From 82f266848128b2574e540472c783b4a798edd3e3 Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: GregorMichalski Date: Mon, 14 Oct 2024 13:12:51 +0200 Subject: [PATCH] Einpflegung von Brief 22 in "briefe.xml". --- data/xml/briefe.xml | 71 +++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 1 file changed, 71 insertions(+) diff --git a/data/xml/briefe.xml b/data/xml/briefe.xml index 9f40dab..8925f17 100644 --- a/data/xml/briefe.xml +++ b/data/xml/briefe.xml @@ -1221,6 +1221,77 @@ Ihr drollichter Alcibiades. Sagen Sie doch dem Ott, daß er den Lenz nicht über dem Herbst vergesse. + + Würdiger Mann! + Ich sehe in Ihrem Raritätenkasten – alles, was uns die Herrn Modephilosophen und Moralisten, mit + einer marktschreierischen Wortkrämerei, in großen Folianten hererzählen, in zwei Worten + zusammengeraßt und so glücklich zusammengefaßt, daß sich dazu weder zusetzen noch davon + abnehmen läßt. Das ist vortrefflich – also das Ziel ist gesteckt, nun Ihre Hand her, mein Sokrates, wir + wollen darauf zugehen, wie auf ein stilles und friedelächelndes Zoar und die hinterlassenen + Vorurtheile immer in Feuer und Schwefel aufgehen lassen, ohne uns darnach umzusehen. Mögen + furchtsame Weiber sich darnach umsehen und drüber zu Salzsäulen werden. + + Um noch eine Stelle Ihres ohnendletzten Briefes zu berühren, wo Sie mir zu bedenken aufgaben, ob + Gott wohl uns das Gute könne schwerer machen, als das Böse, oder (um mit Ihren Worten mich + auszudrücken) ob er wohl die vim inertiae in uns stärker könne gemacht haben, als die vim activam, + so antworte ich, daß ich keine vim inertiae glaube. Bedenken Sie doch, mit welchem Fug, wir wohl für + die Unthätigkeit eine Kraft annehmen können? Vereinigung einer Kraft ist sie, Vernachlässigung der + vis activa, welche in Wirksamkeit und Thätigkeit zu setzen, allemal in unserm Belieben steht oder + nicht. Es ist aber die Natur einer jeden Kraft, daß sie nur durch Übung erhalten und vermehrt, durch + Vernachlässigung aber, so zu sagen eingeschläfert und verringert wird. Und daß die Übung dieser + Kraft schwerer, als ihre Vernachlässigung sey, liegt in der Natur der Sache und konnte von Gott nicht + verändert werden. Positio ist allemal schwerer als negatio, wirken schwerer als ruhen, thun schwerer + als nicht thun. + + Was die Einwirkung Gottes in die Menschen betrifft, so kann ich mir nur vier Arten davon denken. Er + unterstützt und erhält die in uns gelegten Kräfte und Fähigkeiten – diese ist natürlich, das heißt, + unsere Vernunft kann sie auch ohne Offenbarung erkennen; und unmittelbar – hernach, er leitet die + äußern Umstände und Begebenheiten in der Welt so, daß eine oder die andere Fähigkeit in uns + entwickelt oder vergrößert werde, je nachdem es sein Rathschluß für gut befindet, diese ist gleichfalls + natürlich aber mittelbar. Zum dritten wirkt er durch die in uns geoffenbarten Wahrheiten – diese ist + also, ihrem ersten Ursprung nach, übernatürlich, aber zugleich mittelbar und den Gesetzen der Natur + gemäß. Zum vierten wirkt er übernatürlich und unmittelbar, wie in den Propheten und Aposteln; + diese Einwirkung ist über die Gesetze der Natur erhaben, läßt sich also nicht mehr erklären (wiewohl + wir auch nicht das Recht haben, sie noch jetzt aus der gegenwärtigen Welt auszuschließen, im Fall die + Gottheit gewisse außerordentliche Endzwecke dadurch befördern wollte, welchen Fall aber, meiner + Meinung nach, unsere Vernunft nie determiniren kann, sondern vielmehr jedes Phänomen für + verdächtig halten muß, welches nicht die dazu erforderlichen Kennzeichen bei sich hat). + + Jetzt möge meine philosophische Muse ruhen, sich still zu Ihren Füßen setzen und von Ihnen lernen. + Spekulation ist Spekulation, bläset auf und bleibt leer, schmeichelt und macht doch nicht glücklich. + Zusammen mögen sich die Fittige des Geistes halten, und im Thal ruhen, ehe sie, wenn sie der Sonne + zu nahe kommen, in zerlassenem Wachs heruntertröpfeln und den armen Geist, welcher auf dem + Lande so sicher und lustig hätte einher gehe'n können, aus der Luft in das Meer herab wirft. + + – – Hier ist mein Trauerspiel mit dem Wunsch: möchte dieser Raritätenkasten des Ihrigen werth seyn. + Das beste ist, daß wir beim Tausch nicht verlieren, denn unter sympathisirenden Seelen ist communio + bonorum. + + Es ist wahr, meine Seele hat bei aller anscheinenden Lustigkeit, jetzt mehr als jemals, eine tragische + Stimmung. Die Lage meiner äußern Umstände trägt wohl das Meiste dazu bei, aber – sie soll sie, sie + mag sie nun höher oder tiefer stimmen, doch nie verstimmen. Eine sanfte Melancholei verträgt sich + sehr wohl mit unserer Glückseligkeit und ich hoffe – nein ich bin gewiß, daß sie sich noch einst in + reine und dauerhafte Freude auflösen wird, wie ein dunkler Sommermorgen, in einen wolkenlosen + Mittag. Auch fehlen mir jetzt öftere Sonnenblicke nicht, nur kann freilich ein Herz, dem die süßen + Ergötzungen der Freundschaft und – der Liebe – sogar einer vernünftigen Gesellschaft genommen + sind, bisweilen einen Seufzer nicht unterdrücken. An den Brüsten der Natur hange ich jetzt mit + verdoppelter Inbrunst, sie mag ihre Stirne mit Sonnenstrahlen oder kalten Nebeln umbinden, ihr + mütterliches Antlitz lächelt mir immer und oft wird’ ich versucht, mit dem alten Junius Brutus, mich + auf den Boden niederzuwerfen und ihr mit einem stummen Kuß für ihre Freundlichkeit zu danken. + + In der That, ich finde in der Flur, um Landau, täglich neue Schönheiten und der kälteste Nordwind + kann mich nicht von ihr zurückschrecken. Hätt’ ich doch eines göttlichen Malers Pinsel, ich wollte + Ihnen gleich einige Seiten von diesem vortrefflichen Amphitheater der Natur hinmalen, so lebhaft + hat’s sich in meiner Fantasei abgedrückt. Berge, die den Himmel tragen, Thäler voll Dörfnern zu ihren + Füßen, die dort zu schlafen scheinen, wie Jakob am Fuß seiner Himmelsleiter. – + Doch ich würde nur schwärmen, wenn ich fortführe und dafür muß ich meinen Geist in Acht nehmen. + Ich hatte vor einigen Tagen einen Brief an Sie fertig, aber ich verbrannte ihn, denn ich hatte darin + geschwärmt. Ich habe schon viel Papier hier verbrannt – ein guter Genius hat über dies Trauerspiel + gewacht, sonst – und vielleicht hätten Sie nichts dabei verloren. So viel muß ich Ihnen sagen, daß ich + es bei diesem ersten Versuch nicht werde bewenden lassen, denn ich fühle mich dazu – Ich muß + abbrechen und Ihnen gute Nacht sagen. Möchten Sie doch aus Ihren Träumen lachend + erwachen, wie ich heute Morgen aus den meinigen. + Lenz.