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Sagen Sie doch dem Ott, daß er den <aq>Lenz</aq> nicht über dem <it>Herbst</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> vergesse.</letterText>
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<letterText letter="22">Würdiger Mann!
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<line tab="1"/>Ich sehe in Ihrem Raritätenkasten – alles, was uns die Herrn Modephilosophen und Moralisten, mit
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einer marktschreierischen Wortkrämerei, in großen Folianten hererzählen, in zwei Worten
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zusammengeraßt und so glücklich zusammengefaßt, daß sich dazu weder zusetzen noch davon
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abnehmen läßt. Das ist vortrefflich – also das Ziel ist gesteckt, nun Ihre Hand her, mein Sokrates, wir
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wollen darauf zugehen, wie auf ein stilles und friedelächelndes Zoar und die hinterlassenen
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Vorurtheile immer in Feuer und Schwefel aufgehen lassen, ohne uns darnach umzusehen. Mögen
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furchtsame Weiber sich darnach umsehen und drüber zu Salzsäulen werden. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Um noch eine Stelle Ihres ohnendletzten Briefes zu berühren, wo Sie mir zu bedenken aufgaben, ob
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Gott wohl uns das Gute könne schwerer machen, als das Böse, oder (um mit Ihren Worten mich
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auszudrücken) ob er wohl die <aq>vim inertiae</aq> in uns stärker könne gemacht haben, als die <aq>vim activam</aq>,
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so antworte ich, daß ich keine <aq>vim inertiae</aq> glaube. Bedenken Sie doch, mit welchem Fug, wir wohl für
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die Unthätigkeit eine Kraft annehmen können? Vereinigung einer Kraft ist sie, Vernachlässigung der
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<aq>vis activa</aq>, welche in Wirksamkeit und Thätigkeit zu setzen, allemal in unserm Belieben steht oder
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nicht. Es ist aber die Natur einer jeden Kraft, daß sie nur durch Übung erhalten und vermehrt, durch
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Vernachlässigung aber, so zu sagen eingeschläfert und verringert wird. Und daß die Übung dieser
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Kraft schwerer, als ihre Vernachlässigung sey, liegt in der Natur der Sache und konnte von Gott nicht
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verändert werden. <aq>Positio</aq> ist allemal schwerer als <aq>negatio</aq>, wirken schwerer als ruhen, thun schwerer
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als nicht thun. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Was die Einwirkung Gottes in die Menschen betrifft, so kann ich mir nur vier Arten davon denken. Er
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unterstützt und erhält die in uns gelegten Kräfte und Fähigkeiten – diese ist <it>natürlich</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? -->, das heißt,
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unsere Vernunft kann sie auch ohne Offenbarung erkennen; und <it>unmittelbar</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> – hernach, er leitet die
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äußern Umstände und Begebenheiten in der Welt so, daß eine oder die andere Fähigkeit in uns
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entwickelt oder vergrößert werde, je nachdem es sein Rathschluß für gut befindet, diese ist gleichfalls
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<it>natürlich</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> aber mittelbar. Zum dritten wirkt er durch die in uns geoffenbarten Wahrheiten – diese ist
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also, ihrem ersten Ursprung nach, <it>übernatürlich</it>, aber zugleich <it>mittelbar</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> und den Gesetzen der Natur
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gemäß. Zum vierten wirkt er übernatürlich und unmittelbar, wie in den Propheten und Aposteln;
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diese Einwirkung ist über die Gesetze der Natur erhaben, läßt sich also nicht mehr erklären (wiewohl
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wir auch nicht das Recht haben, sie noch jetzt aus der gegenwärtigen Welt auszuschließen, im Fall die
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Gottheit gewisse außerordentliche Endzwecke dadurch befördern wollte, welchen Fall aber, meiner
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Meinung nach, unsere Vernunft nie determiniren kann, sondern vielmehr jedes Phänomen für
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verdächtig halten muß, welches nicht die dazu erforderlichen Kennzeichen bei sich hat). <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Jetzt möge meine philosophische Muse ruhen, sich still zu Ihren Füßen setzen und von Ihnen lernen.
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Spekulation ist Spekulation, bläset auf und bleibt leer, schmeichelt und macht doch nicht glücklich.
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Zusammen mögen sich die Fittige des Geistes halten, und im Thal ruhen, ehe sie, wenn sie der Sonne
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zu nahe kommen, in zerlassenem Wachs heruntertröpfeln und den armen Geist, welcher auf dem
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Lande so sicher und lustig hätte einher gehe'n können, aus der Luft in das Meer herab wirft. <line type="empty"/>
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– – Hier ist mein Trauerspiel mit dem Wunsch: möchte dieser Raritätenkasten des Ihrigen werth seyn.
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Das beste ist, daß wir beim Tausch nicht verlieren, denn unter sympathisirenden Seelen ist <aq>communio
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bonorum</aq>. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Es ist wahr, meine Seele hat bei aller anscheinenden Lustigkeit, jetzt mehr als jemals, eine tragische
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Stimmung. Die Lage meiner äußern Umstände trägt wohl das Meiste dazu bei, aber – sie soll sie, sie
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mag sie nun höher oder tiefer stimmen, doch nie verstimmen. Eine sanfte Melancholei verträgt sich
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sehr wohl mit unserer Glückseligkeit und ich hoffe – nein ich bin gewiß, daß sie sich noch einst in
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reine und dauerhafte Freude auflösen wird, wie ein dunkler Sommermorgen, in einen wolkenlosen
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Mittag. Auch fehlen mir jetzt öftere Sonnenblicke nicht, nur kann freilich ein Herz, dem die süßen
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Ergötzungen der Freundschaft und – der Liebe – sogar einer vernünftigen Gesellschaft genommen
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sind, bisweilen einen Seufzer nicht unterdrücken. An den Brüsten der Natur hange ich jetzt mit
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verdoppelter Inbrunst, sie mag ihre Stirne mit Sonnenstrahlen oder kalten Nebeln umbinden, ihr
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mütterliches Antlitz lächelt mir immer und oft wird’ ich versucht, mit dem alten Junius Brutus, mich
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auf den Boden niederzuwerfen und ihr mit einem stummen Kuß für ihre Freundlichkeit zu danken. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>In der That, ich finde in der Flur, um Landau, täglich neue Schönheiten und der kälteste Nordwind
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kann mich nicht von ihr zurückschrecken. Hätt’ ich doch eines göttlichen Malers Pinsel, ich wollte
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Ihnen gleich einige Seiten von diesem vortrefflichen Amphitheater der Natur hinmalen, so lebhaft
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hat’s sich in meiner Fantasei abgedrückt. Berge, die den Himmel tragen, Thäler voll Dörfnern zu ihren
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Füßen, die dort zu schlafen scheinen, wie Jakob am Fuß seiner Himmelsleiter. –
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Doch ich würde nur schwärmen, wenn ich fortführe und dafür muß ich meinen Geist in Acht nehmen.
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Ich hatte vor einigen Tagen einen Brief an Sie fertig, aber ich verbrannte ihn, denn ich hatte darin
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geschwärmt. Ich habe schon viel Papier hier verbrannt – ein guter Genius hat über dies Trauerspiel
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gewacht, sonst – und vielleicht hätten Sie nichts dabei verloren. So viel muß ich Ihnen sagen, daß ich
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es bei diesem ersten Versuch nicht werde bewenden lassen, denn ich fühle mich dazu – Ich muß
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abbrechen und Ihnen gute Nacht sagen. Möchten Sie doch aus Ihren Träumen lachend
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erwachen, wie ich heute Morgen aus den meinigen.
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Lenz.</letterText>
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</opus>
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