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<letterText letter="26"><line tab="1"/>Es scheint, daß Sie dazu gemacht sind, mir meine kleinen Systeme alle zu zerstören und zu schleifen.
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Kaum habe ich eine recht artige bunte Seifenblase vor dem Munde, so fahren Sie unbarmherzig
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drüber her und lachen mich aus, wenn ich stehe und den Kopf kratze. Ich muß Ihnen aber auch sagen,
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daß ich meine Kartenhäuser gern niederreißen lasse, weil in einer Stunde wieder ein neues da ist. An
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mir ist von Kindesbeinen an ein Philosoph verdorben, ich hasche immer nach der ersten besten
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Wahrscheinlichkeit, die mir in die Augen flimmert, und die liebe, bescheiden nackte Wahrheit kommt
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dann ganz leise von hinten und hält mir die Augen zu. Eine lange Kette von Ideen, wo eine die andere
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gibt, bis man, wenn man eine Weile gereist hat, die letzte find’t und sich seines Zieles freuen kann, ist
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für meine Seele eine wahre Sklavenkette – wie glücklich bin ich, wieder an Ihrer Hand zu gehen, wenn
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ich lange genug auf blumigten Wiesen herumgesprungen. – <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Welch’ ein Wust von Allegorien! kann ich doch nicht davor, daß meine Seele jetzt so gestimmt ist.
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Mein Hauptsystem bleibt dennoch unverrückt, und das ist freilich einfach genug, aber . darum für
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meine Seele zuträglicher, weil sie Pein empfindet, wenn sie sich <aq>lange</aq> bei Wahrheiten aufhalten soll.
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Und das ist dieß: es geht mir gut in der Welt und wird mir in Ewigkeit gut gehen, so lang ich selbst gut
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bin, denn ich habe dort oben einen sehr guten Vater, der alles was er gemacht hat, sehr gut gemacht
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hat – und wenn sich dies letztere mir nicht allezeit so darstellt, so liegt die Schuld an meinem
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dummen Verstande. Eine gewisse Offenbarung bestätigt dies mein Gefühl – <aq>tant mieux</aq>! sie sagt mir,
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das anscheinend und wirklich Böse, in der Welt, fang jetzt schon an und solle dereinst ganz
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aufgehoben werden, und das hab’ ich dem Sohne Gottes zu danken, ob nun seiner Lehre allein, oder
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auch wirklich seinem Verdienste (wenn anders, um von Gott nicht menschlich zu reden, bei Gott ein
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Verdienst statt finden kann, denn bei ihm ist alles Gnade), <aq>tant mieux</aq>! sage ich, das ist eine schöne
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frohe Botschaft (Evangelium); ich glaube sie herzlich gern und freue mich darüber und dies, denk’ ich,
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ist der Glaube, der mich selig machen soll und schon hier glückselig oder selig macht, denn diese
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beiden Wörter, denk’ ich, sind auch eins. So werden wir, denk ich, in dem Extrakt unserer Religion
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ziemlich nahe bei einander stehen. Freilich haben Sie in vielen Punkten, die ich mir unterstrichen
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habe, mich so unter sich gekriegt, daß ich mich kaum noch rühren kann, in andern bin noch <aq>in
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suspenso</aq>, als daß Gott gar nichts in uns wirken kann u. a. m., wovon ich mündlich mehr mit Ihnen zu
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reden hoffe. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Das Eine bitt’ ich mir aus, nicht so verächtlich von dieser Welt zu sprechen. Sie ist gut, mein Gönner,
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mit allen ihren eingeschlossenen Uebeln, das Reich Gottes, wovon Christus immer red’t, ist nicht
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allein in jenem Leben zu hoffen, denn er selbst hat uns im Vaterunser beten gelehrt „dein Wille
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geschehe im Himmel, wie auf Erden“. Wenn’s Glück gut ist, bin ich noch immer ein heimlicher
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Anhänger vom tausendjährigen Reiche, wenigstens glaub’ ich gewiß, daß der Zustand unserer Welt
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nicht immer derselbe bleiben wird. Und christlich–physisches Uebel muß immer mehr drin
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abnehmen, wenn das Moralische darin abnimmt, und das wollt’ ich beinahe beweisen, wenn anders
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eine Seele, die immer <aq>entrechats</aq> macht, wie eine Närrin, in ihrem Leben jemals etwas wird beweisen
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können. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>– – Eine Lieblingsidee haben Sie, mein Theurer, und das freut mich, weil ich auch <aq>eine</aq> habe. So bin ich
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Ihnen doch in einem Stück ähnlich, denn, wenn es auf eine Aussicht in eine aneinanderhangende
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Reihe von Wahrheiten ankömmt, da kann ich mich mit Ihnen nicht messen. Wissen Sie worin unsere
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Lieblingsideell bestehn? Die Ihrige ist – die <aq>Liebe</aq> – und die Meinige, die <aq>Schönheit</aq>. Vielleicht stehn
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diese, beide, nahe bei einander, oder fließen gar zusammen – – wenn nur meine Brille schärfer wäre!
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So viel ist gewiß, daß die letztere die einzige Idee ist, auf die ich alle andern zu reduzieren suche. Aber
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es muß die echte Schönheit sein, die auf Wahrheit und Güte gegründet ist, und in der höchsten und
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faßlichsten Uebereinstimmung – der Henker mag sie definieren; ich fühle sie und jag ihr nach; freilich
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tritt sie mir noch oft hinter eine Wolke, aber ich werde sie einmal finden – diese allein kann mein Herz
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mit Liebe gegen Gott (die Schönheit <aq>in abstracto</aq>) und gegen alles was geschaffen (die Schönheit <aq>in
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concreto</aq>) füllen. Freilich so nach Graden, so wie die Schönheit selber Grade hat. Da haben Sie meine
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Brille – Ihre ist vortrefflich, aber ich kann noch nicht dadurch sehen, darum sind wir Individua. Genug,
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wir passen in das Ganze das Gott geschaffen hat und das ihm gefallt, so verschieden wie es ist, denn
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in der Natur sind keine vollkommene Aehnlichkeiten, sagen die Philosophen. Genug, ich fühle eine
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Affinität zu Ihnen, die ganz erschrecklich ist und obgleich ich die Lichtstralen, die Sie mir zuschicken,
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nicht mit den meinigen vereinigen kann, so mag ich sie doch gern damit verschwägern. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Nun ist’s Zeit, daß ich vom Pegasus herabsteige, sonst wirft er mich ins Meer. Kaum hab’ ich so viel
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Athem Ihnen zu sagen, daß ich, zu der höchsten Uebereinstimmung der Welt das Zutrauen habe, daß
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sie mich nach Straßburg in Ihre Armen führen wird. <line type="empty"/>
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Lenz.
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