicht anders erklären als: die allerhöchste Kraft Gottes unterstützte die
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in die Natur gelegten Kräfte, daß sie ihre ihnen beschiedenen Wirkungen hervorbringen konnten. Bei
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dieser Erklärung bleibt also Gott in Ansehung des Ursprungs des Bösen vollkommen gerechtfertigt.
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Wir konnten unsere Kräfte gebrauchen oder nicht, in der von ihm gesetzten oder in einer entgegen
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gesetzten Ordnung gebrauchen; er konnte nicht anders thun, als da er nach seiner Allwissenheit
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unsern Fall voraussah, ihm durch äußere Mittel zu <aq>Hülfe</aq> kommen. Hier ist das Geheimniß unsrer
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Erlösung, das in der That immer ein Geheimniß bleibt und wir ganz zu entziffern uns nicht
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unterziehen dürfen. So viel ist aber klar dabei, daß durch die Offfenbarung seiner Gnade in Christo
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Jesu, er nichts anders abzwecken will, als unsere Wiederherstellung in den Stand der Unschuld,
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welches gleichsam die weisse Tafel ist, welche hernach beschrieben werden soll, und aus diesem in
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den Stand der Glückseeligkeit, der Aehnlichkeit mit ihm, der höchsten Liebe zu ihm, und der höchsten
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Freude, die aus der zunehmenden Erkenntnis seiner Vollkommenheiten und der immer näheren
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Annäherung zu ihm fließt. Christus redt aber auch von einem Geist Gottes den Er uns senden will, der
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uns alles vollkommen lehren und unsere Freude vollkommen machen soll, den auch wirklich die
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Apostel in hohem Maß empfiengen. Dieses kann nicht anders erklärt werden, als durch eine
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unmittelbare Einwirkung der Gottheit, die unseren natürlichen Fähigkeiten – wenn wir sie unermüdet
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recht anwenden – zu Hülfe kommt, doch allezeit in dem Grade, als es der höchsten Weisheit Gottes
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und der Uebereinstimmung der von ihm angerichteten Schöpfung angemessen ist. Die Wirkungen
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dieses Geistes sind vorzüglich: Der unerschütterliche Glaube an Gott, als die höchste Liebe (es mögen
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alle äusserlichen Anscheine auch dem zuwider seyn), an Christum, als den Vermittler dieser Liebe,
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der sie uns nicht allein kennen gelehrt, sondern auch in gewissem Sinn erworben; hernach eine aus
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diesem Glauben fliessende Liebe zu Gott, denn wer sollte den nicht lieben, von dem er <aq>glaubt</aq>, daß er
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ihn unendlich glücklich machen will und eine geschwinde Fertigkeit, dem von ihm erkannten Willen
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nach zu leben. Diese Wirkungen des Geistes Gottes müssen wir aber nicht mit Augen sehen wollen,
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oder darauf warten; sie sind Trost und Belohnung unserer guten Aufführung, auch <aq>Aufmunterung</aq>
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(dies scheint vorzüglich ihre Absicht), weil die menschliche Natur so viel Trägheit hat, daß sie in den
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allerbesten erlangten Fertigkeiten doch wieder müde wird, sie sind das <aq>complementum moralitatis</aq>
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und können uns in diesem ganzen Leben dunkel und unerkannt bleiben und uns dennoch ohne unser
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Wissen, forthelfen und glücklich machen, wie ein unbekannter Wohltäter, der einem Bettler Speise
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und Trank reichen läßt, ohne daß er weiß, wo es herkommt; genug er befindet sich wohl dabey und
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überläßt es der Zukunft ihm seinen Wohltäter zu zeigen, damit er ihm alsdann den Dank ins Gesicht
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sagen kann, den er jetzt für ihn in seinem Herzen behält. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Ich gebe diese Hypothese, die noch dazu so roh und undeutlich ausgedrückt worden, als sie in
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meinem Verstande ausgeheckt ward, Ihnen hin, sie zu bearbeiten, alles zu prüfen und das Beste zu
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behalten. Wenigstens müssen wir doch suchen in die Ausdrücke der Bibel einen <aq>Sinn</aq> zu legen, der mit
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unserm Verstande übereinkommt; Geheimnisse bleiben immer Geheimnisse, doch müssen die Linien
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unserer Vernunft hineinlaufen und sich hernach drin verlieren, nicht aber eine Meile weit seitwärts
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vorbeygeführt, hernach mit Gewalt hineingebogen werden, welches eine <aq>krumme Linie</aq> geben würde. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Um über eine so wichtige Materie mit der höchsten Aufrichtigkeit zu schreiben, muß ich Ihnen nur
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schreiben, daß ich bey meiner einmal angenommenen Erklärung der Lehre vom Verdienst Christi
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bleibe, und daß ich mir keine andere denken kann, die mit dem was die Schrift davon sagt und mit
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dem was unsere Vernunft von Gott und seinen Eigenschaften erkennt, übereinkommt. Lassen Sie uns
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sie nur deutlicher machen und Sie werden mir Recht geben. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Was ist das Gute anders, als der gehörige und rechtmäßige Gebrauch, den wir von unsren Fähigkeiten
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machen? Und das Böse, als der unrechtmäßige übelübereinstimmende Gebrauch dieser Fähigkeiten,
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der, wie ein verdorbenes Uhrwerk, immer weiter im verkehrten Wege davon fortgeht; so wie der gute
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Gebrauch immer weiter in dem graden und richtigen Wege. Wir sind selbstständig – Gott <aq>unterstützt</aq>
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die in uns gelegten Kräfte, wie in der ganzen Natur, ohne sie zu <aq>lenken</aq> – Wir (sey es nun die Schuld
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einer uns angebohrnen Trägheit, die die Theologen Erbsünde nennen, oder des bösen Beyspiels,
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welche ich fast eher dafür halten möchte), wir brauchen die Fähigkeiten verkehrt. Gott kommt durch
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eine ganze Folgenreihe äußerer Mittel (welche ich <aq>Gnade</aq> nenne und wohin in der Jugend besonders
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die Tauffe und das Wort Gottes zu rechnen), wozu besonders auch die zeitlichen Umstände gehören,
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in die er uns versetzt. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Wir hören nun, daß ein vollkommener Mensch gelebt hat, durch den sich Gott uns ehemals sichtbar
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geoffenbart und angekündigt hat; daß, wenn wir den <aq>rechten</aq> Gebrauch von unsern Fähigkeiten
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machen wollen, wir schon hier – und in Ewigkeit glücklich oder seelig sein sollen –; wir hören, daß,
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nach dem Ausdruck der Bibel, alle bisher begangenen Sünden der Menschen auf ihn gelegt werden,
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daß er sie trägt (was kann dies Anderes heißen, als daß alle üblen Folgen der Sünde auf ihn gelenkt
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worden? Darin bestand sein <aq>Leiden</aq>) – Wir sollen nur glauben, daß Gott uns um seinetwillen gnädig
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sei; dies soll uns also nicht mehr beunruhigen, nicht mehr zurückhalten an unserer Besserung mit
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allen Kräften unserer Seele zu arbeiten, weil das Alte alles vorbei und wir gleichsam jetzt neue Glieder
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an einem großen Ganzen sind, wovon der allervollkommenste Jesus das Haupt war (hieher geht eine
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gewisse geistliche Vereinigung vor, die mir im Abendmahl scheint zum Grunde zu liegen, denn wer
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wollte alle Geheimnisse der Religion ergründen?) <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Also, <aq>voilá tout</aq>. Wenn wir diese Hülfsmittel alle, die uns die Gnade darbeut, annehmen, bon <aq>ça</aq>, es
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soll nicht dabei bleiben; wir sollen einmal einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung fä hig werden,
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die in der Bibel die Sendung des h. Geistes heisset, die uns Gott immer mehr erkennen und lieben
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lehren wird, die uns, wenn wir dazu reif, zum Anschauen Gottes bringen wird – aber dazu gehört
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freilich Zeit! <line type="empty"/>
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