Einpflegung von Brief 26 in "briefe.xml".

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GregorMichalski
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freilich Zeit! <line type="empty"/>
Lenz.</letterText>
<letterText letter="26"><line tab="1"/>Es scheint, daß Sie dazu gemacht sind, mir meine kleinen Systeme alle zu zerstören und zu schleifen.
Kaum habe ich eine recht artige bunte Seifenblase vor dem Munde, so fahren Sie unbarmherzig
drüber her und lachen mich aus, wenn ich stehe und den Kopf kratze. Ich muß Ihnen aber auch sagen,
daß ich meine Kartenhäuser gern niederreißen lasse, weil in einer Stunde wieder ein neues da ist. An
mir ist von Kindesbeinen an ein Philosoph verdorben, ich hasche immer nach der ersten besten
Wahrscheinlichkeit, die mir in die Augen flimmert, und die liebe, bescheiden nackte Wahrheit kommt
dann ganz leise von hinten und hält mir die Augen zu. Eine lange Kette von Ideen, wo eine die andere
gibt, bis man, wenn man eine Weile gereist hat, die letzte findt und sich seines Zieles freuen kann, ist
für meine Seele eine wahre Sklavenkette wie glücklich bin ich, wieder an Ihrer Hand zu gehen, wenn
ich lange genug auf blumigten Wiesen herumgesprungen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Welch ein Wust von Allegorien! kann ich doch nicht davor, daß meine Seele jetzt so gestimmt ist.
Mein Hauptsystem bleibt dennoch unverrückt, und das ist freilich einfach genug, aber . darum für
meine Seele zuträglicher, weil sie Pein empfindet, wenn sie sich <aq>lange</aq> bei Wahrheiten aufhalten soll.
Und das ist dieß: es geht mir gut in der Welt und wird mir in Ewigkeit gut gehen, so lang ich selbst gut
bin, denn ich habe dort oben einen sehr guten Vater, der alles was er gemacht hat, sehr gut gemacht
hat und wenn sich dies letztere mir nicht allezeit so darstellt, so liegt die Schuld an meinem
dummen Verstande. Eine gewisse Offenbarung bestätigt dies mein Gefühl <aq>tant mieux</aq>! sie sagt mir,
das anscheinend und wirklich Böse, in der Welt, fang jetzt schon an und solle dereinst ganz
aufgehoben werden, und das hab ich dem Sohne Gottes zu danken, ob nun seiner Lehre allein, oder
auch wirklich seinem Verdienste (wenn anders, um von Gott nicht menschlich zu reden, bei Gott ein
Verdienst statt finden kann, denn bei ihm ist alles Gnade), <aq>tant mieux</aq>! sage ich, das ist eine schöne
frohe Botschaft (Evangelium); ich glaube sie herzlich gern und freue mich darüber und dies, denk ich,
ist der Glaube, der mich selig machen soll und schon hier glückselig oder selig macht, denn diese
beiden Wörter, denk ich, sind auch eins. So werden wir, denk ich, in dem Extrakt unserer Religion
ziemlich nahe bei einander stehen. Freilich haben Sie in vielen Punkten, die ich mir unterstrichen
habe, mich so unter sich gekriegt, daß ich mich kaum noch rühren kann, in andern bin noch <aq>in
suspenso</aq>, als daß Gott gar nichts in uns wirken kann u. a. m., wovon ich mündlich mehr mit Ihnen zu
reden hoffe. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Das Eine bitt ich mir aus, nicht so verächtlich von dieser Welt zu sprechen. Sie ist gut, mein Gönner,
mit allen ihren eingeschlossenen Uebeln, das Reich Gottes, wovon Christus immer redt, ist nicht
allein in jenem Leben zu hoffen, denn er selbst hat uns im Vaterunser beten gelehrt „dein Wille
geschehe im Himmel, wie auf Erden“. Wenns Glück gut ist, bin ich noch immer ein heimlicher
Anhänger vom tausendjährigen Reiche, wenigstens glaub ich gewiß, daß der Zustand unserer Welt
nicht immer derselbe bleiben wird. Und christlichphysisches Uebel muß immer mehr drin
abnehmen, wenn das Moralische darin abnimmt, und das wollt ich beinahe beweisen, wenn anders
eine Seele, die immer <aq>entrechats</aq> macht, wie eine Närrin, in ihrem Leben jemals etwas wird beweisen
können. <line type="empty"/>
<line tab="1"/> Eine Lieblingsidee haben Sie, mein Theurer, und das freut mich, weil ich auch <aq>eine</aq> habe. So bin ich
Ihnen doch in einem Stück ähnlich, denn, wenn es auf eine Aussicht in eine aneinanderhangende
Reihe von Wahrheiten ankömmt, da kann ich mich mit Ihnen nicht messen. Wissen Sie worin unsere
Lieblingsideell bestehn? Die Ihrige ist die <aq>Liebe</aq> und die Meinige, die <aq>Schönheit</aq>. Vielleicht stehn
diese, beide, nahe bei einander, oder fließen gar zusammen wenn nur meine Brille schärfer wäre!
So viel ist gewiß, daß die letztere die einzige Idee ist, auf die ich alle andern zu reduzieren suche. Aber
es muß die echte Schönheit sein, die auf Wahrheit und Güte gegründet ist, und in der höchsten und
faßlichsten Uebereinstimmung der Henker mag sie definieren; ich fühle sie und jag ihr nach; freilich
tritt sie mir noch oft hinter eine Wolke, aber ich werde sie einmal finden diese allein kann mein Herz
mit Liebe gegen Gott (die Schönheit <aq>in abstracto</aq>) und gegen alles was geschaffen (die Schönheit <aq>in
concreto</aq>) füllen. Freilich so nach Graden, so wie die Schönheit selber Grade hat. Da haben Sie meine
Brille Ihre ist vortrefflich, aber ich kann noch nicht dadurch sehen, darum sind wir Individua. Genug,
wir passen in das Ganze das Gott geschaffen hat und das ihm gefallt, so verschieden wie es ist, denn
in der Natur sind keine vollkommene Aehnlichkeiten, sagen die Philosophen. Genug, ich fühle eine
Affinität zu Ihnen, die ganz erschrecklich ist und obgleich ich die Lichtstralen, die Sie mir zuschicken,
nicht mit den meinigen vereinigen kann, so mag ich sie doch gern damit verschwägern. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Nun ists Zeit, daß ich vom Pegasus herabsteige, sonst wirft er mich ins Meer. Kaum hab ich so viel
Athem Ihnen zu sagen, daß ich, zu der höchsten Uebereinstimmung der Welt das Zutrauen habe, daß
sie mich nach Straßburg in Ihre Armen führen wird. <line type="empty"/>
Lenz.
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</opus>