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@@ -681,25 +681,26 @@ Und doch muß ich meinen Entschluß vor Ihnen verbergen. –
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<letterText letter="38"><page index="1"/><align pos="right">Zürich, Mittw. den 31. Augstm. 1774.</align>
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<line tab="1"/>An Deinen Brief vom 12. Aug. den ich so gern weitläufig beantwortete; meine Umstände wollen’s nicht und ich muß mit Ernst nach einer laconischen Kürze ringen, sonst muß ich mir manche dergleichen Freuden, wie z. B. Briefe an Dich, versagen.
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<line tab="1"/>Von meinen Vorlesungen nichts mehr; sie sind gewiß nüzlich: aber ich sollte mehr wißen, vor mich und das Publikum, denn <aq>mundus vult decipi</aq>. O hätt ich Gelehrsamkeit genug, um mit mehr Ansehen zu zeigen, daß man ohne Gelehrsamkeit – Philosoph – Christ – Kenner des Geistes der Götti. Offenbarungen – glückselig seyn kann. –
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<line tab="1"/>Raisonnir mir, mein Liebster, über den Menschen so viel Du willst; nur vergiß künftig nie: daß, wenn der Mensch, das Menschengeschlecht – allenfalls in einem Zustande des Verfalls, der Krankheit ist, und aus diesem Gesichtspunkte angesehen wer· den muß, – daß dieß alsdann – in manches Urtheil vom Menschen gewaltigen Einfluß hat. So, wenn der Mensch <aq>krank</aq> ist, so darf man ihm Diätregeln vorschreiben, über die er sich nicht als eine grausame Einschränkung seiner Freyheit zu beschweren hat. Nimm, Lieber! den Begriff der menschlichen Freyheit aus dem Reich der Idealen herunter ins Reich unserer schlecht und rechten Wirklichkeiten! so wirst finden: Ohne Befehle und Verbote kannst kein Kind auferziehen; also Einschränkung der Freyheit. Es werde nur Liebe und Zutrauen zum Vater zum Grundtrieb gemacht. Wär’ nun Analogie zwischen Vater und Kind, und Gott und Menschen (und ich glaube es ist größer als man denkt) so muß <aq>geboten</aq> und <aq>verboten</aq> sein; nur liege auch da Liebe und Zutrauen zum Grund, sonst ist’s Sclaverey (und doch auch so wäre nur noch die wenigste, erträglichste und unumgänglichste Sclaverey wovon die Schuld nur <aq>einseitig</aq> ist).
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<line tab="1"/>An Deinen Brief vom 12. Aug. den ich so gern weitläufig beantwortete; meine Umstände wollen’s nicht und ich muß mit Ernst nach einer lakonischen Kürze ringen, sonst muß ich mir manche dergleichen Freuden, wie z. B. Briefe an Dich, versagen.
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<line tab="1"/>Von meinen Vorlesungen nichts mehr; sie sind gewiß nützlich: aber ich sollte mehr wißen, vor mich und das Publikum, denn <aq>mundus vult decipi</aq>. O hätt’ ich Gelehrsamkeit genug, um mit mehr Ansehen zu zeigen, daß man ohne Gelehrsamkeit – Philosoph – Christ – Kenner des Geistes der Göttl. Offenbarungen – glückselig seyn kann <aq>etc. etc.</aq>
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<line tab="1"/>Raisonnir mir, mein Liebster, über den Menschen so viel Du willst; nur vergiß künftig nie: daß, wenn der Mensch, das Menschengeschlecht – allenfalls in einem Zustande des Verfalls, der Krankheit ist, und aus diesem Gesichtspunkte angesehen werden muß, – daß dieß alsdann – in manches Urtheil vom Menschen gewaltigen Einfluß hat. So, wenn der Mensch <it>krank</it> ist, so darf man ihm Diätregeln vorschreiben, über die er sich nicht als eine grausame Einschränkung seiner Freyheit zu beschweren hat. Nimm, Lieber! den Begriff der menschlichen Freyheit aus dem Reich der Idealen herunter ins Reich unserer schlecht und rechten Wirklichkeiten! so wirst finden: Ohne Befehle und Verbote kannst kein Kind auferziehen; also Einschränkung der Freyheit. Es werde nur Liebe und Zutrauen zum Vater zum Grundtrieb gemacht. Wär’ nun Analogie zwischen Vater und Kind, und Gott und Menschen (und ich glaube es ist größre als man denkt) so muß <it>geboten</it> und <it>verboten</it> sein; nur liege auch da Liebe und Zutrauen zum Grund, sonst ist’s Sclaverey (und doch auch so wäre nur noch die wenigste, erträglichste und unumgänglichste Sclaverey wovon die Schuld nur <it>einseitig</it> ist).
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<line tab="1"/>Aber freylich hat Gott nicht so eingeschränkt, als der Eremit und die Nonne es wähnen; darüber, Liebster, sind wir ganz einig.
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<line tab="1"/>Weinen mögt ich mit Dir, wie die Mönchstugend tausend gute Samen in der Menschennatur erstickt. Ich irrte ehedem hierin auch sehr. Gott zog zurück. – „Christus hat nichts ausrotten wollen, was Kraft und Anlage im Menschen ist!“ Goldene – bestäubte verkannte Wahrheit! Aber, Liebster! wie manches Scrüpelchen, das Dir vielleicht doch mehr als recht ist, im Wege steht, müßt wegfallen, wenn wir uns nur einige Zeit sähen. Von d. Apocalypse izt nichts. Aber „draußen sind die Hunde <aq>etc.</aq>“ das ärgert dich? – Gibts einst eine Sammlung der Guten die sich einen Himmel machen, willst Du denn die Hunde wider drinnen haben, und die Ehebrecher? u. die Bösewichter? – In den Spital mit ihnen, und sie curirt mit scharfen Mitteln, wenns so seyn muß. pppp.
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<line tab="1"/>Weinen möcht ich mit Dir, wie die Mönchstugend tausend gute Samen in der Menschennatur erstickt. Ich irrte ehedem hierin auch sehr. Gott zog zurück. – „Christus hat nichts ausrotten wollen, was Kraft und Anlage im Menschen ist“? Goldene – bestäubte verkannte Wahrheit!
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<line tab="1"/>Aber, Liebster! wie manch’s Scrüpelchen, das Dir vielleicht doch mehr als recht ist, im Wege steht, müßt wegfallen, wenn wir uns nur einige Zeit sähen. Von d. Apocalypse izt nichts. Aber „draußen sind die Hunde <aq>etc.</aq>“ das ärgert dich? – Gibts einst eine Sammlung der Guten die sich einen Himmel machen, willst Du denn die Hunde wider drinnen haben, und die Ehebrecher? u. die Bösewichter? – In den Spital mit ihnen, und sie curirt mit scharfen Mitteln, wenns so seyn muß. pppp.
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<line type="break" />Donnerstag morgen um 7 Uhr.
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<line type="break" /><align pos="right">Donnerstag morgen um 7 Uhr.</align>
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<line tab="1"/>So eben empfang ich Deinen Brief an mich und <aq>Paß</aq>. und <aq>Clavigo</aq>.
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<line tab="1"/>Bin ich nicht ein gerechter Mensch, daß ich Clavigo liegen lasse und erst gehe den Brief an Dich zu vollenden?
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<line tab="1"/>Noch eins auf den vorletzten. Man hat’s in unseren Tagen besonders sehr schwierig machen, wie Jesus – und daß er nicht buchstäblich zu verstehen sey pp. und ist die Sache so simpel! – so schlecht und recht, so buchstäblich wie möglich, nur ohne Eulenspiegel-Chicane, alles in der Bahn des gemeinen <aq>bon sens</aq> – wie Kinder einen Vater verstehen. (Ausgenommen was seiner Natur nach räthselhaft seyn mußte, prophetisches und was er genirt war herauszusagen.)
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<line tab="1"/>Z.B., wenn ich Dir sagte, ich hab <it>Deinen Hofmeister</it> neulich gelesen – ich rathe Dir, schreib nichts mehr!“ (was ich aber weder in der gegenwärtigen, noch zukünftigen Welt nie zu Dir sagen werde). Nun sieh, wie simpel buchstäblich das zu verstehen wär. Wie gefiel uns nun folgendes Raisonnement (der neumodischen Theologen) darüber: „das könne unmöglich im eigentlichsten Wortverstande genommen werden, daß Du keine Feder mehr anrühren, keinen Brief u.s.w. <aq>schreiben dörfest u.s.w.</aq> also, weil’s nicht buchstäblich zu verstehen sey, so werde es sagen wollen, Du sollest eben keine Folianten mehr in Druck geben, bisweilen ein Drama habe just nichts zu sagen, es sey ja nicht buchstäblich zu verstehen – das nichts“ <aq>etc.</aq>
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<line tab="1"/>Lav. ist höchst vergnügt von seiner Reise zurückgekommen, hatte herrliche Seelen angetroffen – Engelseelen in weiblicher und männlicher Gestalt – die Dich, Bruder, mit der Welt aussöhnen würden. pp. Aber des Wiedersehens Wonne, o mein Lenz! – hättst Du auch einen Lavater, von dem Du Dich 10 Wochen trennen könntest, und ihn wiedersehen! – Sonst hast Du Lavatern, so sehr Du ihn haben kannst. Er spricht mit Enthuasiasmus von Lenzen. Und wir werden uns alle noch recht nahe kommen.
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<line tab="1"/>Noch eins auf den vorletzten. Man hat’s in unseren Tagen besonders sehr schwierig machen, wie Jesus – und daß er nicht buchstäblich zu verstehen sey pp. und ist die Sache so simpel! – so schlecht und recht, so buchstäblich wie möglich, nur ohne Eulenspiegel-Chicane, alles in der Bahn des gemeinen <aq>bon sens</aq> – wie Kinder einen Vater verstehen. (Ausgenommen was seiner Natur nach räthselhaft seyn mußte, prophetisches und was er genirt war herauszusagen).
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<line tab="1"/>Z. B., wenn ich Dir sagte, ich hab Deinen <it>Hofmeister</it> neulich gelesen – ich rathe Dir, <it>schreib nichts mehr!“</it> (was ich aber weder in der gegenwärtigen, noch zukünftigen Welt nie zu Dir sagen werde). Nun sieh, wie simpel buchstäblich das zu verstehen wär. Wie gefiel uns nun folgendes Raisonnement (der neumodischen Theologen) darüber: „das könne unmöglich im eigentlichsten Wortverstande genommen werden, daß Du keine Feder mehr anrühren, keinen Brief u.s.w. <it>schreiben</it> dörfest u.s.w. also, weil’s nicht buchstäblich zu verstehen sey, so werde es sagen wollen, Du sollest eben keine Folianten mehr in Druck geben, bisweilen ein Drama habe just nichts zu sagen, es sey ja nicht buchstäblich zu verstehen – das nichts“ <aq>etc.</aq>
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<line tab="1"/><aq>Lav.</aq> ist höchst vergnügt von seiner Reise zurückgekommen, hatte herrliche Seelen angetroffen – Engelseelen in weiblicher und männlicher Gestalt – die Dich, Bruder, mit der Welt aussöhnen würden. pp. Aber des Wiedersehens Wonne, o mein Lenz! – hättst du auch einen Lavater, von dem Du Dich 10 Wochen trennen könntest, und ihn wiedersehen! – Sonst hast Du Lavatern, so sehr Du ihn haben kannst. Er spricht mit Enthuasiasmus von Lenzen. Und wir werden uns alle noch recht nahe kommen.
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<line tab="1"/>Studierst Theologie? predigest? bist ordinirt? <aq>etc.</aq> Sag mir was hievon. Schick mir auch Deine und Röderers <aq>Silhouettes</aq>. Grüß mir ihn brüderlichst. <aq>Paß</aq>. wird selbst schreiben.
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<line tab="1"/>Wie verstehst das „Was Gott an Goethe getan –“? Doch versteh ich’s vielleicht, wenn ich <aq>Clavigo</aq> gelesen habe.
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<line tab="1"/>Wie verstehst das „Was Gott an Goethe gethan –“? Doch versteh ich’s vielleicht, wenn ich <aq>Clavigo</aq> gelesen habe.
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<line type="break" />Verzeih mein Sudeln. Mein Kopf und Herz und Hand sudeln bisweilen.
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<line tab="1"/>Siehst meine offenen Arme? Komm ich drücke Deine Brust an meine, und küsse Dich! Kannst beten, so bitt auch für mich.
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<line type="break" /><align pos="right"><aq>Conr. Pfenninger.</aq></align>
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<line type="break" />Deine Schriften erwart’ ich mit Verlangen. Es ist kein Zürcher so verliebt darein, wie ich.
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<line type="empty" /><align pos="center"><note>Adresse:</note></align>
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<line type="break" /><address>Herrn <aq>Lenz</aq> durch Herrn <aq>Candid. Röderer</aq>, neben der Neu Kirch in Straßburg.</address>
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