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@@ -259,5 +259,166 @@ Zu 40 Trauer-Briefen Pappier mit schwarzen Ränd.
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<letterText letter="8">
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Theurester Freund!
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<line tab="1" />Sie werden mir ein kleines Stillschweigen zu gut halten, das auf eine Abreise ohne Abschied seltsam genug aussieht. Die gegenwärtige Lage meiner Seele wird mich entschuldigen. Sie kriecht zusammen, wie ein Insekt, das von einem plötzlichen kalten Winde berührt worden. Vielleicht sammelt sie neue Kräfte, oder vielleicht ist dieser Zustand gar Melancholey. Sey es was es wolle, ich befinde mich eben nicht unglücklich dabey, es ist kein Schmerz den ich fühle, sondern bloß Ernst und obschon dieser den Jüngling nicht so sehr ziemet als den Mann, so denk ich, ist er auch für jenen unter gewissen Umständen vortheilhaft. Geben Sie mir doch Nachricht von Ihrem Befinden, ändern Sie Ihr sonst so gütiges Zutrauen gegen mich nicht. Meine Umstände können meine Oberfläche zwar ändern, aber der Grund meines Herzens bleibt. – Ich beschäftige mich gegenwärtig vorzüglich mit Winkelmanns Geschichte der Kunst, und finde bei ihm Genugtuung. O daß dieser Mann noch lebte! Schaffen Sie sich sein Werk an, wenn Sie einmal auf Verschönerung Ihrer Bibliothek denken. Wenn seine Sphäre nur nicht von der Art wäre, daß er sich durch einen großen Nebel von Gelehrsamkeit in derselben herumdrehen muß, der den gesetzten und edlen Flug seines Geistes merklich niederschlägt. In der Jurisprudenz habe ich nur noch eine kleine Saite in meiner Seele aufgezogen, und die gibt einen verhenkert leisen Thon. Der waltende Himmel mag wissen, in was für eine Form er mich zuletzt noch gießt und was für Münze er auf mich prägt. Der Mensch ist mit freien Händen und Füssen dennoch nur ein tändelndes Kind, wenn er von dem großen Werkmeister, der die Weltuhr in seiner Hand hat, nicht auf ein Plätzchen eingestellt wird, wo er ein paar Räder neben sich in Bewegung setzen kann. – Ist Ihre Abhandlung schon vorgelesen? Und wie haben sich <aq>Ott</aq> und <aq>Haffner</aq> das letztemahl gehalten; ich zähle auf Ihr Urtheil davon.
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<line tab="1" />Ihre weisen Rathschläge über einen gewissen Artikel meines Herzens, fang ich an mit Ernst in Ausübung zu setzen: allein eine Wunde heilt allemahl langsamer, als sie geschlagen wird. Und wenn ich die Leidenschaft überwände, wird doch der stille Wunsch ewig nicht aus meinem Herzen gereutet werden, mein Glück, wenn ich irgend eines auf dieser kleinen Kugel erwarten kann, mit einer Persohn zu teilen, die es mir allein wird reitzend und wünschenswerth machen können. Ich habe heut einen dummen Kopf, aber ein gutes und geruhiges Herz: aus der Fülle dieses Herzens will ich Ihnen sagen, daß ich bin
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Ihr <line type="break" />
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unaufhörlich ergebenster Freund <line type="break" />
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J. M. R. Lenz.
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<note> < Am Rand > </note>
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Von Herrn von Kleist ein ganz ergebenstes Compliment. Wollen Sie so gütig seyn, mich Ihrer Tischgesellschaft zu empfehlen, vorzüglich Herrn <aq>Leibhold</aq> und <aq>Hepp</aq>.
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<note> < Nachschrift > </note>
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Ich sehe daß mein guter Ott mich nicht versteht und durchaus glaubt, wenn ich nicht lustig bin, müsse ich unglücklich seyn. Benehmen Sie ihm doch dieses schlechte Zutraun zu mir, welches mich in der That schamroth machen muß. Der Himmel ist noch nie so strenge gegen mich gewesen, mir größeren Kummer aufzulegen, als wozu er mir Schultern gegeben, und wenn ich jetzt die feige Memme machte, der Ungedult und Thorheit über die Backen liefen, so verdient ich in Essig eingemacht zu werden, damit ich nicht in <aq>putredinem</aq> überginge. Ich fürchte, weil ich an ihn jetzt nicht mehr mit lachendem Munde schreiben kann, sein gar zu gutes und empfindliches Herz wird glauben, ich sey niedergeschlagen und ich bin es doch niemals weniger gewesen als itzt.
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<line tab="1" />Neulich als ich einige Stunden einsam unter einem Baum gelesen, sah ich unvermuthet eine erschreckliche Schlange ganzgeruhig zwei Zoll weit neben mir liegen. Ich flog schneller als ein Blitz davon, und dachte es muß doch noch nicht Zeit für dich sein – Diese Anekdote schreibe ich meinen Freunden nur darum, damit sie sich in Acht nehmen, unter einem Baum auszuruhen – denn sonst denk ich interessirt sie niemanden als mich.
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<line tab="1" />Ich schick Ihnen zur Ausfüllung einer vegetirenden Stunde nach dem Essen, eine kleine Romanze, die ich in einer eben so leeren Stunde gemacht habe.
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Piramus und Thisbe
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Der junge Piramus in Babel
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Hat in der Wand
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Sich nach und nach mit einer heissen Gabel
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Ein Loch gebrannt.
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Hart an der Wand, da schlief sein Liebchen,
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Die Thisbe hieß,
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Und ihr Papa auf ihrem Stübchen
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Verderben ließ.
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Die Liebe geht so, wie Gespenster,
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Durch Holz und Stein.
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Sie machten sich ein kleines Fenster
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Für ihre Pein.
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Da hieß es: liebst du mich? da schallte:
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Wie lieb ich dich!
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Sie küßten Stundenlang die Spalte
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Und meynten sich.
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Geraumer ward sie jede Stunde,
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Und manchen Kuß
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Erreichte schon von Thisbens Munde
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Herr Piramus.
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In einer Nacht, da Mond und Sterne
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Vom Himmel sahn,
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Da hätten sie die Wand so gerne
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Beyseits gethan.
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Ach Thisbe! weint er, sie zurücke:
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Ach Piramus!
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Besteht denn unser ganzes Glücke
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In einem Kuß?
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Sie sprach: ich will mit einer Gabe,
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Als wär ich fromm,
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Hinaus bei Nacht zu Nini Grabe,
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Alsdann so komm!
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Dies wird Papa mir nicht verwehren,
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Dann spude dich.
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Du wirst mich eifrig bethen hören,
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Und tröste mich.
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Ein Mann ein Wort! Auf einem Beine
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Sprang er für Lust:
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Auf Morgen Nacht da küß ich deine
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Geliebte Brust.
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Sie, Opferkuchen bei sich habend,
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Trippt durch den Hayn,
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Schneeweiß gekleidt, den andern Abend
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Im Mondenschein.
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Da fährt ein Löwe aus den Hecken,
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Ganz ungewohnt,
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Er brüllt so laut: sie wird vor Schrecken
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Bleich wie der Mond.
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Ha, zitternd warf sie mit dem Schleyer
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Den Korb ins Graß
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Und lief, indem das Ungeheuer
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Die Kuchen aß.
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Kaum war es fort, so mißt ein Knabe
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Mit leichtem Schritt
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Denselben Weg zu Nini Grabe –
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Der rückwärts tritt,
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Als hätt ein Donner ihn erschossen:
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Den Löwen weit –
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Und weiß im Grase hingegossen
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Der Thisbe Kleid.
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Plump fällt er hin im Mondenlichte:
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So fällt vom Sturm
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Mit unbeholfenem Gewichte
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Ein alter Thurm.
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O Thisbe, so bewegen leise
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Die Lippen sich,
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O Thisbe, zu des Löwen Speise
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Da schick ich mich.
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Zu hören meine treuen Schwüre
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Warst du gewohnt;
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Sey Zeuge, wie ich sie vollführe,
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Du falscher Mond!
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Die kalte Hand fuhr nach dem Degen
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Und dann durchs Herz.
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Der Mond fing an sich zu bewegen
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Für Leid und Schmerz.
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Ihn suchte Zephir zu erfrischen
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Umsonst bemüht.
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Die Vögel sangen aus den Büschen
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Sein Todtenlied.
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Schnell lauschte Thisbe durch die Blätter
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Und sah das Graß,
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Wie unter einem Donnerwetter,
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Von Purpur naß.
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O Gott, wie pochte da so heftig
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Ihr kleines Herz!
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Das braune Haupthaar ward geschäftig,
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Stieg himmelwärts.
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Sie floh – hier zieht, ihr blassen Musen,
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Den Vorhang zu!
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Dahinter ruht sie, Stahl im Busen:
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O herbe Ruh!
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Der Mond vergaß sie zu bescheinen,
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Von Schrecken blind.
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Der Himmel selbst fieng an zu weinen
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Als wie ein Kind.
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Man sagt vom Löwen, sein Gewissen
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Hab ihn erschröckt,
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Er habe sich zu ihren Füßen
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Lang hingestreckt.
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O nehmt, was euch ein Beyspiel lehret,
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Ihr Alten, wahr!
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Nehmt euch in Acht, ihr Alten! störet
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Kein liebend Paar.
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<note> < Auf einem beiliegenden Zettel > </note>
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Man sagt daß keine Frau dem Mann die Herrschaft gönnt;
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So nicht Frau Magdelone.
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Sie theilt mit ihm das Regiment:
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Behält den Zepter nur und lässet ihm die Krone.
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<date value="Fort Louis, Ende Mai 1772" />
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August Stöber: Der Aktuar Salzmann, Goethe’s Freund und Tischgenosse in Strassburg. Frankfurt am Main 1855, S. 64–71
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Reference in New Issue
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