mirror of
https://github.com/Theodor-Springmann-Stiftung/lenz-briefe.git
synced 2025-10-29 09:05:30 +00:00
Einpflegung von Brief 167.
This commit is contained in:
@@ -6499,6 +6499,69 @@
|
||||
bewähren daß die höhere Physiologie die die Nothwendigkeit der Stillung eines Triebes der wie alle
|
||||
menschlichen Triebe willkührlich ist, lächerlich macht allgemein zu machen wäre.</letterText>
|
||||
|
||||
<letterText letter="167">Brief von Lenzen an Grafen<line type="break"/>
|
||||
Friedrich Leopold von Stollberg. <line type="empty"/>
|
||||
|
||||
<line tab="1"/>Wundern Sie sich nicht bester Graf! statt einer geschriebenen eine gedruckte Antwort von mir zu
|
||||
erhalten? Sie werden begierig seyn zu wissen, wie Wieland mich empfangen hat, Wieland der einzige
|
||||
unter allen Menschen den ich vorsetzlich und öffentlich beleidigt habe. Sehen Sie da, ob sein
|
||||
Benehmen gegen mich nicht des menschenfreundlichsten Philosophen würdig ist. Als ich ihn das erstemal
|
||||
sahe, machte die zutrauenvolle vergnügte Bewegung, mit der <insertion pos="top">er</insertion> mich grüßte, mich schon wirre; es war,
|
||||
als ob’s ihm jemand gesagt hätte, ich sey um seinetwillen gekommen, obschon wir uns nur auf der Strasse
|
||||
antraffen. Wir speisten den ersten Abend am dritten Ort zusammen, es fiel kein Wort von dem Vergangenen
|
||||
vor und unser Gespräch ward so herzlich und munter ja als es später gegen die Nacht kam so freundschaftlich
|
||||
als ob wir Jahre lang in dem besten Vernehmen bey einander gewohnet. Diese Amnestie hat er bey allen
|
||||
Gelegenheiten so unverbrüchlich beobachtet, daß er sogar bei Hofe, wo er am ersten Gelegenheit gehabt,
|
||||
mich durch feine Vorwürfe aus der Fassung zu bringen und wo ich die Dreistigkeit soweit trieb, ihm über
|
||||
einige Stellen seiner komischen Gedichte meine Bedenklichkeiteil zu sagen er mich mit der größten Sanftmut
|
||||
und Ernst zurecht wieß und mir über <page index="2"/> verschiedene Dinge Aufschlüsse gab die ich nebst dem was ich
|
||||
durch weiteres Nachdenken darüber herausgebracht Ihnen mittheilen will. <line type="empty"/>
|
||||
|
||||
<line tab="1"/>In der That bester Freund ist ein wesentlicher Unterscheid unter einem <ul>schlüpfrigen</ul> und einem <ul>komischen</ul>
|
||||
Gedicht, wie <del>z. E.</del> Wielands Erzehlungen und Ritterromane sind. In den ersten werden die Unordnungen der
|
||||
Gesellschaft ohne Zurückhaltung mit bacchantischer Frechheit gefeyert und ihnen daß ich so sagen mag Altäre
|
||||
gesetzt wie Voltäre und Piron thaten, in diesen werden die Schwachheiten und Thorheiten der Menschen mit dem
|
||||
Licht der Wahrheit beleuchtet und (wie könnte ein Philosoph sie würdiger straffen) dem Gelächter weiserer
|
||||
Menschen Preiß gegeben. Mich deucht der Unterschied ist sehr kenntbar und nur Leidenschaft konnte mich bisher
|
||||
blenden ihn nicht zu sehen. <line type="empty"/>
|
||||
|
||||
<line tab="1"/>Man wirft ihm vor daß seine komischen Erzehlungen zu reitzend, gewisse Scenen darinn zu ausgemahlt sind. Ein
|
||||
besonderer Vorwurf. Eben darinn bestand sein größtes Verdienst und der höchste Reitz seiner Gemählde ist <ul>der
|
||||
ächteste Probierstein</ul> <ul>für die Tugend seiner Leser.</ul> Tugend ohne Wiederstand ist keine, so wenig als einer sich
|
||||
rühmen darf, reiten zu können, wenn er nie auf etwas anderm als einem <page index="3"/> <del>Karrengaul</del> Packpferde gekommen
|
||||
<del>ist</del>. Eine solche furchtsame träge ohnmächtige Tugend ist bey der ersten Versuchung geliefert. Will also einer an
|
||||
diesem Eckstein sich den Kopf zerschellen, anstatt sich an ihm aufzurichten, so thut er’s auf seine Gefahr. Dasselbe
|
||||
würde ihm bey der ersten schönen Frau begegnet sein; darf er deßwegen den Schöpfer lästern der sie gemacht hat?
|
||||
Setzen wir diese nun auch in hundert noch reitzendere Verhältnisse; der Reine dem alles rein ist und der seinen
|
||||
Entschluß und seine Hofnungen unwandelbar im Busen fühlt, wird wenn wir sie zu Hunderten gruppirten, mit der Trunkenheit
|
||||
eines Kunstliebhabers wie unter Griechischen Statuen <del>bey Ihnen</del> vorbeygehn, ohne einen Augenblick zu vergeßen, daß nur
|
||||
eine ihn glücklich machen kann. Ueberhaupt schweigt der thierische Trieb je höher wir die Reitze auch der körperlichen
|
||||
Schönheit spannen und verliert sich unvermerkt in die seelige Unruhe und Wonne <del>der Brust des Busens</del> <insertion pos="top">des Herzens</insertion> das
|
||||
alsdenn von neuen menschenwürdigem <del>entzückungsvollen</del> <insertion pos="top">entzückendern</insertion> Gefühlen <del>geht</del> <insertion pos="top">schwillt</insertion> wohin ihn Wieland an
|
||||
hundert Stellen seiner komischen Gedichte so geschickt <del>hat</del> hinaufzubegleiten wußte. Welche Wohlthat er dem menschlichen
|
||||
Geschlechte dadurch erwiesen, wird ihm erst die Nachwelt danken: falls seine Gedichte etwa nicht unglücklicherweise
|
||||
anders gelesen werden <insertion pos="top">sollten</insertion> als er sie gelesen haben will. <line type="empty"/>
|
||||
|
||||
<page index="3"/> <!-- Hier wird zum zweiten Mal in diesem Brief der Umbruch zur dritten Seite markiert. Müsste es sich hier um die vierte Seite handeln? -->
|
||||
|
||||
<line tab="1"/>Sollten Sie nun vollends diesen Mann in seinen Häuslichen Verhältnissen wie ich fast täglich zu sehen Gelegenheit haben,
|
||||
wie er ganz Zärtlichkeit gegen seine Gattin und Kinder ist, deren feurige Augen die <del>treflichste</del> <insertion pos="top">beste</insertion> Wiederlegung
|
||||
aller derer sind, die j emals in seinen Gedichten schlüpfrige Stellen gefunden oder daraus nachtheilige Schlüsse auf
|
||||
seine Sitten gemacht, sollten Sie sehen, wie aufmerksam und nachgebend er gegen jeden Schatten von Verdienst, wie
|
||||
bescheiden obwohl immer gerecht gegen sich selbst, wie entfernt von allen Anmaßungen und Foderungen an andere, wie
|
||||
beynahe zu nachlässig für seinen Ruhm und die Erhaltung desselben, wo ihn nicht die äußerste Noth dazu zwingt (daher
|
||||
auch alle die falschen Lichter kommen, unter denen er sich bisher immer entfernten Personen gewiesen) wie eyfrig und
|
||||
emsig das Gute zu befördern wo und wie er kann: so würden Sie sich nicht wundern daß ich, der weder von Schriftstellern
|
||||
noch vom Publikum etwas zu erwarten hat, einem ohne mich schon berühmten Manne den Hof mache, ich der mit eben der
|
||||
<del>Unbefangenheit</del> <insertion pos="top">Sorglosigkeit</insertion> in meinem Haß und in meinen Unarten gegen ihn fortgefahren wäre wenn mein Herz mich nicht
|
||||
erinnert hätte. Ich wünschte sehr noch so lange hier <line type="empty"/>
|
||||
|
||||
<sidenote pos="left" page="4" annotation="am linken Rand, vertikal">
|
||||
<line tab="1"/>bleiben zu können, daß ich auch Sie unter so viel treflichen und von sovielen Seiten sich auszeichnenden Personen, als
|
||||
diese glückliche Gegend einschließt, sehen und umarmen könnte</sidenote> <line type="empty"/>
|
||||
|
||||
Lenz.</letterText>
|
||||
|
||||
|
||||
</document>
|
||||
</opus>
|
||||
|
||||
@@ -2505,5 +2505,20 @@
|
||||
<isDraft value="true" />
|
||||
</letterDesc>
|
||||
|
||||
<letterDesc letter="167">
|
||||
<date value="Weimar, April 1776" />
|
||||
<sort value="1776-04-22" />
|
||||
<location ref="8" />
|
||||
<senders>
|
||||
<sender ref="1" />
|
||||
</senders>
|
||||
<receivers>
|
||||
<receiver ref="27" />
|
||||
</receivers>
|
||||
<hasOriginal value="true" />
|
||||
<isProofread value="true" />
|
||||
<isDraft value="true" />
|
||||
</letterDesc>
|
||||
|
||||
</descriptions>
|
||||
</opus>
|
||||
|
||||
@@ -1025,5 +1025,11 @@
|
||||
</app>
|
||||
</letterTradition>
|
||||
|
||||
<letterTradition letter="167">
|
||||
<app ref="4">
|
||||
Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, Ms. 1113, F. 25, V. 31, Nr. 14
|
||||
</app>
|
||||
</letterTradition>
|
||||
|
||||
</traditions>
|
||||
</opus>
|
||||
|
||||
Reference in New Issue
Block a user