Einpflegung von Brief 19 in "briefe.xml".

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GregorMichalski
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Fahren Sie fort mit Ihrer Gewohnheit für mich.
Lenz.</letterText>
<letterText letter="19">Landau, den 18ten. <line type="empty"/>
Guter Sokrates!
<line tab="1"/>„Ohne mich nicht ganz glücklich“ Fürchten Sie sich der Sünde nicht, einen jungen Menschen stolz zu
machen, dessen Herz noch allen Passionen offen steht und durch Zeit und Erfahrung nur noch sehr
wenig verbollwerkt ist? Da ich so tief in Ihr System geguckt, da ich weiß, daß Ihre Religion die
Glückseligkeit ist so konnte mir kein größeres Compliment gemacht werden, als, daß ich im Stande
sey, mit etwas dazu beyzutragen, wenns auch nur so viel ist, als ein Mäuschen zum Rhein. Spaß bei
Seite, die Glückseligkeit ist ein sonderbares Ding, ich glaube immer noch, daß wir schon hier in der
Welt so glücklich seyen, als wir es nach der Einrichtung unseres Geistes und Körpers werden können.
Die Tugend ist das einzige Mittel diese Glückseligkeit in ihrer höchsten Höhe zu erhalten und die
Religion versichert uns, sie werde auch nach dem Tode währen und dient also dieser Tugend mehr zur
Aufmunterung, als zur Richtschnur. Da kommt nun aber die verzweifelte Krankheit, von der Sie
schreiben und wirft mir mein ganzes Kartenhaus über den Haufen. Allein sie muß doch auch wozu
heilsam seyn, vielleicht, wie Sie sagen, ist sie das Fegfeuer unserer Tugend, wenigstens macht sie uns
die Gesundheit desto angenehmer und trägt, durch den Contrast, also zu dem Ganzen unserer
Glückseligkeit auch mit das Ihre bei. Wiewohl, ich habe gut philosophiren, da ich sie, dem Himmel sey
Dank, schon seit so langer Zeit, bloß vom Hörensagen kenne. Ich bin jetzt auch von lauter Kranken
eingeschlossen und denke dabei beständig an Sie. Wiewohl ich aus dem Schluß Ihres letzten Briefes
zu meiner Beruhigung schließe, daß Sie jetzt wieder völlig hergestellt seyen. Sie werden von Herrn Ott
hören, wie ich mich amusire. Wenig genug und doch sehr viel. Wenn man Käse und Brod hat,
schmeckt uns die Mahlzeit eben so gut, als wenn das Regiment <aq>de Picardie</aq> traktirt, vorausgesetzt,
daß wir in einem Fall, wie im andern, recht derben Hunger haben. Um also glücklich zu seyn, sehe ich
wohl, werde ich künftig nur immer an meinem Magen arbeiten, nicht an der Mahlzeit, die ich ihm
vorsetze. Die Umstände, in denen wir uns befinden, müssen sich schon nach uns richten, wenn wir
selbst nur fähig sind, glücklich zu seyn. Bin ich doch ganz Philosoph geworden, werden Sie nur über
mein Geschwätz nicht von Neuem krank! Den Herrn Senior habe ich nur in seiner Kirche besucht und
noch nicht recht das Herz, ihn näher kennen zu lernen. Den Rektor der hiesigen Schule hab ich in
seinem Hause besucht und möchte wohl schwerlich wieder hingehen. Ich fragt ihn nach den hiesigen
Gelehrten: er lachte. Das war vortrefflich geantwortet, nur hätte der gute Mann die betrübte
Ahndung, die dieses Lachen bei mir erregte, nicht bestätigen sollen. Er beklagt sich über den
Schulstaub und die häuslichen Sorgen da, da, mein theuerster Freund, fühlte ich eine Beklemmung
über die Brust, wie sie Daniel nicht stärker hat fühlen können, als er in den Löwengraben hinabsank.
In seiner Jugend, sagt er, hätte er noch <aq>fait</aq> vom Studieren gemacht, jetzt o mein Freund, ich kann
Ihnen das Gemälde nicht auszeichnen, es empört meine zartesten Empfindungen. Den heiligen
Laurentins auf dem Rost hätt ich nicht mit dem Mitleiden angesehen, als diesen Märtyrer des
Schulstandes, eines Standes, der an einem Ort wie Landau, mir in der That ein Fegfeuer scheint, aus
dem man alle guten Seelen wegbeten sollte. Er hatte seine Bibliothek nicht aufgestellt, es waren
bestäubte, verweste Bände, die er vermuthlich nur in seiner Jugend gebraucht ausgenommen die
allgemeine Welthistorie figurirte, in Franzband eingebunden, besonders. Vielleicht daß ich da mich
einmal bei ihm zu Gast bitte. Er scheint übrigens der beste Mann von der Welt o Gott, eh so viel
Gras über meine Seele wachsen soll, so wollt ich lieber, daß nie eine Pflugschaar drüber gefahren
wäre. Jetzt bin ich ganz traurig, ganz niedergeschlagen, blos durch die Erinnerung an diesen Besuch.
Nein, ich darf nicht wieder hingehen. Wie glücklich sind Sie, mein Sokrates, wenigstens glänzt eine
angenehme Morgenröthe des Geschmacks in Straßburg um Sie herum, da ich hier in der ödesten
Mitternacht tappend einen Fußsteig suchen muß. Keine Bücher! ha Natur, wenn du mir auch dein
großes Buch vor der Nase zuschlägst (in der That regnet es hier seit einigen Tagen anhaltend), was
werd ich anfangen? Dann noch über die Glückseligkeit philosophiren, wenn ich von ihr nichts als das
Nachsehen habe? Doch vielleicht kriegt mich ein guter Engel beim Schopf und führt mich nach
Straßburg. Meine Lektüre schränkt sich jetzt auf drey Bücher ein: Eine große Nürnbergerbibel mit
der Auslegung, die ich überschlage, ein dicker Plautus, mit Anmerkungen, die mir die Galle etwas aus
dem Magen führen und mein getreuster Homer. Ich habe schon wieder ein Stück aus dem Plautus
übersetzt und werd es ehestens nach Straßburg schicken. Es ist nach meinem Urtheil das beste, das
er gemacht hat (doch ich kenne noch nicht alle). Noch an eins möcht ich mich machen: es ist eine Art
von Dank, den ich dem Alten sage, für das herzliche Vergnügen, das er mir macht. Ist es nicht reizend,
nach so vielen Jahrhunderten, noch ein Wohlthäter des menschlichen Geschlechts zu sein?<line type="empty"/>
<line tab="1"/>Heut möcht ich Ihnen einen Bogen voll schreiben, aber ich besinne mich, daß das, was mir ein
Präservativ für eine Krankheit ist, Ihnen leicht ein Recidiv geben kann. Ich bin ganz der Ihrige<line type="break"/>
Lenz.</letterText>
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</opus>