From 62faf5fa08e26a8da01ba927dd9dba9f7b66d759 Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: GregorMichalski Date: Thu, 17 Oct 2024 12:46:03 +0200 Subject: [PATCH] Einpflegung von Brief 26 in "briefe.xml". --- data/xml/briefe.xml | 65 +++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 1 file changed, 65 insertions(+) diff --git a/data/xml/briefe.xml b/data/xml/briefe.xml index 242d477..4b3312a 100644 --- a/data/xml/briefe.xml +++ b/data/xml/briefe.xml @@ -1513,6 +1513,71 @@ freilich Zeit! Lenz. + + Es scheint, daß Sie dazu gemacht sind, mir meine kleinen Systeme alle zu zerstören und zu schleifen. + Kaum habe ich eine recht artige bunte Seifenblase vor dem Munde, so fahren Sie unbarmherzig + drüber her und lachen mich aus, wenn ich stehe und den Kopf kratze. Ich muß Ihnen aber auch sagen, + daß ich meine Kartenhäuser gern niederreißen lasse, weil in einer Stunde wieder ein neues da ist. An + mir ist von Kindesbeinen an ein Philosoph verdorben, ich hasche immer nach der ersten besten + Wahrscheinlichkeit, die mir in die Augen flimmert, und die liebe, bescheiden nackte Wahrheit kommt + dann ganz leise von hinten und hält mir die Augen zu. Eine lange Kette von Ideen, wo eine die andere + gibt, bis man, wenn man eine Weile gereist hat, die letzte find’t und sich seines Zieles freuen kann, ist + für meine Seele eine wahre Sklavenkette – wie glücklich bin ich, wieder an Ihrer Hand zu gehen, wenn + ich lange genug auf blumigten Wiesen herumgesprungen. – + + Welch’ ein Wust von Allegorien! kann ich doch nicht davor, daß meine Seele jetzt so gestimmt ist. + Mein Hauptsystem bleibt dennoch unverrückt, und das ist freilich einfach genug, aber . darum für + meine Seele zuträglicher, weil sie Pein empfindet, wenn sie sich lange bei Wahrheiten aufhalten soll. + Und das ist dieß: es geht mir gut in der Welt und wird mir in Ewigkeit gut gehen, so lang ich selbst gut + bin, denn ich habe dort oben einen sehr guten Vater, der alles was er gemacht hat, sehr gut gemacht + hat – und wenn sich dies letztere mir nicht allezeit so darstellt, so liegt die Schuld an meinem + dummen Verstande. Eine gewisse Offenbarung bestätigt dies mein Gefühl – tant mieux! sie sagt mir, + das anscheinend und wirklich Böse, in der Welt, fang jetzt schon an und solle dereinst ganz + aufgehoben werden, und das hab’ ich dem Sohne Gottes zu danken, ob nun seiner Lehre allein, oder + auch wirklich seinem Verdienste (wenn anders, um von Gott nicht menschlich zu reden, bei Gott ein + Verdienst statt finden kann, denn bei ihm ist alles Gnade), tant mieux! sage ich, das ist eine schöne + frohe Botschaft (Evangelium); ich glaube sie herzlich gern und freue mich darüber und dies, denk’ ich, + ist der Glaube, der mich selig machen soll und schon hier glückselig oder selig macht, denn diese + beiden Wörter, denk’ ich, sind auch eins. So werden wir, denk ich, in dem Extrakt unserer Religion + ziemlich nahe bei einander stehen. Freilich haben Sie in vielen Punkten, die ich mir unterstrichen + habe, mich so unter sich gekriegt, daß ich mich kaum noch rühren kann, in andern bin noch in + suspenso, als daß Gott gar nichts in uns wirken kann u. a. m., wovon ich mündlich mehr mit Ihnen zu + reden hoffe. + + Das Eine bitt’ ich mir aus, nicht so verächtlich von dieser Welt zu sprechen. Sie ist gut, mein Gönner, + mit allen ihren eingeschlossenen Uebeln, das Reich Gottes, wovon Christus immer red’t, ist nicht + allein in jenem Leben zu hoffen, denn er selbst hat uns im Vaterunser beten gelehrt „dein Wille + geschehe im Himmel, wie auf Erden“. Wenn’s Glück gut ist, bin ich noch immer ein heimlicher + Anhänger vom tausendjährigen Reiche, wenigstens glaub’ ich gewiß, daß der Zustand unserer Welt + nicht immer derselbe bleiben wird. Und christlich–physisches Uebel muß immer mehr drin + abnehmen, wenn das Moralische darin abnimmt, und das wollt’ ich beinahe beweisen, wenn anders + eine Seele, die immer entrechats macht, wie eine Närrin, in ihrem Leben jemals etwas wird beweisen + können. + + – – Eine Lieblingsidee haben Sie, mein Theurer, und das freut mich, weil ich auch eine habe. So bin ich + Ihnen doch in einem Stück ähnlich, denn, wenn es auf eine Aussicht in eine aneinanderhangende + Reihe von Wahrheiten ankömmt, da kann ich mich mit Ihnen nicht messen. Wissen Sie worin unsere + Lieblingsideell bestehn? Die Ihrige ist – die Liebe – und die Meinige, die Schönheit. Vielleicht stehn + diese, beide, nahe bei einander, oder fließen gar zusammen – – wenn nur meine Brille schärfer wäre! + So viel ist gewiß, daß die letztere die einzige Idee ist, auf die ich alle andern zu reduzieren suche. Aber + es muß die echte Schönheit sein, die auf Wahrheit und Güte gegründet ist, und in der höchsten und + faßlichsten Uebereinstimmung – der Henker mag sie definieren; ich fühle sie und jag ihr nach; freilich + tritt sie mir noch oft hinter eine Wolke, aber ich werde sie einmal finden – diese allein kann mein Herz + mit Liebe gegen Gott (die Schönheit in abstracto) und gegen alles was geschaffen (die Schönheit in + concreto) füllen. Freilich so nach Graden, so wie die Schönheit selber Grade hat. Da haben Sie meine + Brille – Ihre ist vortrefflich, aber ich kann noch nicht dadurch sehen, darum sind wir Individua. Genug, + wir passen in das Ganze das Gott geschaffen hat und das ihm gefallt, so verschieden wie es ist, denn + in der Natur sind keine vollkommene Aehnlichkeiten, sagen die Philosophen. Genug, ich fühle eine + Affinität zu Ihnen, die ganz erschrecklich ist und obgleich ich die Lichtstralen, die Sie mir zuschicken, + nicht mit den meinigen vereinigen kann, so mag ich sie doch gern damit verschwägern. + + Nun ist’s Zeit, daß ich vom Pegasus herabsteige, sonst wirft er mich ins Meer. Kaum hab’ ich so viel + Athem Ihnen zu sagen, daß ich, zu der höchsten Uebereinstimmung der Welt das Zutrauen habe, daß + sie mich nach Straßburg in Ihre Armen führen wird. + + Lenz. + +