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@@ -464,7 +464,8 @@ Tarwast den 9ten November 1767.
<letterText letter="20"><align pos="right">Arensburg in der Insel Oesel d. 24. Septbr: a. St. 1772</align>
<line type="break" /><align pos="center">Mein zärtlich geliebter Bruder,</align>
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Um die Freude auszudrücken, die Dein Brief mir verursachet, müßte ich mehr Muße und einen größern Raum haben. Der Anblick einer Hand, die ich zwey lange Jahre zu sehn entwöhnt bin, war das für mich, was Robinson auf einer wüsten Insel der erste Anblick einer Menschen-Gestalt nur immer seyn konnte. Ich weiß jetzt daß Du lebst, daß Du wo nicht glücklich doch auch nicht ganz unglücklich bist, und dieß ist alles. Aber die Schicksale, die Du verschweigst, mir verschweigst, in dessen Busen Deine Geheimnisse, wenn Du welche hast, so gut verwahrt wären, wie in der Deinigen, gewiß diese machen mich unruhig. Gott weiß, daß ich Dein Glück wünsche, und so sehr wünsche, als es vielleicht keiner außer mir thut. Könnte ich zu Deiner Zufriedenheit was beytragen, wie sehr würde meine eigne vergrößert werden. Sey offenhertzig gegen mich, wenn Du von meiner Zärtlichkeit überzeugt bist; Und der Himmel verzeyhe es Dir, wenn Du es nicht bist. Sollte vielleicht Deine Rückreise durch kleine Verwickelungen aufgehalten werden, so entdecke Dich mir, vielleicht kann ich Mittel erfinden, Dir zu helfen? Denn was würde ich nicht dran wenden, Dich noch einmahl zu sehen, einmahl alle meine bisherigen Schicksale in Deinen Busen auszuschütten, und aus Deinem Munde die Deinigen zu hören, die mich wo nicht mehr doch eben so sehr <aq>intereßiren</aq> wie meine eignen. Unser guter alter Vater, ich weiß, daß er Dich sehr liebt, es würde ihn tief beugen, wenn Du Hülfe nöthig hättest, und er Dir nicht helfen könnte. Verschone ihn also, wenn Du in Verlegenheit bist, eben so wie unsere Geschwister, die selbst in Schulden, eben so wie er begraben sind. Wende Dich an mich, mich wird die Last nicht niederdrücken, die ich für meinen Bruder trage, den meine ganze Seele liebt. Ich bin auch jünger wie sie, und habe keine Frau und Kinder, die mir Vorwürfe machen können. Was für ein Verdienst, Dich unserm Vaterlande, unsern frommen Eltern, unsem frohen Geschwistern und Freunden wiederzugeben, wie weit überwiegt es alle Ungemächlichkeiten! Und dieß erwarte ich von Deiner Liebe, wenn es wahr ist, daß Du mich liebst. Laß mich immer bey meiner Einbildung
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<line type="break" />Um die Freude auszudrücken, die Dein Brief mir verursachet, müßte ich mehr Muße und einen größern Raum haben. Der Anblick einer Hand, die ich zwey lange Jahre zu sehn entwöhnt bin, war das für mich, was Robinson auf einer wüsten Insel der erste Anblick einer Menschen-Gestalt nur immer seyn konnte. Ich weiß jetzt daß Du lebst, daß Du wo nicht glücklich doch auch nicht ganz unglücklich bist, und dieß ist alles. Aber die Schicksale, die Du verschweigst, mir verschweigst, in dessen Busen Deine Geheimnisse, wenn Du welche hast, so gut verwahrt wären, wie in der Deinigen, gewiß diese machen mich unruhig. Gott weiß, daß ich Dein Glück wünsche, und so sehr wünsche, als es vielleicht keiner außer mir thut. Könnte ich zu Deiner Zufriedenheit was beytragen, wie sehr würde meine eigne vergrößert werden. Sey offenhertzig gegen mich, wenn Du von meiner Zärtlichkeit überzeugt bist; Und der Himmel verzeyhe es Dir, wenn Du es nicht bist. Sollte vielleicht Deine Rückreise durch kleine Verwickelungen aufgehalten werden, so entdecke Dich mir, vielleicht kann ich Mittel erfinden, Dir zu helfen? Denn was würde ich nicht dran wenden, Dich noch einmahl zu sehen, einmahl alle meine bisherigen Schicksale in Deinen Busen auszuschütten, und aus Deinem Munde die Deinigen zu hören, die mich wo nicht mehr doch eben so sehr <aq>intereßiren</aq> wie meine eignen. Unser guter alter Vater, ich weiß, daß er Dich sehr liebt, es würde ihn tief beugen, wenn Du Hülfe nöthig hättest, und er Dir nicht helfen könnte. Verschone ihn also, wenn Du in Verlegenheit bist, eben so wie unsere Geschwister, die selbst in Schulden, eben so wie er begraben sind. Wende Dich an mich, mich wird die Last nicht niederdrücken, die ich für meinen Bruder trage, den meine ganze Seele liebt. Ich bin auch jünger wie sie, und habe keine Frau und Kinder, die mir Vorwürfe machen können. Was für ein Verdienst, Dich unserm Vaterlande, unsern frommen Eltern, unsem frohen Geschwistern und Freunden wiederzugeben, wie weit überwiegt es alle Ungemächlichkeiten! Und dieß erwarte ich von Deiner Liebe, wenn es wahr ist, daß Du mich liebst. Laß mich immer bey meiner Einbildung
<page index="2"/>daß unter den vielen Ursachen, die Dich bewegen müssen, zurückzukommen, <insertion pos="top">ich</insertion> auch eine kleine seyn könnte.
<line tab="1"/>Ich zweifle nicht, daß Du ebenso ungeduldig bist, meine Geschichte zu hören, wie ich die Deinige. Ich mache Dir keinen Vorwurf. Aber genung es ist traurig für mich, so wenig von Dir zu wißen.
<line tab="1"/>Du weißt, daß ich in meiner vorigen Condition einen Antrag zum Fiscalat in Dörpt bekam, den ich aus vielen kleinen Ursachen ausschlug, die die Vorsehung vielleicht mir zu meinem Glück in den Weg legte. Einige Wochen drauf kam ich in Vorschlag zum <aq>Stadts-Secretariat</aq> in <aq>Arensburg</aq>. Wunderbar hat unser große u. gute Vater mich bisher geführt. Alle Hindernisse mußten gehoben werden, und seit dem Anfange des vorigen Monats bin ich würklich ein 20jähriger <aq>Secretaire</aq>. Einige Ausarbeitungen, die ich <aq>loco</aq> eines <aq>examinis</aq> machen muste, geriethen gut, weil ich mühsam in der Condition das nachgeholt hatte, was ich auf der Akademie versäumt. <aq>Turzelmann</aq>, Ratsherr, u. ein Mutterbruder von unsrer Tarwastschen Schwiegerin ist das Werkzeug meiner Beförderung, bey dem ich wohne und speise, und der mich in allem, was mir noch am Schlendrijan fehlt, unterstützt und leitet. Meine Bedienung trägt 300 Rbl. auch wohl beyguten Jahren gegen 400 Rbl. ein, ernährt also, wenn eine gute Advokatur dazu kömmt, ihren Mann. Aber gegen 500 Rbl. die ich schuldig bin, und die ich ehrlich bezahlen will, und die schlechten, armseligen Zeiten werden mich lange noch nicht in den Stand setzen, meine eigene Hütte, zu verstehen mit einer zärtlichen Freundinn, die die Mühseeligkeilen dieses Lebens mit tragen hilft, zu bewohnen. Es sey drum. So groß mein Begriff von einer solchen Glückseeligkeit ist, so ist doch die Erfüllung unsrer Pflichten, und das nicht Bewustseyn einer bösen Handlung <insertion pos="top">eine</insertion> nicht viel kleinere. Der Character dieser Nation, die Beschaffenheit der Stadt und des Landes, und die kleineren Umstände meiner Geschichte, verspare ich bis zu unserer Gott gebe baldigen Umarmung. Ich wiederhole noch einmahl, was ich wegen <insertion pos="top">der</insertion> Hinderniße die Dich abhalten könnten, so bald als möglich in unsre Arme zurückzufliegen, gesagt habe. Eile mein Bruder. Du bist Dich Deinem Vaterlande schuldig mir u. o wie vielen anderen. Der Himmel wird Dir hier schon Brodt geben, und vielleicht, gleich sobald Du ankömmst. Ich erwarte bald Nachricht von Dir. Wenn sie aber so wäre, daß sie unsern Vater kränken könnte, so <aq>adreßire</aq> den Brief nicht an ihn, weil er ihn aufbrechen würde, sondern schicke ihn durch den jungen Sievers in Strasburg, wenn Du sicher bist, daß er ihn gut bestellt. Ich unterhalte mit einigen aus dem Hause eine Corres