diff --git a/data/xml/briefe.xml b/data/xml/briefe.xml index 69506bb..242d477 100644 --- a/data/xml/briefe.xml +++ b/data/xml/briefe.xml @@ -1401,6 +1401,118 @@ Wesens, das mir so gut als Überzeugung gilt. – Aber ich fühle mich als Ihren Freund Lenz. + + Hier haben Sie wieder ein Blättgen mit einer Hypothese. Untersuchen Sie sie, halten Sie sie an den + Probierstein der Wahrheit – Der menschliche Verstand muß von der höchsten Wahrscheinlichkeit zur + Wahrheit übergehen; ich habe zu dieser schärfern Untersuchung keine Zeit – auch keine Fähigkeit, ich + überlasse sie Ihnen. Sie sagten in Ihrem letzten Briefe, Gott thue alles zu unserer Besserung mittelbar + und könne dazu nicht unmittelbar in uns wirken. Ich bin Ihrer Meinung, doch nur in einer gewissen + Einschränkung. Sie sollen sie sogleich hören. + + Leibnitz, da er den Ursprung des Bösen mit der höchsten Güte Gottes reimen will, hält viel auf diese + unmittelbare Einwirkung, oder Einfluß der Gottheit, welchen er eine immerfortwährende Schöpfung + nennt. Er vergleicht ihn einem Strom, der seinen Lauf hält, die Freyheit des Menschen aber einem + Boot auf diesem Strom, das, je nachdem es schwerer oder leichter beladen, langsamer oder + geschwinder auf demselben fortgeht. Da die Sünde eigentlich in einer Privation des Guten besteht + und also die Quelle derselben nichts als Trägheit ist, die von unsern Fähigkeiten nicht den gehörigen + Gebrauch machen will, so gleicht diese Trägheit der Last oder Schwere des Boots und kann die Schuld + warum letzteres nicht so geschwinde fortgeht, nicht dem Strom, sondern dem Boot zugeschrieben + werden. Man kann ihm aber, und mich deucht mit Recht, einwenden, warum der Strom nicht mit + einer solchen Geschwindigkeit und Kraft fortfliesse, daß er die kleine Schwere des Boots überwinde + und aufhebe? und da bleibt bei Zulassung des Bösen von Seiten Gottes immer dieselbe Schwürigkeit. + Ich glaube weit sicherer zu gehen, wenn ich mich bei der einmal angenommenen Lehre von der + Erhaltung Gottes (welche allerdings wahr ist), an dem Wort Erhaltung halte, und also keine + fortwährende Schöpfung unter derselben verstehe. Fortwährend ist freilich ein Begriff, der der + Gottheit angemessen ist, allein eine solche Schöpfung nicht. Wenigstens kann sich unser Verstand + keine Schöpfung denken, die in Ewigkeit fortgeht, denn Schöpfung ist nach der einmal + angenommenen Bedeutung des Wortes, eine Hervorbringung aus Nichts, die nur einen Augenblick + währen könnte, nemlich den, da Gott sprach: Es werde! Bildung dieses Etwas, die kann fortgehen in + Ewigkeit, aber nicht die unmittelbare Schöpfung. – Nun hat Gott uns gewollt, das heißt er hat uns + geschaffen, als freywillige und selbstständige Wesen, versehen mit gewissen Kräften und Fähigkeiten, + von denen wir einen Gebrauch machen können, welchen wir wollen, und wenn wir einen Einfluß + Gottes in uns annehmen wollen (welches uns Vernunft und Offenbarung heißet, weil wir abhängige, + geschaffene Wesen sind), so ist dieses kein anderer, als der allgemeine, den Gott in die ganze Natur + hat, vermöge dessen er nach den ewigen Gesetzen der Natur, die in ihr gelegten Kräfte und + Fähigkeiten unterstützt, erhält, daß sie nicht ins vorige Nichts zurückfallen. Wenn wir diese Handlung + auch eine Schöpfung nennen wollen, so mag es hingehen, nur muß man alsdann die fortgehende + Wirksamkeit Gottes von diesem Begriff absondern. Diese Einwirkung Gottes ist die allgemeine und + wird schon in der Bibel, durch den mystischen Ausdruck angezeigt: der Geist Gottes schwebte auf den + Wassern. Ich kann diese Stelle nicht anders erklären als: die allerhöchste Kraft Gottes unterstützte die + in die Natur gelegten Kräfte, daß sie ihre ihnen beschiedenen Wirkungen hervorbringen konnten. Bei + dieser Erklärung bleibt also Gott in Ansehung des Ursprungs des Bösen vollkommen gerechtfertigt. + Wir konnten unsere Kräfte gebrauchen oder nicht, in der von ihm gesetzten oder in einer entgegen + gesetzten Ordnung gebrauchen; er konnte nicht anders thun, als da er nach seiner Allwissenheit + unsern Fall voraussah, ihm durch äußere Mittel zu Hülfe kommen. Hier ist das Geheimniß unsrer + Erlösung, das in der That immer ein Geheimniß bleibt und wir ganz zu entziffern uns nicht + unterziehen dürfen. So viel ist aber klar dabei, daß durch die Offfenbarung seiner Gnade in Christo + Jesu, er nichts anders abzwecken will, als unsere Wiederherstellung in den Stand der Unschuld, + welches gleichsam die weisse Tafel ist, welche hernach beschrieben werden soll, und aus diesem in + den Stand der Glückseeligkeit, der Aehnlichkeit mit ihm, der höchsten Liebe zu ihm, und der höchsten + Freude, die aus der zunehmenden Erkenntnis seiner Vollkommenheiten und der immer näheren + Annäherung zu ihm fließt. Christus redt aber auch von einem Geist Gottes den Er uns senden will, der + uns alles vollkommen lehren und unsere Freude vollkommen machen soll, den auch wirklich die + Apostel in hohem Maß empfiengen. Dieses kann nicht anders erklärt werden, als durch eine + unmittelbare Einwirkung der Gottheit, die unseren natürlichen Fähigkeiten – wenn wir sie unermüdet + recht anwenden – zu Hülfe kommt, doch allezeit in dem Grade, als es der höchsten Weisheit Gottes + und der Uebereinstimmung der von ihm angerichteten Schöpfung angemessen ist. Die Wirkungen + dieses Geistes sind vorzüglich: Der unerschütterliche Glaube an Gott, als die höchste Liebe (es mögen + alle äusserlichen Anscheine auch dem zuwider seyn), an Christum, als den Vermittler dieser Liebe, + der sie uns nicht allein kennen gelehrt, sondern auch in gewissem Sinn erworben; hernach eine aus + diesem Glauben fliessende Liebe zu Gott, denn wer sollte den nicht lieben, von dem er glaubt, daß er + ihn unendlich glücklich machen will und eine geschwinde Fertigkeit, dem von ihm erkannten Willen + nach zu leben. Diese Wirkungen des Geistes Gottes müssen wir aber nicht mit Augen sehen wollen, + oder darauf warten; sie sind Trost und Belohnung unserer guten Aufführung, auch Aufmunterung + (dies scheint vorzüglich ihre Absicht), weil die menschliche Natur so viel Trägheit hat, daß sie in den + allerbesten erlangten Fertigkeiten doch wieder müde wird, sie sind das complementum moralitatis + und können uns in diesem ganzen Leben dunkel und unerkannt bleiben und uns dennoch ohne unser + Wissen, forthelfen und glücklich machen, wie ein unbekannter Wohltäter, der einem Bettler Speise + und Trank reichen läßt, ohne daß er weiß, wo es herkommt; genug er befindet sich wohl dabey und + überläßt es der Zukunft ihm seinen Wohltäter zu zeigen, damit er ihm alsdann den Dank ins Gesicht + sagen kann, den er jetzt für ihn in seinem Herzen behält. + + Ich gebe diese Hypothese, die noch dazu so roh und undeutlich ausgedrückt worden, als sie in + meinem Verstande ausgeheckt ward, Ihnen hin, sie zu bearbeiten, alles zu prüfen und das Beste zu + behalten. Wenigstens müssen wir doch suchen in die Ausdrücke der Bibel einen Sinn zu legen, der mit + unserm Verstande übereinkommt; Geheimnisse bleiben immer Geheimnisse, doch müssen die Linien + unserer Vernunft hineinlaufen und sich hernach drin verlieren, nicht aber eine Meile weit seitwärts + vorbeygeführt, hernach mit Gewalt hineingebogen werden, welches eine krumme Linie geben würde. + + Um über eine so wichtige Materie mit der höchsten Aufrichtigkeit zu schreiben, muß ich Ihnen nur + schreiben, daß ich bey meiner einmal angenommenen Erklärung der Lehre vom Verdienst Christi + bleibe, und daß ich mir keine andere denken kann, die mit dem was die Schrift davon sagt und mit + dem was unsere Vernunft von Gott und seinen Eigenschaften erkennt, übereinkommt. Lassen Sie uns + sie nur deutlicher machen und Sie werden mir Recht geben. + + Was ist das Gute anders, als der gehörige und rechtmäßige Gebrauch, den wir von unsren Fähigkeiten + machen? Und das Böse, als der unrechtmäßige übelübereinstimmende Gebrauch dieser Fähigkeiten, + der, wie ein verdorbenes Uhrwerk, immer weiter im verkehrten Wege davon fortgeht; so wie der gute + Gebrauch immer weiter in dem graden und richtigen Wege. Wir sind selbstständig – Gott unterstützt + die in uns gelegten Kräfte, wie in der ganzen Natur, ohne sie zu lenken – Wir (sey es nun die Schuld + einer uns angebohrnen Trägheit, die die Theologen Erbsünde nennen, oder des bösen Beyspiels, + welche ich fast eher dafür halten möchte), wir brauchen die Fähigkeiten verkehrt. Gott kommt durch + eine ganze Folgenreihe äußerer Mittel (welche ich Gnade nenne und wohin in der Jugend besonders + die Tauffe und das Wort Gottes zu rechnen), wozu besonders auch die zeitlichen Umstände gehören, + in die er uns versetzt. + + Wir hören nun, daß ein vollkommener Mensch gelebt hat, durch den sich Gott uns ehemals sichtbar + geoffenbart und angekündigt hat; daß, wenn wir den rechten Gebrauch von unsern Fähigkeiten + machen wollen, wir schon hier – und in Ewigkeit glücklich oder seelig sein sollen –; wir hören, daß, + nach dem Ausdruck der Bibel, alle bisher begangenen Sünden der Menschen auf ihn gelegt werden, + daß er sie trägt (was kann dies Anderes heißen, als daß alle üblen Folgen der Sünde auf ihn gelenkt + worden? Darin bestand sein Leiden) – Wir sollen nur glauben, daß Gott uns um seinetwillen gnädig + sei; dies soll uns also nicht mehr beunruhigen, nicht mehr zurückhalten an unserer Besserung mit + allen Kräften unserer Seele zu arbeiten, weil das Alte alles vorbei und wir gleichsam jetzt neue Glieder + an einem großen Ganzen sind, wovon der allervollkommenste Jesus das Haupt war (hieher geht eine + gewisse geistliche Vereinigung vor, die mir im Abendmahl scheint zum Grunde zu liegen, denn wer + wollte alle Geheimnisse der Religion ergründen?) + + Also, voilá tout. Wenn wir diese Hülfsmittel alle, die uns die Gnade darbeut, annehmen, bon ça, es + soll nicht dabei bleiben; wir sollen einmal einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung fä hig werden, + die in der Bibel die Sendung des h. Geistes heisset, die uns Gott immer mehr erkennen und lieben + lehren wird, die uns, wenn wir dazu reif, zum Anschauen Gottes bringen wird – aber dazu gehört + freilich Zeit! + + Lenz.