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@@ -1169,12 +1169,11 @@ Und doch muß ich meinen Entschluß vor Ihnen verbergen. –
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<line tab="1"/>– – Ich sage immer: die größte Unvollkommenheit auf unsrer Welt ist, daß Liebe und Liebe sich so oft verfehlt, und nach unsrer physischen, moralischen und politischen Einrichtung, sich fast immer verfehlen muß. Dahin sollten alle vereinigte Kräfte streben, die Hindernisse wegzuriegeln; aber leider ist’s unmöglich. Wer nur eines jeden Menschen Gesichtspunkt finden könnte; seinen moralischen Thermometer; sein Eigenes; sein Nachgemachtes; sein Herz. Wer den Augenblick haschen könnte, wo sich seine Seele mit der andern zu vereinigen strebt. Wer seine ganze Relation von seinem Character absondern, und unterscheiden könnte, was er zu seyn gezwungen ist, und was er ist. Stille, Stille gehört dazu; stille, heitre, ruhige, göttlichertragende Beobachtung. Rosalia! In jeder Gesellschaft zieht nichts mein Aug’ auf sich, als Sie, wenn Sie einem andern zuhören, und etwas aus ihm heraus zu schweigen suchen. Fahren Sie so fort, meine liebe Gnädige; es wird Ihnen immer wohler dabei werden. Aufzumuntern – ist eine göttliche Eigenschaft, und was muntert mehr auf, als Aufmerksamkeit hochachtungswürdiger Personen.
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<line tab="1"/>Ihre deutsche Diction bewundre ich. Personen aus Ihrer Sphäre, (das will noch ganz etwas anders sagen, als: von Ihrem Stand) sollten doch unsrer treuen Muttersprache die Hand bieten. Wär es auch nur, um einen gewissen Ton in unsre Gesellschaft zu bringen, wo deutsch-französisch Geplauder mit rätselhaften Kränzchen-Witz abwechseln, und so mancher ehrliche Fremde auf der Folter liegt, welches einen am Ende ganz und gar mistrauisch in seinen eigenen Verstand machen kann. Ich häre eine Deutsche mit Vergnügen fremde Sprachen wie ihre eigene reden und schreiben; aber Schriftstellerin darin zu werden, ist doch zu viel Herablassung.
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<line tab="1"/>Werden Sie nicht glauben, ich höre mich gern, daß ich so viel rede? Ach freilich, so ist es! Mit gewissen Personen fühlt man sich so offen, besonders wenn es selten kömmt. Wenigstens lernen Sie nun auch mich ertragen, der freilich es selbst wohl fühlt, wie sehr er nicht mit Wieland allein, (denn das würde mir Ehre machen,) sondern mit hundert Tausend bessern Personen absticht. Bei allen dem bin ich mir keiner Absichten bewußt, und das erhält mich.
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<line tab="1"/>– – Ich sage immer: die größte Unvollkommenheit auf unsrer Welt ist, daß Liebe und Liebe sich so oft verfehlt, und nach unsrer physischen, moralischen und politischen Einrichtung, sich fast immer verfehlen muß. Dahin sollten alle vereinigte Kräfte streben, die Hindernisse weg zu riegeln; aber leider ist’s unmöglich. Wer nur eines jeden Menschen Gesichtspunkt finden könnte; seinen moralischen Thermometer; sein Eigenes; sein Nachgemachtes; sein Herz. Wer den Augenblick haschen könnte, wo sich seine Seele mit der andern zu vereinigen strebt. Wer seine ganze Relation von seinem Character absondern, und unterscheiden könnte, was er zu seyn gezwungen ist, und was er ist. Stille, Stille gehört dazu; stille, heitre, ruhige, göttlichertragende Beobachtung. Rosalia! In jeder Gesellschaft zieht nichts mein Aug’ auf sich, als Sie, wenn Sie einem Andern zuhören, und etwas aus ihm heraus zu schweigen suchen. Fahren Sie so fort, meine liebe Gnädige; es wird Ihnen immer wohler dabei werden. Aufzumuntern – ist eine göttliche Eigenschaft, und was muntert mehr auf, als Aufmerksamkeit hochachtungswürdiger Personen.
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<line tab="1"/>Ihre deutsche Diction bewundre ich. Personen aus Ihrer Sphäre, (das will noch ganz etwas anders sagen, als: von Ihrem Stande) sollten doch unsrer treuen Muttersprache die Hand bieten. Wär’ es auch nur, um einen gewissen Ton in unsre Gesellschaft zu bringen, wo deutsch-französisch Geplauder mit räthselhaften Kränzchen-Witz abwechseln, und so mancher ehrliche Fremde auf der Folter liegt, welches einen am Ende ganz und gar mistrauisch in seinen eigenen Verstand machen kann. Ich höre eine Deutsche mit Vergnügen fremde Sprachen wie ihre eigene reden und schreiben; aber Schriftstellerin darin zu werden, ist doch zu viel Herablassung.
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<line tab="1"/>Werden Sie nicht glauben, ich höre mich gern, daß ich so viel rede? Ach freilich, so ist es! Mit gewissen Personen fühlt man sich so offen, besonders wenn es selten kömmt. Wenigstens lernen Sie nun auch mich ertragen, der freilich es selbst wohl fühlt, wie sehr er nicht mit Wieland allein, (denn das würde mir Ehre machen,) sondern mit hundert Tausend bessern Personen absticht. Bey allen dem bin ich mir keiner Absichten bewußt, und das erhält mich.
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<line tab="1"/>Ihr Ausdruck: neuer Freund, soll mich lange, lange durch heiße Sandwüsten begleiten und erfrischen, denn ich sehe deren vor mir. Ich will niemals fodern; aber ich bitte Sie, ach! gnädige Frau, sagen Sie mir Ihre ganze Meinung; aber ich werde mich niemals ändern. Modifiziren kann sich der nur, der nicht von Jugend auf, wie ich, mit dem Kopf gegen die Wand gerennt ist. Aber sagen Sie mir alles; ich beschwöre Sie. Ewig
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<line type="break"/><align pos="right">Ihr Freund und Verehrer,
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<line type="break" />M. R. <ul>Lenz.</ul></align>
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