mirror of
https://github.com/Theodor-Springmann-Stiftung/lenz-briefe.git
synced 2025-10-29 17:15:31 +00:00
Einpflegung von Brief 19 in "briefe.xml".
This commit is contained in:
@@ -1023,6 +1023,66 @@
|
||||
Fahren Sie fort mit Ihrer Gewohnheit für mich. –
|
||||
Lenz.</letterText>
|
||||
|
||||
<letterText letter="19">Landau, den 18ten. <line type="empty"/>
|
||||
Guter Sokrates!
|
||||
<line tab="1"/>„Ohne mich nicht ganz glücklich“ – Fürchten Sie sich der Sünde nicht, einen jungen Menschen stolz zu
|
||||
machen, dessen Herz noch allen Passionen offen steht und durch Zeit und Erfahrung nur noch sehr
|
||||
wenig verbollwerkt ist? Da ich so tief in Ihr System geguckt, da ich weiß, daß Ihre Religion die
|
||||
Glückseligkeit ist – so konnte mir kein größeres Compliment gemacht werden, als, daß ich im Stande
|
||||
sey, mit etwas dazu beyzutragen, wenn’s auch nur so viel ist, als ein Mäuschen zum Rhein. – Spaß bei
|
||||
Seite, die Glückseligkeit ist ein sonderbares Ding, ich glaube immer noch, daß wir schon hier in der
|
||||
Welt so glücklich seyen, als wir es nach der Einrichtung unseres Geistes und Körpers werden können.
|
||||
Die Tugend ist das einzige Mittel diese Glückseligkeit in ihrer höchsten Höhe zu erhalten und die
|
||||
Religion versichert uns, sie werde auch nach dem Tode währen und dient also dieser Tugend mehr zur
|
||||
Aufmunterung, als zur Richtschnur. Da kommt nun aber die verzweifelte Krankheit, von der Sie
|
||||
schreiben und wirft mir mein ganzes Kartenhaus über den Haufen. Allein sie muß doch auch wozu
|
||||
heilsam seyn, vielleicht, wie Sie sagen, ist sie das Fegfeuer unserer Tugend, wenigstens macht sie uns
|
||||
die Gesundheit desto angenehmer und trägt, durch den Contrast, also zu dem Ganzen unserer
|
||||
Glückseligkeit auch mit das Ihre bei. Wiewohl, ich habe gut philosophiren, da ich sie, dem Himmel sey
|
||||
Dank, schon seit so langer Zeit, bloß vom Hörensagen kenne. Ich bin jetzt auch von lauter Kranken
|
||||
eingeschlossen und denke dabei beständig an Sie. Wiewohl ich aus dem Schluß Ihres letzten Briefes
|
||||
zu meiner Beruhigung schließe, daß Sie jetzt wieder völlig hergestellt seyen. Sie werden von Herrn Ott
|
||||
hören, wie ich mich amusire. Wenig genug und doch sehr viel. Wenn man Käse und Brod hat,
|
||||
schmeckt uns die Mahlzeit eben so gut, als wenn das Regiment <aq>de Picardie</aq> traktirt, vorausgesetzt,
|
||||
daß wir in einem Fall, wie im andern, recht derben Hunger haben. Um also glücklich zu seyn, sehe ich
|
||||
wohl, werde ich künftig nur immer an meinem Magen arbeiten, nicht an der Mahlzeit, die ich ihm
|
||||
vorsetze. Die Umstände, in denen wir uns befinden, müssen sich schon nach uns richten, wenn wir
|
||||
selbst nur fähig sind, glücklich zu seyn. – Bin ich doch ganz Philosoph geworden, werden Sie nur über
|
||||
mein Geschwätz nicht von Neuem krank! Den Herrn Senior habe ich nur in seiner Kirche besucht und
|
||||
noch nicht recht das Herz, ihn näher kennen zu lernen. Den Rektor der hiesigen Schule hab ich in
|
||||
seinem Hause besucht und möchte wohl schwerlich wieder hingehen. Ich fragt’ ihn nach den hiesigen
|
||||
Gelehrten: er lachte. Das war vortrefflich geantwortet, nur hätte der gute Mann die betrübte
|
||||
Ahndung, die dieses Lachen bei mir erregte, nicht bestätigen sollen. Er beklagt sich über den
|
||||
Schulstaub und die häuslichen Sorgen – da, da, mein theuerster Freund, fühlte ich eine Beklemmung
|
||||
über die Brust, wie sie Daniel nicht stärker hat fühlen können, als er in den Löwengraben hinabsank.
|
||||
In seiner Jugend, sagt’ er, hätte er noch <aq>fait</aq> vom Studieren gemacht, jetzt – o mein Freund, ich kann
|
||||
Ihnen das Gemälde nicht auszeichnen, es empört meine zartesten Empfindungen. Den heiligen
|
||||
Laurentins auf dem Rost hätt’ ich nicht mit dem Mitleiden angesehen, als diesen– Märtyrer des
|
||||
Schulstandes, eines Standes, der an einem Ort wie Landau, mir in der That ein Fegfeuer scheint, aus
|
||||
dem man alle guten Seelen wegbeten sollte. Er hatte seine Bibliothek nicht aufgestellt, es waren
|
||||
bestäubte, verweste Bände, die er vermuthlich nur in seiner Jugend gebraucht – ausgenommen die
|
||||
allgemeine Welthistorie figurirte, in Franzband eingebunden, besonders. – Vielleicht daß ich da mich
|
||||
einmal bei ihm zu Gast bitte. Er scheint übrigens der beste Mann von der Welt – o Gott, eh’ so viel
|
||||
Gras über meine Seele wachsen soll, so wollt’ ich lieber, daß nie eine Pflugschaar drüber gefahren
|
||||
wäre. Jetzt bin ich ganz traurig, ganz niedergeschlagen, blos durch die Erinnerung an diesen Besuch.
|
||||
Nein, ich darf nicht wieder hingehen. Wie glücklich sind Sie, mein Sokrates, wenigstens glänzt eine
|
||||
angenehme Morgenröthe des Geschmacks in Straßburg um Sie herum, da ich hier in der ödesten
|
||||
Mitternacht tappend einen Fußsteig suchen muß. Keine Bücher! ha Natur, wenn du mir auch dein
|
||||
großes Buch vor der Nase zuschlägst (in der That regnet es hier seit einigen Tagen anhaltend), was
|
||||
werd’ ich anfangen? Dann noch über die Glückseligkeit philosophiren, wenn ich von ihr nichts als das
|
||||
Nachsehen habe? Doch vielleicht kriegt mich ein guter Engel beim Schopf und führt mich nach
|
||||
Straßburg. – – Meine Lektüre schränkt sich jetzt auf drey Bücher ein: Eine große Nürnbergerbibel mit
|
||||
der Auslegung, die ich überschlage, ein dicker Plautus, mit Anmerkungen, die mir die Galle etwas aus
|
||||
dem Magen führen und mein getreuster Homer. Ich habe schon wieder ein Stück aus dem Plautus
|
||||
übersetzt und werd’ es ehestens nach Straßburg schicken. Es ist nach meinem Urtheil das beste, das
|
||||
er gemacht hat (doch ich kenne noch nicht alle). Noch an eins möcht ich mich machen: es ist eine Art
|
||||
von Dank, den ich dem Alten sage, für das herzliche Vergnügen, das er mir macht. Ist es nicht reizend,
|
||||
nach so vielen Jahrhunderten, noch ein Wohlthäter des menschlichen Geschlechts zu sein?<line type="empty"/>
|
||||
|
||||
<line tab="1"/>Heut’ möcht’ ich Ihnen einen Bogen voll schreiben, aber ich besinne mich, daß das, was mir ein
|
||||
Präservativ für eine Krankheit ist, Ihnen leicht ein Recidiv geben kann. Ich bin ganz der Ihrige<line type="break"/>
|
||||
Lenz.</letterText>
|
||||
|
||||
|
||||
</document>
|
||||
</opus>
|
||||
|
||||
Reference in New Issue
Block a user