Einpflegung von Brief 82.

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GregorMichalski
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Consistorialrath<line type="break"/>
in <ul>Bückeburg.</ul></letterText>
<letterText letter="82">Den 18ten November. 75. <line type="empty"/>
Mein Vater! <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Unaussprechl. glücklich haben Sie mich durch Ihren Brief gemacht und durch die Zeilen meiner
Mutter. Fahren Sie fort, ich bitte Sie auf den Knien, mir ein zärtlicher Vater zu bleiben, Sie mögen
sehen und hören von mir was Sie wollen. Weisen Sie mich aufs strengste zurecht, Sie, meine Mutter,
meine lieben Geschwister; alles dient, alles frommt, und von Ihrer Hand mein Vater, die ich mit
Thränen benetze, alIes <ul>doppelt und vierfach.</ul> Fodern Sie aber nicht, daß ich auf alles antworte,
es müßte mich <ul>zu weit</ul> führen. Umstände verändern die Sache, ich kann nicht mehr sagen, aber
alles, was Sie mir schreiben, was mir meine Mutter schreibt, sind güldene Aepfel in silbernen
Schalen. Lange lange hab ich die Züge dieser Mutterhand mit stummer Innbrunst an meine Lippen
gehalten und in Gedanken war ich bey Ihnen und fühlte Ihre seegnenden Küsse an meinen Wangen.
Ach wie viel haben Sie mir in diesem Augenblick geschenkt. Sie sind also wieder mein,
Sie lieben mich noch. <line type="empty"/>
<sidenote pos="left" page="1" annotation="am linken Rand, vertikal">
Durch zwey Freunde die diesen Brief bis Leipzig bringen. Millionen Neujahrswünsche! Grüße an
alle gute Freunde, alle. Wie kann sie der Brief auch fassen. </sidenote> <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Und sind nicht abgebrannt und sind so gesund daß Sie mir schreiben können und sind so gerecht,
daß Sie mich außer Landes nicht durch Gewaltsamkeiten nach Hause ziehen wollen, so lang ich den
innern Beruf dazu nicht habe. Das ist mein höchster Wunsch gewesen. Wir sind in allen Stücken
<ul>einerley Meinung,</ul> beste Eltern, die Zeit wirds lehren. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Wenn man zu einem Ziel schwimmen soll und Wasser liegt vor einem, muß man das Wasser nicht
durcharbeiten? Trockenes Fußes konnten nur die Israeliten durchs rothe Meer gehen, als Gott der
Herr noch Wunder that. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Sie thun Herdern unrecht, er ist <ul>kein Socinianischer Christ.</ul> Lesen Sie doch ich bitte Sie seine <ul>Urkunde</ul>
über das erste Kapitel I B. M. und seine Erläuterungen des Neuen Testaments. Er kommt als Professor
der Theologie nach Göttingen. Haben Sie ein klein Büchelgen gelesen: Meynungen eines Layen zum
Besten Geistlichen. Der Verfasser ist nicht bekannt. <line type="empty"/>
<sidenote pos="left" page="1" annotation="am linken Rand, vertikal">
Wenn Sie können, lassen Sie sich die <ul>Iris</ul> eine periodische Schrift fürs Frauenzimmer kommen. Die
Frau geheime Staatsräthin Ia Roche, eine der ersten Frauen des Jahrhunderts, schreibt die
freundschaftl. Briefe darinn, die Oper Erwin und Elmire ist von Goethen, die Uebersetzung des
Ossians von mir.</sidenote> <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ihr Rath in Ansehung Strasburgs ist noch zur Zeit unausführbar; doch schwöre ich für die Zukunft
nicht. Wenigstens schmeichelt mir die Freundschaft einer ganzen Stadt (die im Grunde mich allein
ernährt) so sehr, daß ich sehr vortheilhafte Anträge von andern Orten wie mich dünkt mit Recht
ausgeschlagen habe. <aq>Patria ubi bene.</aq> Doch hat es mich freilich Sorgen und Nachtwachen gekostet, es
dahin zu bringen und noch jetzt, ich schwör es Ihnen, sind die Wißenschaften und das Theater selbst
nur meine Erholung. <line type="empty"/>
<sidenote pos="left" page="1" annotation="am linken Rand, vertikal">
Was sagen Sie zu Lavaters Physiognomik? Haben Sie meinen Brief durch H. v. Medern nicht erhalten?
Und können L. etwan bey Edelleuten um Dörpt herum Subskribenten verschaffen. Es ist freil. theuer,
doch haben hier in Str. ganze Gesellschaften zusammen das Werk gekauft.</sidenote> <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Vielleicht thue ich auf den Frühjahr eine Reise nach Italien und Engelland in Gesellschaft eines
reichen jungen Berliners (unter uns des Sohns des Münzjuden Ephraim) doch kränkt michs, daß ich
den Hang dieses sonst so vortreflichkarakterisirten Menschen zu einer unüberlegten Verschwendung
so stark sehe. Wer kann etwas vollkommen unter dem Monde wünschen. Und Gott der mich ich muß es
dennoch wiederholen durch so viel geführt hat, bleibt meine Zuversicht. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Herr v. Kleist ist wieder bey seinem Vater (durch meine lntriguen) um haushalten zu lernen. Daß ich
von seinen hiesigen Verschwendungen keinen gar keinen Vortheil gehabt, daß er mich vielmehr
bishero nur noch mit Versprechungen für alle mit ihm übernommene Müh u. Leiden belohnt hat,
weiß der droben ist bitte ich aber, <ul>beschwöre</ul> ich Sie dennoch, für sich zu behalten. Was
uns hier entzogen wird, kommt uns an einem andern Orte wieder Ans Heyrathen kommt mir
noch kein Gedanke, es war Sturm der Leidenschaft der mich Ihnen die Briefe schreiben
machte, die itzt in Freundschaft sehr ernsthafte Freundschaft verwandelt worden, aber
nie wieder Liebe werden kann. Ich hatte damals nichts auf der ganzen Welt, an das ich
mein Herz hängen konnte, meine Freundin war im nehml. Fall, unsere Herzen verschwisterten
sich, ihren harten Stand einander erträglicher zu machen. Entfernung u. Umstände haben
auf beyden Seiten vieles verändert, meine Dankbarkeit und Freundschaft aber bleibt
ihr ewig. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Meinen lieben lieben kritischen Moritz und sein dickes drolligtes rundes Weib küssen und seegnen
Sie doch von mir. Sagen Sie ihm, Goethe könnte und müßte in Absicht seiner Sprache nur von seinen
nächsten Landesleuten beurtheilt werden, und so lang Deutschland noch keine allgemeine Sprache
hat, müsse er entfernten Provinzen noch solitär scheinen. Ich bitte mir aber dereinst sein Urtheil
über meine <ul>Soldaten</ul> aus, die jetzt in Herders Händen liegen und noch wohl ein Jahr liegen
dürfte, weil ich nicht eben gut finde damit ins Publikum zu eilen. Und meine liebe Märtyrin Lieschen?
War das der omineuse traurige Abschied den sie mir gab. Sagen Sie ihr, daß „<ul>Leiden</ul> das große
Geheimniß unserer Religion sey. Und daß ich für sie grüßen Sie den Tarwaster und sein liebes
Weibgen. Goethe hält besonders viel auf ihn. Vor allen Dingen aber vergessen Sie nicht meinen
lieben Bruder Christian. Daß er doch mir näher käme Ich werde Sie alle noch einmal sehen hier,
hier, wünsche, glaube, vertraue ich. Sie mein Vater, Sie meine Mutter ich werde Gott schauen. <line type="empty"/>
J M R Lenz. <line type="empty"/>
<sidenote pos="left" page="1" annotation="am linken Rand, vertikal">
Klopstocks Republik ist eine verborgene Geschichte und Gesetzbuch der deutschen Dichter und der
deutschen Kritik. Alle diese Dunkelheiten waren nothwendig, nur niemand öffentl. zu beleidigen.</sidenote> </letterText>
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<date value="Straßburg, 18. November 1775" />
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