Files
lenz-briefe/data/xml/briefe.xml
2024-11-04 09:31:15 +01:00

2865 lines
237 KiB
XML
Raw Blame History

This file contains ambiguous Unicode characters

This file contains Unicode characters that might be confused with other characters. If you think that this is intentional, you can safely ignore this warning. Use the Escape button to reveal them.

<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?>
<opus>
<document>
<letterText letter="1">
<page index="1" /> Hoch Edelgeborner Hochgelahrter Herr <aq>Secretair</aq> <line type="break"
tab="7" /> Verehrungswürdigster Gönner! <line tab="7" />
<line type="empty" /> Ew.
HochEdelgebh: haben mich durch die neue Probe von Dero schätzbaren Gewogenheit ausserorndtlich
beschämt. Meine Feder ist zu schwach, Denenselben die regen Empfindungen meines Herzens
darüber zu schildern. Ich weiß Ew. HochEdelgebh: meine Dankbegierde auf keine andere Art an
den Tag zu legen, als daß ich meine gestrigen Wünsche für Dero Wohlseyn wiederhole, und die
gütige Vorsicht um die Erhörung derselben anflehe. Der Herr überschütte Dieselben und Dero
wertes Haus im künftigen Jahr mit tausend Seegen und Heil. Er erhalte Ew. Hoch Edelgebh: bis
zu den spätesten Zeiten im ersprießlichsten Wohlergehen. Er bewahre Ew. HochEdelgebh: für alle
widrige Zufälle in den künftigen Jahren, und <page index="2" />lasse mich noch lange das Glück
genießen, Dieselben in dem blühendsten Wohlstande zu sehen, und mich mit dem erkenntlichsten
Herzen nennen zu dürfen <line type="empty" /> Hoch Edelgeborner Hochgelahrter Herr <aq>
Secretair</aq> <line type="break" tab="7" /> Verehrungswürdigster Gönner <line type="break"
tab="7" /> Ew. Hoch Edelgebh: <line tab="7" />
<line type="empty" /> gehorsamsten Diener <line
type="break" tab="7" /> JLandau, den 7. September.
So wenig Zeit mir auch übrig ist, so muß ich Ihnen doch sagen, daß ich Sie in Landau noch eben so hoch schätze, ebenso liebe, als in Fort-Louis. Unser Marsch war angenehm genug: vor Tage zu Pferde, und vom Mittag, bis in die Nacht gerastet. Ich möchte so durch die Welt reisen. Weißenburg hat mir gefallen, die dortige Schweizergarnison glich den Priestern der Cybele, so erfreute sie die Ankunft eines deutschen Regiments. Landau kann in der That das Schlüsselloch von Frankreich heißen, da es nur zween Thore hat, eins nach vorne, das andere nach hinten. Unsern Ausgang segne Gott, unsern Eingang Ich wohne bei einem Herrn Schuch, der ein naher Verwandter vom Herrn Türkheim seyn will. Seine Frau und er spielen mir alle Abende Komödie, wobei mein Herz mehr lacht, als bei allen Farcen des Herrn Montval und Ribou. Er ist ein gutwilliger Schwätzer, gegen seine Frau, ein rechter Adventsesel und auch gegen die Füllen bei ihr. Sie trägt Hosen und Zepter, eine Teintüre von Andacht und koketter Prüderie in der That, meinen kleinen Plautus hinterdrein gelesen und ich brauche kein Theater. Melden Sie mir doch, was das Ihrige in Straßburg macht und ob dort kein deutsches zu erwarten sei. Beim Herrn Senior, der fast die alleinige Materie des Gesprächs meiner Wirthsleute ist (ausgenommen den gestrigen vortrefflichen Abend, wo wir lauter Haupt- und Staatsaktionen ausmachten) bin ich noch nicht gewesen. Der Bürgermeister Schademann soll schon seit geraumer Zeit todt seyn. Vielleicht erlange ich die Bekanntschaft seines Sohnes, der sehr reich sein soll. Ein Rektor bei der hiesigen Schule, der im Kloster einen Sohn hat, der schon Magister ist (wo mir recht ist, hab ich ihn dort gesehen) soll eine gute Bibliothek haben: da muß ich suchen unterzukommen. Seyen Sie doch so gütig und schreiben mir in Ihrem nächsten Briefe den Namen des Churfürsten von der Pfalz; wie auch den Charakter und die Adresse des Herrn Lamey, ein Name, den ich in Straßburg oft gehört. Sie lachen wozu das? Nun, nun, es hat nichts zu bedeuten, ein guter Freund hat mich um beide in einem Briefe ersucht. Einen Nachmittagsprediger habe ich hier gehört, der keine Pfeife Toback werth vorgebracht. Ich ging nach Hause und las Spalding, vom Werth der Gefühle im Christentum. Welch ein Kontrast! Dieses Buch müssen Sie auch lesen, mein Sokrates! es macht wenigstens Vergnügen zu finden, daß Andere mit uns nach demselben Punkt visiren. Ich freue mich, daß man in einem Tage von hier nach Straßburg kommen kann, wer weiß wenn ich Sie überrasche. Fahren Sie fort mit Ihrer Gewohnheit für mich.
Lenz.
acob Michael Reinhold Lenz <line tab="7" />
<line type="empty" />
Von Hause, d. 2 Jenner, 1765. </letterText>
<letterText letter="2">
<page index="1" /> Bester Bruder! <line tab="2" /> Wie kann ich einen Augenblick anstehn, Dir
bey der freudigsten Begebenheit Deines Lebens ein Bruderherz auszuschütten, das von Seufzern
und Tränen wallet! Ich preise die Vorsicht mit Dir, die Dir die liebenswürdigste Gattin
zuführt und unsere Familie in einem Jahre mit sovielem Glück überhäuft, daß wir für gar zu
großer Freude wie betäubt sind und nichts als jauchzen und stammeln können. So sind denn nun
Deine Wünsche erfüllt: so schmeckest Du nun zum erstenmal alles Süße, alles Entzückende einer
Liebe, die keine Angst, kein Kummer, keine Träne verbittert. So belohnt denn die ächte, die
reine, die wahre Zärtlichkeit endlich einmal ein Herz, das nur für sie geschaffen war und das
schon von Jugend auf sich heimlich nach einem Gegenstande hat sehnen müssen, dem es sich ganz
überlassen könnte. 0 gütige Vorsicht! so erhöre denn alle unsere Wünsche, alle unsere Tränen,
für dies Paar, das du selbst durch wunderbare Wege geknüpft hast. Lebe, liebster Bruder! lebe
lange, lebe glücklich in den Armen Deiner Cristinchen: seyd ein Muster der schönsten Ehe, ein
Trost Eurer für Freude weinenden Eltern, eine Freude Eurer Geschwister: jeder Eurer Tage müsse
mit neuem Entzücken für Euch geschmückt seyn, jedes Eurer Jahre müsse so heiter hinfließen,
wie ein Bach, der durch Rosen fließt. Nie müsse ein Gram Eure Seele umwölken, nie müsse ein
Elend euch niederschlagen, da es euch nicht mehr allein, sondern verbunden, von der Hand
Gottes verbunden, trifft, da eure Zärtlichkeit und eure Küsse euch trösten und selbst im
Unglück beglücken werden. Eure Liebe sey so feurig, so rein, aber auch so unauslöschlich, wie
das Feuer der Vesta: sey so dauerhaft, als ein Felsen, auf den das Meer vergeblich loßstürmt:
eure Liebe lebe mit euch, sie leide mit euch: ihr werdet zwar sterben, aber eure Liebe wird so
wie eure abgeschiedenen Seelen ewig währen, sie wird um euer Grab wachsen, und so wie eure
Seelen dereinst wieder mit euren Körpern vereinigt werden; alsdann kann kein Tod sie mehr
aufhalten, alsdann dauert sie bis in undenkbare Aeonen. <line type="empty" /> Ich seh euch
schon im Geist, ihr liebenswerthen Beyde, <line tab="5" /> Ihr wandelt Hand in Hand durch
Tarwasts frohe Flur. <line tab="5" /> Aus euren Mienen lacht nur Freude, <line tab="5" /> Und
reine Lust und Lieb und Unschuld nur. <line tab="5" /> Euch wird der Lenz sich jetzo schöner
schmüken, <line tab="5" /> Ihr findt ihn auf der Flur, findt ihn in euren Bliken. <line
tab="5" /> Euch wird der Bach jetzt mit mehr Anmuth rauschen, <line tab="5" /> Mit froherm
Ohr werdt ihr aufs Lied der Wälder lauschen, <line tab="5" /> <page index="2" /> Und mit
entzükterm Blick, werdt ihr von goldnen Höhn, <line tab="5" /> Die Morgensonn zur Erde lächeln
sehn. <line tab="5" /> Und weht der stürmsche Herbst und tobt der kalte Winter <line tab="5" />
So wird nur euer Herz und eure Lieb entzündter; <line tab="5" /> Im ländlich stillen Sitz
werdt ihr, auch ganz allein, <line tab="5" /> Auch unter Schnee und Sturm, euch durch euch
selbst erfreun: <line tab="5" /> Und wird denn in der Stadt der Tag zu trübe seyn, <line
tab="5" /> Dringt ihm die Nacht zu früh herein, <line tab="5" /> Wird er des Abends Länge
scheun: <line tab="5" /> Dann werdet ihr bei sanftem Lampenschein <line tab="5" /> Euch selbst
Gesellschaft, Lust und Scherz und Frühling seyn. <line tab="5" /> Wird euch ins künftige ein
neues Glüke lachen, <line tab="5" /> So werdet ihr vereint, es euch noch süßer machen: <line
tab="5" /> Und naht ein Unglückssturm euch zärtlichen Erschroknen, <line tab="5" /> So wird
des einen Trän des andern Tränen troknen. <line tab="5" /> Und einst wenn Jahre euch, wie Tage
hingeflossen, <line tab="5" /> Und ein unschuldig Kind hält eure Knie umschlossen <line
tab="5" /> Und stammelt seinen Segen euch: <line tab="5" /> Dann ist nicht Ehr und Gold,
dann ist nicht Thron und Reich <line tab="5" /> Dann ist kein Glük dem euren gleich. <line
tab="5" /> Dann soll sich eur Geschlecht dem unsrigen begegnen <line tab="5" /> Und unsre
grauen Eltern seegnen: <line tab="5" /> Dann wollen wir uns freun, wie sich ein Engel freut, <line
tab="5" /> Voll Wehmut und voll Zärtlichkeit, <line tab="5" /> Voll Wonne und voll
Dankbarkeit. <line tab="5" /> Und werden einst … Gedank voll Bitterkeit! <line tab="5" />
Und werden einst sich eure Augen schließen, <line tab="5" /> (Doch dann erst, Gott! wenn sie
das Alter halb schon schließt) <line tab="5" /> Dann drükt mit traurigen und doch noch traurig
süßen, <line tab="5" /> Und euch im Tod noch angenehmen Küssen <line tab="5" /> Euch eure
Augen zu. O Bild voll Schmerz! Dann fließt! <line tab="5" /> Ihr Tränen meiner Wang, fließt
um sie! Dann begießt <line tab="5" /> Ihr mir geliebtes Grab, aus seiner Erde schießt <line
tab="5" /> Dann eine Ros herfür, die traurig reizend blühet, <line tab="5" /> In der mein
Aug das Bild von ihrer Ehe siehet. <line tab="5" /> Dann sag ich doch mein Lied, zu
traurig Lied! halt ein! <line tab="5" /> Sonst muß ich dieses Blatt mit Tränen überstreun. <line
tab="5" />
<line type="empty" />
<note>vertikal am linken Rand</note> Ich umarme Dich und
küsse Dich 1000mahl als Dein <line type="break" /> allergetreuester Bruder <line type="break" />
Jacob Michael Reinhold Lenz.<line type="break" /> Dorpat den 11ten October 1767. </letterText>
<letterText letter="3">
<page index="1" />
<align pos="center">Verehrungswürdigste Eltern! </align>
<line type="empty" />
<line
type="empty" />
<line type="empty" /> Nach einer langsamen und ziemlich beschwerlichen Reise
sind wir endlich am verwichenen Mittwochen Nachmittags um zwey Uhr glüklich und gesund zu
Tarvast angekommen. Der Weg ist fast <aq>inpassabel</aq>, und die ersten Tage hatten wir
ungemein starke Stürme und Regen. Wir wurden von der Wittwe recht artig aufgenommen und
speiseten den ersten Abend mit dem Lieutenant Krüdner von Arrohoff und seiner Gemahlin, die
sich Ihnen empfehlen ließen und mit dem Rittmeister Pietsch und der Fräulein Krüdner. Wir
werden auch noch immer zum vor und nachmittäglichen Kaffee und zur Mahlzeit herein gebethen,
weil der älteste Bruder mit seiner Wirtschaft noch nicht völlig im Stande ist und wir erst mit
dem Anfange der künftigen Woche unsre eigne <aq>Menage</aq> <page index="2" />anfangen wollen.
Die Wittwe ist eine <aq>simple</aq> Frau mit der der Umgang ziemlich langweilig wird: aber die
Kinder sind rechte Unholde, und ich habe sie noch in meinem Leben so ungezogen nicht gesehen.
Die jüngere Tochter strich ohne uns zu grüßen mir wie ein Wirbelwind vorbey und nahm ihren Weg
gerade nach dem Tisch zu, auf den sie mit einem Satz sich heraufschwung und die Älteste machte
es eben so, nur mit dem Unterschied daß sie bei jedem Schritt eine Art von Kniks machte, wie
ihn ihr die Natur gelehrt hatte. Bey Tisch schreyt alles so untereinander, daß wir stumm seyn
müssen, weil wir unser Wort nicht hören können. Der Bruder läßt sich recht sehr entschuldigen,
daß er nicht mitgeschrieben: er ist von Morgen bis Abend zu mit Arbeiten und Bräutigammen und
Lehrlingen überhäufft, überdem auch mit seiner Wirthschaft beschäftigt, mit der es noch nicht
in<page index="3" /> den Gang kommen will, weil die alte Jungfer noch immer Rasttage hält und
überhaupt ein bisgen unlustig ist, weil sie, wie sie sagt und sich einbildt, unter lauter
Feinden hier leben muß. Er befindet sich aber sonst nach der Reise, so wie auch ich und die
Jungfer, Gottlob recht gesund und läßt Sie, das junge Paar und alle Geschwister aufs
ehrerbietigste und zärtlichste grüßen. Ich bitte gleichfalls den Neuverbundnen und allen
Geschwistern meinen zärtlichsten Gruß zu vermelden und küsse Ihnen die Hand als <line
type="empty" /> Meiner verehrungswürdigsten Eltern <line type="empty" />
<line type="empty" />
gehorsamster Sohn <line type="break" /> Jacob Michael Reinhold Lenz Tarwast den 9ten November
1767. <note>am linken Rand, vertikal</note> Der Frau Obristin und ihrem würdigsten Hause, wie
auch dem Herrn Pastor Oldekopp bitte unser beyder gehorsamste Empfehlung zu machen und
letzterem zu seinem Namenstage zu gratuliren. Ich werde meine Kur erst mit der künftigen Woche
anfangen und mache mir deswegen in der jetzigen bisweilen eine <aq>Motion</aq>, mit Reiten und
Spazierengehen. Auf den Sonntag wird der Bruder teutsch predigen. <page index="4" />
<note>
Adresse</note> Dorpat. <line type="empty" />
<line type="empty" />
<line type="empty" />
<aq>A
Monsieur Monsieur <ul>Lenz</ul> Prevot ecclisiastique et Ministre du St. Evangile a leglise
de St. Jean </aq>
</letterText>
<letterText letter="4">
<page index="1" />
<align pos="center">Verehrungswürdigster Herr Papa!</align>
<line
type="empty" />
<line
type="empty" />
<line type="empty" /> Ich weiß nicht, ob der Bruder bey seinen
Amtsgeschäften, Catechisiren etc. Zeit haben wird, an Sie zu schreiben: ich nehme mir also die
Freyheit, Ihnen abermals von dem was uns angeht, gehorsamst Nachricht zu geben. Der Bruder ist
wie gesagt, sehr beschäftigt, befindet sich aber bey seinen Arbeiten noch immer Gottlob! recht
gesund und vergnügt. Auch mir bekommt meine Kur recht gut und außer der kleinen
Unbequemlichkeit, die mir der <aq>Diät</aq>, das Warmhalten, das Laxieren u. dgl. <page
index="2" />machen, bin ich hier so vergnügt, wie man es in der Einsamkeit sein kann. Ich
lese, oder schreibe, oder studire, oder tapeziere oder purgiere, nachdem es die Noth erfodert.
Uebrigens hoffen und wünschen wir beyde von ganzem Herzen, daß dieser Brief sowohl Sie, als
meine hochzuehrende Frau Mamma recht gesund, vergnügt und zufrieden antreffen möge. <line
tab="1" /> Doch! eine Bitte, gütigster Herr Papa! zu der mich die Noth und Dero väterliche
Gewogenheit berechtigen. Ich habe bey der neulichen Herreise empfunden, wie wenig ein bloßer
Roquelor bey Reisen in kühler und windiger Witterung vorschlage. Ich kann mir also leicht
vorstellen, wie es anziehen muß, wenn man im Winter im bloßen Mantelrock reiset. Ich weiß
wirklich nicht, wie ich einmal nach Derpt zurückkommen oder falls des Bruders Hochzeit im
Janauar seyn sollte, zu der er mit seiner Equipage mich mitnehmen will, wie ich die Reise
dorthin werde thun können. Ueberdem ist mir ein Pelz allezeit nöthig: ich nehme mir also die
Freyheit, Sie ganz gehorsamst zu bitten, ob sie mir nicht könnten für 3 Rubel das Futter dazu,
nämlich einen Sak <insertion>schwarzen</insertion> Schmaßchen aus den Russischen Buden
ausnehmen lassen. Das Oberzeug darf nur Etemin seyn: und da Sie in dieser Zeit sich <page
index="3" />ohnedem ausgegeben haben, <insertion>so</insertion> daß ich mich billig gescheut
haben würde, mir von Denenseiben was gehorsamst auszubitten, wenn mich nicht die Noth zwänge:
so könnte es ja solange in Peukers Bude auf Conto gesetzt werden, bis es Ihnen weniger
beschwerlich fiele, das Geld dafür zu bezahlen. Ich überlasse dies übrigens ganz Ihrer eigenen
gütigen Disposition und werde mich auch alsdenn zufrieden geben, wenn die Umstände es für
diesmal nicht erlauben sollten. <line tab="1" /> Uebrigens küsse ich Ihnen und meiner besten
Mamma ganz gehorsamst die Hand und bin nach 1000 Grüßen an allen meine Geschwister und nach
gehorsamen Empfehl an die Frau Obristin Albedille nebst Ihrem ganzen würdigsten Hause, an den
Herrn Pastor Oldekopp und alle übrige Gönner und Freunde <align pos="right">Meines
verehrungswürdigsten Herrn Papas</align>
<line type="empty" />
<line type="empty" />
<align
pos="right">gehorsamster Sohn <line type="break" /> Jacob Michael Reinhold Lenz. </align>
Tarwasts Pastorath den 24ten November 1767 <page
index="4" /> P. S. Der Bruder läßt sich nochmals gehorsamst entschuldigen, daß er diesmal
nicht mit geschrieben. Er hat gestern den ganzen Tag mit Brautsleuten und Lehrlingen zu thun
gehabt, gestern abend um 12 Uhr in aller möglichen Eile noch nach Reval geschrieben, welchen
Brief er gehorsamst zu bestellen bittet und ist heut früh schon bey dem scharfen Frost den wir
seit einiger Zeit gehabt haben und bey dem Schnee und Sturm der verwichenen Nacht,
catechisiren mit Schlitten gefahren. Er läßt unterdessen Ihnen und seiner würdigsten Frau Mama
seinen kindlichen Handkuß und allen seinen Geschwistern besonders dem jungen Paar, wie auch
allen guten Freunden seinen zärtlichsten Gruß versichern. <line tab="1" />
<note>Friedrich
David Lenz Hand</note>
<hand ref="3">P. S. Theurester Papa. Diesen Augenblick komme von der
Catechesation. Von 8 Uhr heute Morgen bis 4 Uhr Nachmittag habe ich in der Kälte zugebracht,
und bin vom Frost und Ungestüm so durchgenommen, daß ich kaum die Fingern rühren kann. Ich bin
sonst Gottlob gesund, und werde mich innigst freuen, wenn Sie und meine geliebteste Frau Mama
es auch sind. Sie haben doch meiner gehorsamsten Bitte gemäß schon nach Reval an meine
Schwieger-Eltern geschrieben, und für mich eine Vorbitte in puncto der Hochzeit im Januario
eingelegt? 100000 Grüße und Küße an <insertion>Sie beyde verehrungswürdigten</insertion> alle
Geschwister Freunde und Gönner von Ihrem gehorsamsten Sohn. F. D. Lenz. Mit steifen Fingern </hand>
</letterText>
<letterText letter="5">
<page index="1" />
<align pos="center">Mein liebstes junges Paar!</align>
<line type="empty" />
<line
type="empty" />
<line type="empty" /> Wie sind Sie angekommen? Wieviel Glieder und Sinne
haben Sie noch übrig? (denn Ihren Leuten wird wohl Verstand und alle Sinne erfroren seyn). Wie
haben Sies zu Wasser und zu Lande gehabt? Sind Sie auch geirret? Und wie haben Sie alles zu
Hause gefunden? Wie lassen sich die Schwedischen Reichsräthe an? Und wie gefällt Ihnen, meine
liebe junge Frau, das einsame Tarwast? <line tab="1" /> Zum andern befinden wir uns alle so,
wie Sie uns gelassen haben. Papa ist Papa, und Mamma ist Mamma, und Moritz und seine Frau und
alle übrige sind gesund und vergnügt, und ich, ich sey Jakob. <line tab="1" /> Zum dritten,
vierten und zehnten habe ich auch die Ehre zum Geburstag zu gratuliren und zu wünschen <aq>
mmmmmmm</aq> und wieder der Herr <aq>mmmmm</aq> und wieder der Heiland <aq>mmmmm</aq> und
wieder sitzo. <note>am linken Rand, vertikal</note> Mamma bittet den Sak zurück in welchem
Dein Junge Salz mitgenommen hat. Sie grüßet Sohn und Tochter aufs zärtlichste und bittet sehr
um angeführten Sak. <page index="2" /> Oder besser: ich wünsche auch, daß Sie möchten zu einer
glüklichen Stunde geboren seyn ….. und nicht nur dieses sondern viele folgende zu erleben und
mit Gesundheit zu verzehren. <line tab="1" /> Oder dito feiner: Wünsche auch, daß der
barmherziger Gott verleihen wolle einen kräftigen Geist des <aq>Danielis</aq> und wenn es
sollte dermaleinst zum Jahre des Nestors kommen, dieselben; Sie gehen nimmer aus meinem
Gemüthe weg. Anbey wünsche auch daß in künftiger Zeit benebenst guter Gesundheit dermaleinst
mancher kleiner Herr Söhnlein um die Eltern wimmeln mag, benebst den Oelpflänzlein um dero
Tisch, sie grünen und blühen. Abkürze hier meine Gratulation, dieweile der drange Raum mich
verweigert, hierüber weiter herauszulassen. <line tab="1" /> Ernsthaft zu reden so ist es
Schade, daß wir an diesem Tage nicht hier zusammen vergnügt sein konnten. Doch ich bin jetzt
im Geist auf Tarwast und schwatze Ihnen was vor, dann werde ich ganz ernsthaft und wünsche
Ihnen beyden so viele und so angenehme Geburtstage, als Sie sich selbst wünschen, und soviel
Vergnügen, als Ihnen die ersten Umarmungen in Reval gaben, an dem heutigen Tage. Es sey euch
dieser Tag an tausend Zärtlichkeiten<line tab="5" /> An tausend sanften Freuden reich.<line
tab="5" />
<page index="3" /> Mit Küssen grüßet ihn: spielt ihm auf sanften Sayten<line
tab="5" /> Ein zärtlich Lied und unter Zärtlichkeiten<line tab="5" /> Verfließ er euch!<line
tab="5" /> Dies ist der Tag, müß jetzt Ihr Fritzchen sagen,<line tab="5" /> Der Dich mir
gab, mein Leben, meine Lust.<line tab="5" /> Für mich hat unter ihrer Brust<line tab="5" />
Die beste Mutter Dich getragen.<line tab="5" /> Für mich hat Deinen ersten Tagen<line tab="5" />
Gott jene teure Pflegerin geschenkt<line tab="5" /> Die zärtlicher, als hundert Mütter denkt<line
tab="5" /> Und deren Abschied noch Dich kränkt.<line tab="5" /> Für mich wuchs Deine holde
Jugend<line tab="5" /> Wie Frühlingsrosen auf: und Zärtlichkeit und Tugend<line tab="5" />
Keimt damals schon für mich in Deiner Brust empor.<line tab="5" />
<line type="empty" /> Dann
müß auch sie mit sanften Küssen sagen:<line tab="5" /> Geliebter, ja, ich bin nur da für Dich.<line
tab="5" /> Für Dich fing dies Herz an zu schlagen<line tab="5" /> Und ewig schlägt es nur
für Dich.<line tab="5" />
<line type="empty" /> So sey euch dieser Tag an unschuldsvollen
Freuden,<line
tab="5" /> So sey er euch an Liebe reich.<line tab="5" /> Wie mancher Hagstolz muß euch eure
Lust beneiden,<line tab="5" /> Wie manches Ehepaar wünscht heimlich eure Freuden!<line tab="5" />
Werd ich einst auch ein Mann, will ich euch nicht beneiden:<line tab="5" /> Allein zum Muster
nehm ich euch.<line tab="5" />
<page index="4" /> Neuigkeiten! <aq>Madem. Smoljan</aq> und die
Majorin Graß sind weggereist. Die Oldekoppin ist recht böse auf Dich, lieber Bruder, und auf
Deine junge Frau, daß ihr nicht bey ihr gewesen seyd. <line tab="1" /> Papa und Mama, die
sich Gottlob! noch erträglich befinden, Moritz und seine Frau, die vielleicht selbst auch
schreiben werden, Lieschen, Christian und die kleinen Geschwister, alle Freunde besonders die
Frau Obristin und die Fräuleins grüßen und küssen 1000mal Fräu- und Männlein. Auch wird die
alte Jungfer begrüßt. Leben Sie gesund und vergnügt mein liebstes Paar! und behalten Sie immer
lieb <line type="empty" />
<note>Albedylls Hand</note>
<hand ref="7">Ihres Herrn Bruders seine
grüsse von mich sind zu kalt, hier folgen die zärtlichsten die aufrichtigsten die feurigsten
von mich und meiner Tochter, von meiner eigenen Hand. <ul>
<aq>Albedyll</aq>
</ul></hand>
<line type="empty" /> zärtlichsten Bruder <line
type="break" /> Jacob Michael Reinhold Lenz<line type="break" /> Am Geburtstage 1768. <line
type="break" /> P.S. Wenn Du, liebster Bruder! einige <aq>Exemplare</aq> von <insertion>
den</insertion> hochzeitlichen Gedichten hast, so schicke sie mir doch, ich habe kein
einziges. Onkel Kellner vergaß auch uns welche mitzugeben. Die <aq>Capit. Sege</aq> und die
Lieutnantin Brandt von Fetenhof und die Majorin Toll von Wissus haben junge Söhne. Die alte
Oldenkoppin ist ziemlich krank. Heut hat H. Rektor für Reichenberg gepredigt. <aq>Adieu!</aq>
Dieses am Sonntage. </letterText>
<letterText letter="6">
<page index="1" /> Königsberg 1769. Octbr 14. <align pos="center">Gütigster Herr Papa.</align>
<line
type="empty" /> Um den Brief nicht überflüssig groß und dick zu machen, muß ich mich
begnügen, nur gegenwärtigen kleinen Zettel in denselben an Sie einzuschließen. Christian wird
vermutlich in seinem Schreiben weitläuftiger <del>zu</del> seyn und ich habe also nur noch
einige kleine Supplemente zu meinem vorigen Briefe zu geben. So sehr ich Ihnen für die gütige
Besorgung eines Theils meines jährlichen <aq>Fixi</aq> verbunden bin, so sehr sehe ich mich
genöthigt, Sie nochmals gehorsamst um die so viel möglich baldige Beförderung dessen, was Ihre
Gütigkeit zu unserer Kleidung bestimmt hat, zu bitten. <aq>Pranumeration</aq> ist nothwendig,
wenn ein Student gut wirthschaften will und also ist ihm im Anfange des Jahrs immer Geld
unentbehrlich. Noch einige Ausgaben habe Ihnen schon vorhin specificiren wollen, für die ich
gleichfalls von Ihrer Gewogenheit einigen Ersatz hoffe, wenn es Ihre Umstände zulassen. Der
Band einiger <aq>Exemplare</aq> meiner Landplagen, insonderheit der letzte, der nach Petersb.
bestimmt und den ich schon dem Herrn v. Schulmann an Sie mitgegeben: kostet mir wenigstens bis
2 Dukaten. Hernach haben alle Landsleute zum Begräbnis des seel. Herrn Langhammers was
beitragen müssen: weil seine Mutter eine Wittwe ist, die sich selbst nicht ernähren kann, und
derjenige, der ihn studiren lassen, nicht einmal so viel, als zu den Ausgaben, an Doctor etc.
in seiner Krankheit erfordert worden, überschickt<page index="2" /> hat. Dieser Beytrag war
bis über 4 Thlr. Wenn Sie von dem Obristen Bok was gehört haben, so seyn Sie so gütig, es
mir bey Gelegenheit zu melden. Neulich haben wir einen gewissen Bar. Cloth, Ihren gewesenen
Eingepfarrten, 2 Bar. v. Baranow und den jungen H. D. Stegemann, der vielleicht schon jetzt in
Dorpat angekommen seyn, allhier gesprochen. Der Catalogus lectionum ist zwar jetzt heraus,
allein ich fürchte er würde den Brief zu sehr anschwellen, wenn ich ihn hier beylegte. Ich
werde dieses halbe Jahr, außer den philosophischen und andern Collegiis von theologicis das
Theticum bey D. Lilienthal und ein Exegeticum über die Ep. Pauli an die Römer bey D. Reccard
hören. Die andern theologischen Collegia bedeuten in diesem halben Jahr nicht viel. Ueberhaupt
wenn man nebst einigen wenigen Professoren die Magister von Königsberg nähme, würde die
Akademie wenig oder gar nichts werth seyn. Nächstens werde ich weitläuftiger sein. Vergeben
Sie unser öfteres unverschämtes Geilen nach Geld: die Noth lehrt hier beten und betteln. Gegen
den Winter kommen viel neue Ausgaben. Holz: ein neuer Schlafrock, Tisch Grüßen Sie doch
alle Verwandte und Freunde, besond. aber meine theureste Frau Mama 100000mal von Ihrem <line
type="empty" /> gehorsamsten Sohn<line type="break" /> J.M. R. Lenz. <note>auf der ersten
Seite am rechten oberen Rand</note> P. S: Wenn Sie an den Tarwastschen Bruder schreiben, so
sagen Sie ihm doch, daß ich recht sehr begierig bin, einmal einen Brief von ihm zu sehen. </letterText>
<letterText letter="7">
<page index="1" /> I. <aq>Ni Deus fere miraculum fecisset, hae pecuniae non confluxissent.</aq>
1) Ursachen, Wenigkeit der <aq>Communicanten</aq>: armselige Beschaffenheit, die größten
Ausgeblieben, kein Rathsherr, keiner von den Aeltesten-Leuthen; <aq>excepto</aq> P.ker und
Teller das wenige Gesammelte zu Bezalung der Handwerker im Auditorium, die schon lange zu
Halse gegangen. 2) Art u. Weise, wie sie zusammen geflossen. <aq>Fick</aq> 20 Rbl.
Treuer 20 Rbl. Stryck 10 Rbl. Raths-Stipend. 20 Rbl. 3) <aq>Distributio.</aq> a) <aq>Jacob
Fick</aq> 10 Rbl. Raths<aq>Stip.</aq> 10 Rbl. S. 20 Rbl. b) <aq>Christian Fick</aq>
10. <aq>Treuer</aq> 20. <aq>Stryck</aq> 10. Raths-<aq>Stip.</aq> 10 S. 50 Rbl <line
tab="1" />II. Hiermit aber sind auch nun die vorigen Quellen verschlossen. Jacob hat Boks u.
der <aq>Baronne Wolf Stipendia</aq> weg <aq>Fick</aq> sagte 50 Rbl. habe er destinirt, 30
Rbl. hätte er vorher gegeben, nun die letzten 20. <aq>Treuer</aq> ein vor alle mal das
Raths-<aq>Stipendium</aq> für dich geschlossen, tritt nun So .. <aq>jun.</aq> an. <aq>Stryck</aq>
auch aufs letzte Jahr. Auf mich gar keine Rechnung zu machen. Denn da meine Erntezeit nichts
getragen u. ich also fast in allgemeinen Schulden sitzen bleibe, so ist auf die übrigen Teile
des Jahres wenig zu rechnen: u. es wird e. Wunder-Gnade Gottes seyn, wenn noch so viel
zusammen soll, als bis Michaelis nöthig ist. <page index="2" />
<line tab="1" /> III. <aq>
Porismata</aq> hieraus, daß sie 1) durchaus nicht länger als bis gegen Michaelis sich ihren <aq>Terminum
Academicum</aq> setzen, denn es wird ohnehin schwehr genug seyn, sie noch so hinge zu
unterstützen 2) sich nicht in Schulden einfressen, sonst sich so vest fressen, da ich sie
unmöglich würde lösen können u. da wären sie ganz verloren, denn ich könnte nicht, wenn sie
auch ins <aq>Carcer</aq> kämen 3) daß sie mittlerweile sehr fleissig seyn pp. <line tab="1" />
IV. Nachricht, so ich gehöret, daß Prof. Cant ihn nach Rehbinder in Danzig <aq>recommendiret</aq>
. <line tab="1" /> 1) Vorläufige Bestrafung, daß er nicht mit mir solche Sachen <aq>
communicire</aq>, böses Gewissen: Ich würde ihm Väterl. und aus reifer Ueberlegung und
Erfahrung rathen: Aber damit wäre ihm vielleicht nicht gedient, sondern Rath d. Jungen, die
auch noch flüchtig denken u. sich durch den anfängl. Falschen Schein, Dunst u. Glast blenden
lassen. Er mache es wie Rehabeam p. Vielleicht unsere Väter und mütterliche Zärtlichkeit
würde es nicht zulassen, ob es gleich dein Bestes wäre: Aber a) <aq>Si Supponis</aq> so viel
väter- u. mütterl. Zärtlichkeit; <aq>male</aq>, daß du nicht eben so viel kindl. Zärtlichkeit
hast, u. deine Eltern dadurch erfreuen wilst, daß du in deinem Vaterlande Gott und deinen
Nächsten, ihnen zur Ehre und Freude nützl. seyn wilst Zeigt wenig <aq>patriotismus</aq> an.
Ist doch auch wol e. Tugend <aq>Exempl.</aq> <page index="3" />Griechen, Römer. Was haben
wir, was alle Freunde, was alle deine hiesigen Compatrioten, bey denen du das beste Vorurth.
erweckt hast, von allen ihren Erwartungen. b) Aber wenn es dein wahrer Vorteil wäre; abnegarem
Alle mein eignes und der Meinigen Vergnügen p. So affenliebisch bin ich nicht pp. Allein <aq>
Suppono</aq>, daß d. <aq>H. Resident</aq>, als <aq>Resident</aq> (denn das bringt diese s. <aq>
Charge</aq> schon mit sich) in Danzig bliebe. Was wilst du dann bey ihm machen? Erst
Hofmeister, das hier auch, dann <aq>Secretair</aq>. Ein schlechter wol nicht, damit er
dich abdanken könne. Nein e. gut., folgl. e. ewiger <aq>Secretair</aq>, so wie dein
Mutterbruder <aq>Neoknapp</aq>, e. ewiger freier Unterthan s. Hauses, der nie s. eignes
anfangen, nie heiraten, nie selbst e. Wirtschaft fuhren kann, immer die Füsse unter e. fremden
Tisch stecken muß. Taugst du nichts u. must ihn verlassen, so jägt er dich ohne <aq>
Recommendation</aq> weg. Taugst du was, u. hat er dich lieb, so wird er aus Eigennutz dich
in s. Hause ewig festhalten wollen, u. ich weiß nicht, zu welchen <aq>emplois</aq> er dir in
Danzig helfen könnte, da es doch dort wol von geschickten Landes Leuten krimmelt u. wimmelt,
die nothwendig vor fremden den Vorzug haben. Vielleicht rechnest du darauf, daß er dich dort
in e. gute Pfarre helfen solle. In was für eine Etwa in e. Stadtpfarre in Danzig selbst? Nein
dazu nehmen die Herren Danziger wahrhaftig <aq>praejudicio</aq> keinen blossen und noch dazu
fremden Candidaten, wenn er auch Apoll selbst wäre, auch nicht jeden geschickten wahren
Prediger einmal, sondern verschrieben sich immer große <aq>Professores</aq> und <aq>Doctores
Theologiae</aq> von fremden Academien, wie so z.E. <aq>D.</aq> Kraft a.d. großen Pfarrkirche;
und D. Bertling aus Helmstädt dahin kamen. Nun wo dann hin? Aufs Land, aufs Dorf. 1) kannst du
das hier auch u. viel besser haben: denn wir haben hier 10mal bessere Land-Pastorate, als die
dortigen Dorf-Pfarren sind, wo die armen Prediger fast das Hungerbrod fressen. 2) ist nichts
Verachteteres, als e. dasiger Dorf-Pfaffe. <aq>In urbibus pastores magis honorantur,<page
index="4" /> quam hic. At in pagis quoque centies magis spernuntur, quam hic.</aq> Es
ist überhaupt die Frage, ob d. <aq>H. Resident</aq> dich dort zu e. geistl. od. weltl. Amt
befördern könne, oder wolle: (1) ob er könne! Denn warum solten sie sich <aq>Subjecta</aq> von
e. fremden Herrn vorschlagen lassen, da es ihnen weder an eignen <aq>consiliariis</aq> noch <aq>
Subjectis</aq> zu Aemtern fehlet b) ob er wolle! Denn gefällst du ihm, so wird er kein Thor
seyn, sich auf die Art von dir zu trennen u. sich selbst deiner guten Dienste zu berauben.
Gesetzt du wollest da nicht länger bey ihm bleiben; wo dann hin! da du dort fremd u. unbekannt
bist: hier aber (da dein Vat. überall und du auch schon zieml. weit und breit bekannt ist) dir
das ganze Land offen steht. <aq>Ergo plane dissuadeo ut amicus, at si non vis,</aq> befehle
ichs dir als Vater, daß du dies Project fahren lassest u. mit deinem Bruder hereinkommst. <line
tab="1" /> V. Anderwärtiger Vorschlag, den ich ihm gebe. D. H. Obrister Bok bey mir, hat e.
Schwester in Lettland, <aq>nomen nescio</aq> hat noch klein. Kind., fordert nur den ersten
Unterricht in Bstabiren, Lesen, Schreiben, Rechnen u. sonderl. im französischen, <aq>offerirt</aq>
selbst nicht das <aq>Salarium</aq>: du solst es fixiren. Ich meine im ersten Jahre, da dte
Kind. klein 150 rthl. Alb. (weil dort im lettischen Alberts-Tahler) so nach Rubeln doch zum
allerwenigsten 180 Rbl. ausmachen, und dabey 20 Rthl. zu freyem <aq>Thee</aq> und Zucker. Im
anderm Jahre wenn du bleiben wilst und kanst, aber 200 rthl. Alb. welches zum allerwenigsten
240 Rbl. ausmachet, u. abermal 20 rthl. Thée und Zucker. Ich wil auch suchen das Reisegeld für
dich mit zu verdingen, weil ich sorge, ich möchte es kaum aufbringen können. Wilst du dies, so
wil ich an Bok schreiben. Denn er wartet sehnl. auf Antwort u. bittet sehr darum. Wer weiß, wo
dieser Gönner auch wegen s. grossen Bekanntschaft mit den Größten des Hofes u. Einfluß bey d.
Majestät selbst dir hier noch beförderl. seyn könnte? Antworte bald. Das <aq>Salarium</aq>
däucht mir <aq>convenable</aq>. Man<page index="5" /> darf den Bogen nicht zu hoch spannen,
weil er dir in d. Noth geholfen p. Du hast Freiheit, kanst bleiben u. auch gehen, wenn dir die <aq>
condition</aq> nicht länger ansteht. <line tab="1" /> VI. Der Mamma Zustand: Marter von Viel.
1000 Plagen, schlechtes OsterFest. Meine Gesundheit auch schlecht. Kopfschmerzen vom Dunst. <line
tab="1" /> VII. Meine neue Verfolgung, wegen 1) d. Ober-Consistorial-Schrift 2) des
Kirchenbuches. <line tab="1" /> VIII. Erbärml. Zustand d. <aq>Sczibalski</aq> auf Rüggen. Sie
werden wol nicht mehr sehen. <aq>Extract</aq> aus den beyden letzten <aq>Sczibalskischen</aq>
Briefen. Unsere vielen Tränen. <line tab="1" /> IX. Lieschen 3 Tage schon krank.
Ueberhaupt dort viel Patienten, desgleichen in Lemsal von den <aq>Recruten</aq>. <line tab="1" />
X. Gestorben: 1) General Di..t.. ..: Schreckl. Krankheits-Umstände seel. Tod. Grots
Leichen-Predigt 2) Landrath <aq>Igelstrohm</aq> 3) <aq>Axel</aq> Bruiningk 4) d. <aq>Candid.</aq>
Hoffmann, d. euch auf dem Claviere informirte, in Lemsal 5) d. junge Reichenberg. <aq>Ejus
ultima</aq> Vorm Jahrd. junge Helm. <line tab="1" /> XI. Neuer General-<aq>Superint.</aq>
Sein guter Character. Nicht ein solcher Pedant. Neuer Grund einzukommen. <line tab="1" />
XII. <aq>Copulandi</aq> Inspect. Petersen mit e. Jungfer Rosenthal. <line tab="1" /> XIII.
Frage, obs wahr, daß die Preußen in Curland eingerückt sind? Ob sie <aq>communiciret</aq>
haben u. wann? <line tab="1" /> XIV. Schluß-Ermahnung. 3 Stangen fein. schwarzen Lak. Zu 40
Trauer-Briefen Pappier mit schwarzen Ränd. 2 Buch Pappusch Pappier von No. 1. </letterText>
<letterText letter="8"> Theurester Freund! <line tab="1" />Sie werden mir ein kleines
Stillschweigen zu gut halten, das auf eine Abreise ohne Abschied seltsam genug aussieht. Die
gegenwärtige Lage meiner Seele wird mich entschuldigen. Sie kriecht zusammen, wie ein Insekt,
das von einem plötzlichen kalten Winde berührt worden. Vielleicht sammelt sie neue Kräfte,
oder vielleicht ist dieser Zustand gar Melancholey. Sey es was es wolle, ich befinde mich eben
nicht unglücklich dabey, es ist kein Schmerz den ich fühle, sondern bloß Ernst und obschon
dieser den Jüngling nicht so sehr ziemet als den Mann, so denk ich, ist er auch für jenen
unter gewissen Umständen vortheilhaft. Geben Sie mir doch Nachricht von Ihrem Befinden, ändern
Sie Ihr sonst so gütiges Zutrauen gegen mich nicht. Meine Umstände können meine Oberfläche
zwar ändern, aber der Grund meines Herzens bleibt. Ich beschäftige mich gegenwärtig
vorzüglich mit Winkelmanns Geschichte der Kunst, und finde bei ihm Genugtuung. O daß dieser
Mann noch lebte! Schaffen Sie sich sein Werk an, wenn Sie einmal auf Verschönerung Ihrer
Bibliothek denken. Wenn seine Sphäre nur nicht von der Art wäre, daß er sich durch einen
großen Nebel von Gelehrsamkeit in derselben herumdrehen muß, der den gesetzten und edlen Flug
seines Geistes merklich niederschlägt. In der Jurisprudenz habe ich nur noch eine kleine Saite
in meiner Seele aufgezogen, und die gibt einen verhenkert leisen Thon. Der waltende Himmel mag
wissen, in was für eine Form er mich zuletzt noch gießt und was für Münze er auf mich prägt.
Der Mensch ist mit freien Händen und Füssen dennoch nur ein tändelndes Kind, wenn er von dem
großen Werkmeister, der die Weltuhr in seiner Hand hat, nicht auf ein Plätzchen eingestellt
wird, wo er ein paar Räder neben sich in Bewegung setzen kann. Ist Ihre Abhandlung schon
vorgelesen? Und wie haben sich <aq>Ott</aq> und <aq>Haffner</aq> das letztemahl gehalten; ich
zähle auf Ihr Urtheil davon. <line tab="1" />Ihre weisen Rathschläge über einen gewissen
Artikel meines Herzens, fang ich an mit Ernst in Ausübung zu setzen: allein eine Wunde heilt
allemahl langsamer, als sie geschlagen wird. Und wenn ich die Leidenschaft überwände, wird
doch der stille Wunsch ewig nicht aus meinem Herzen gereutet werden, mein Glück, wenn ich
irgend eines auf dieser kleinen Kugel erwarten kann, mit einer Persohn zu teilen, die es mir
allein wird reitzend und wünschenswerth machen können. Ich habe heut einen dummen Kopf, aber
ein gutes und geruhiges Herz: aus der Fülle dieses Herzens will ich Ihnen sagen, daß ich bin
Ihr <line type="break" /> unaufhörlich ergebenster Freund <line type="break" /> J. M. R. Lenz. <line
type="empty" />
<note>Am Rand</note> Von Herrn von Kleist ein ganz ergebenstes Compliment.
Wollen Sie so gütig seyn, mich Ihrer Tischgesellschaft zu empfehlen, vorzüglich Herrn <aq>
Leibhold</aq> und <aq>Hepp</aq>. <line type="empty" />
<note>Nachschrift</note> Ich sehe daß
mein guter Ott mich nicht versteht und durchaus glaubt, wenn ich nicht lustig bin, müsse ich
unglücklich seyn. Benehmen Sie ihm doch dieses schlechte Zutraun zu mir, welches mich in der
That schamroth machen muß. Der Himmel ist noch nie so strenge gegen mich gewesen, mir größeren
Kummer aufzulegen, als wozu er mir Schultern gegeben, und wenn ich jetzt die feige Memme
machte, der Ungedult und Thorheit über die Backen liefen, so verdient ich in Essig eingemacht
zu werden, damit ich nicht in <aq>putredinem</aq> überginge. Ich fürchte, weil ich an ihn
jetzt nicht mehr mit lachendem Munde schreiben kann, sein gar zu gutes und empfindliches Herz
wird glauben, ich sey niedergeschlagen und ich bin es doch niemals weniger gewesen als itzt. <line
tab="1" />Neulich als ich einige Stunden einsam unter einem Baum gelesen, sah ich
unvermuthet eine erschreckliche Schlange ganzgeruhig zwei Zoll weit neben mir liegen. Ich flog
schneller als ein Blitz davon, und dachte es muß doch noch nicht Zeit für dich sein Diese
Anekdote schreibe ich meinen Freunden nur darum, damit sie sich in Acht nehmen, unter einem
Baum auszuruhen denn sonst denk ich interessirt sie niemanden als mich. <line tab="1" />Ich
schick Ihnen zur Ausfüllung einer vegetirenden Stunde nach dem Essen, eine kleine Romanze, die
ich in einer eben so leeren Stunde gemacht habe. <line type="empty" />
<align pos="center">Piramus
und Thisbe.</align>
<line tab="4" />Der junge Piramus in Babel <line tab="4" />Hat in der Wand <line
tab="4" />Sich nach und nach mit einer heissen Gabel <line tab="4" />Ein Loch gebrannt. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Hart an der Wand, da schlief sein Liebchen, <line tab="4" />Die
Thisbe hieß, <line tab="4" />Und ihr Papa auf ihrem Stübchen <line tab="4" />Verderben ließ. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Die Liebe geht so, wie Gespenster, <line tab="4" />Durch Holz
und Stein. <line tab="4" />Sie machten sich ein kleines Fenster <line tab="4" />Für ihre Pein. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Da hieß es: liebst du mich? da schallte: <line tab="4" />Wie
lieb ich dich! <line tab="4" />Sie küßten Stundenlang die Spalte <line tab="4" />Und meynten
sich. <line type="empty" />
<line tab="4" />Geraumer ward sie jede Stunde, <line tab="4" />Und
manchen Kuß <line tab="4" />Erreichte schon von Thisbens Munde <line tab="4" />err Piramus. <line
type="empty" />
<line tab="4" />In einer Nacht, da Mond und Sterne <line tab="4" />Vom Himmel
sahn, <line tab="4" />Da hätten sie die Wand so gerne <line tab="4" />Beyseits gethan. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Ach Thisbe! weint er, sie zurücke: <line tab="4" />Ach
Piramus! <line tab="4" />Besteht denn unser ganzes Glücke <line tab="4" />In einem Kuß? <line
type="empty" />
<line tab="4" />Sie sprach: ich will mit einer Gabe, <line tab="4" />Als wär
ich fromm, <line tab="4" />Hinaus bei Nacht zu Nini Grabe, <line tab="4" />Alsdann so komm! <line
type="empty" />
<line tab="4" />Dies wird Papa mir nicht verwehren, <line tab="4" />Dann
spude dich. <line tab="4" />Du wirst mich eifrig bethen hören, <line tab="4" />Und tröste
mich. <line type="empty" />
<line tab="4" />Ein Mann ein Wort! Auf einem Beine <line tab="4" />Sprang
er für Lust: <line tab="4" />Auf Morgen Nacht da küß ich deine <line tab="4" />Geliebte Brust. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Sie, Opferkuchen bei sich habend, <line tab="4" />Trippt
durch den Hayn, <line tab="4" />Schneeweiß gekleidt, den andern Abend <line tab="4" />Im
Mondenschein. <line type="empty" />
<line tab="4" />Da fährt ein Löwe aus den Hecken, <line
tab="4" />Ganz ungewohnt, <line tab="4" />Er brüllt so laut: sie wird vor Schrecken <line
tab="4" />Bleich wie der Mond. <line type="empty" />
<line tab="4" />Ha, zitternd warf sie
mit dem Schleyer <line tab="4" />Den Korb ins Graß <line tab="4" />Und lief, indem das
Ungeheuer <line tab="4" />Die Kuchen aß. <line type="empty" />
<line tab="4" />Kaum war es
fort, so mißt ein Knabe <line tab="4" />Mit leichtem Schritt <line tab="4" />Denselben Weg zu
Nini Grabe <line tab="4" />Der rückwärts tritt, <line type="empty" />
<line tab="4" />Als
hätt ein Donner ihn erschossen: <line tab="4" />Den Löwen weit <line tab="4" />Und weiß im
Grase hingegossen <line tab="4" />Der Thisbe Kleid. <line type="empty" />
<line tab="4" />Plump
fällt er hin im Mondenlichte: <line tab="4" />So fällt vom Sturm <line tab="4" />Mit
unbeholfenem Gewichte <line tab="4" />Ein alter Thurm. <line type="empty" />
<line tab="4" />O
Thisbe, so bewegen leise <line tab="4" />Die Lippen sich, <line tab="4" />O Thisbe, zu des
Löwen Speise <line tab="4" />Da schick ich mich. <line type="empty" />
<line tab="4" />Zu hören
meine treuen Schwüre <line tab="4" />Warst du gewohnt; <line tab="4" />Sey Zeuge, wie ich sie
vollführe, <line tab="4" />Du falscher Mond! <line type="empty" />
<line tab="4" />Die kalte
Hand fuhr nach dem Degen <line tab="4" />Und dann durchs Herz. <line tab="4" />Der Mond fing
an sich zu bewegen <line tab="4" />Für Leid und Schmerz. <line type="empty" />
<line tab="4" />Ihn
suchte Zephir zu erfrischen <line tab="4" />Umsonst bemüht. <line tab="4" />Die Vögel sangen
aus den Büschen <line tab="4" />Sein Todtenlied. <line type="empty" />
<line tab="4" />Schnell
lauschte Thisbe durch die Blätter <line tab="4" />Und sah das Graß, <line tab="4" />Wie unter
einem Donnerwetter, <line tab="4" />Von Purpur naß. <line type="empty" />
<line tab="4" />O
Gott, wie pochte da so heftig <line tab="4" />Ihr kleines Herz! <line tab="4" />Das braune
Haupthaar ward geschäftig, <line tab="4" />Stieg himmelwärts. <line type="empty" />
<line
tab="4" />Sie floh hier zieht, ihr blassen Musen, <line tab="4" />Den Vorhang zu! <line
tab="4" />Dahinter ruht sie, Stahl im Busen: <line tab="4" />O herbe Ruh! <line type="empty" />
<line
tab="4" />Der Mond vergaß sie zu bescheinen, <line tab="4" />Von Schrecken blind. <line
tab="4" />Der Himmel selbst fieng an zu weinen <line tab="4" />Als wie ein Kind. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Man sagt vom Löwen, sein Gewissen <line tab="4" />Hab ihn
erschröckt, <line tab="4" />Er habe sich zu ihren Füßen <line tab="4" />Lang hingestreckt. <line
type="empty" />
<line tab="4" />O nehmt, was euch ein Beyspiel lehret, <line tab="4" />Ihr
Alten, wahr! <line tab="4" />Nehmt euch in Acht, ihr Alten! störet <line tab="4" />Kein
liebend Paar. <line type="empty" />
<note>Auf einem beiliegenden Zettel</note>
<line tab="4" />Man
sagt daß keine Frau dem Mann die Herrschaft gönnt; <line tab="4" />So nicht Frau Magdelone. <line
tab="4" />Sie theilt mit ihm das Regiment: <line tab="4" />Behält den Zepter nur und lässet
ihm die Krone. </letterText>
<letterText letter="9"> Fort Louis, den 3ten Juni 1772. <line type="empty" /> S. T. Mein
theurester Freund. <line tab="1" />So nenn ich Sie, die Sprache des Herzens will ich mit
Ihnen reden, nicht des Ceremoniels. Kurz aber wird mein Brief werden, denn sie ist lakonisch,
lakonischer als Sallustius, lakonischer als der schnellste Gedanke eines Geistes ohne Körper.
Darum hasse ich die Briefe. Die Empfindungen einer so geläuterten Freundschaft als Sie mich
kennen gelehrt, gleichen dem geistigen Spiritus, der wenn er an die Luft kömmt, verraucht. Ich
liebe Sie mehr verbietet mir mein Herz zu sagen, der plauderhafte Witz ist nie sein
Dolmetscher gewesen. Ich bin wieder in Fort-Louis, nach einigen kleinen Diversionen, die meine
kleine Existenz hier, auf dem Lande herum, gemacht hat. Ob ich mein Herz auch spazieren
geführt <line tab="1" /> Ich habe die guten Mädchen von Ihnen gegrüßt: sie lassen Ihnen
ihre ganze Hochachtung und Ergebenheit versichern. Es war ein Mädchen, das sich vorzüglich
freute, daß ich so glücklich wäre, Ihre Freundschaft zu haben. Mündlich mehr. Ich komme in der
Fronleichnamswoche zuverlässig nach Straßburg. Schon wieder eine Visite und schon wieder
eine Ich bin mit einigen Offiziers bekannt und diese Bekanntschaft wird mir schon, in ihrer
Entstehung lästig. Ich liebe die Einsamkeit jetzt mehr, als jemals und wenn ich sie nicht in
Straßburg zu finden hoffte, so würde ich mein Schicksal hassen, das mich schon wieder zwingt,
in eine lärmende Stadt zurückzukehren. <line tab="1" /> Was werden Sie von mir denken, mein
theuerster Freund? Was für Muthmaßungen Aber bedenken Sie, daß dieses die Jahre der
Leidenschaften und Thorheiten sind. Ich schiffe unter tausend Klippen auf dem Negropont, wo
man mir mit Horaz zurufen sollte <line type="empty" />
<line tab="4" /><aq>Interfusa nitentes <line
tab="4" />Vites aequora Cycladas.</aq>
<line type="empty" />
<line tab="1" />Wenn ich auf
einer dieser Inseln scheitre wäre es ein so großes Wunder? Und sollte mein Salzmann so
strenge ·sein, mich auf denselben, als einen zweiten Robinson Crusoe, ohne Hilfe zu lassen?
Ich will es Ihnen gestehen (denn was sollte ich Ihnen nicht gestehen?), ich fürchte mich vor
Ihrem Anblick. Sie werden mir bis auf den Grund meines Herzens sehen und ich werde wie ein
armer Sünder vor Ihnen stehen und seufzen, anstatt mich zu rechtfertigen. Was ist der Mensch?
Ich erinnere mich noch wohl, daß ich zu gewissen Zeiten stolz einen gewissen G. tadelte und
mich mit meiner sittsamen Weisheit innerlich brüstete, wie ein welscher Hahn, als Sie mir
etwas von seinen Thorheiten erzählten. Der Himmel und mein Gewissen strafen mich jetzt dafür.
Nun hab ich Ihnen schon zu viel gesagt, als daß ich Ihnen nicht noch mehr sagen sollte. Doch
nein, ich will es bis auf unsere Zusammenkunft versparen. Ich befürchte, die Buchstaben
möchten erröthen und das Papier anfangen zu reden. Verbergen Sie doch ja diesen Brief vor der
ganzen Welt, vor sich selber und vor mir. Ich wünschte, daß ich Ihnen von Allem Nachricht
geben könnte, ohne daß ich nöthig hätte zu reden. Ich bin boshaft auf mich selber, ich bin
melancholisch über mein Schicksal ich wünschte von ganzem Herzen zu sterben. <line tab="1" />Den
Sonntag waren wir in Ses. den Montag frühe ging ich wieder hin und machte in Gesellschaft des
guten Landpriesters und seiner Tochter eine Reise nach Lichtenau. Wir kamen den Abend um 10
Uhr nach S. zurück: dieser und den folgenden Tag blieb ich dort. Nun haben Sie genug. Es ist
mir als ob ich auf einer bezauberten Insel gewesen wäre, ich war dort ein anderer Mensch, als
ich hier bin, alles was ich geredt und gethan, hab ich im Traum gethan. <line tab="1" />Heute
reiset Mad. Brion mit ihren beyden Töchtern nach Sarbrücken, zu ihrem Bruder auf 14 Tage, und
wird vielleicht <b>ein Mädchen</b> da lassen, das ich wünschte nie gesehen zu haben. Sie hat
mir aber bei allen Mächten der L geschworen, nicht da zu bleiben. Ich bin unglüklich, bester
bester Freund! und doch bin ich auch der glücklichste unter allen Menschen. An demselben Tage
vielleicht, da sie von Saarbrük zurük kommt, muß ich mit H. v. Kleist nach Straßburg reisen.
Also einen Monath getrennt, vielleicht mehr, vielleicht auf immer Und doch haben wir uns
geschworen uns nie zu trennen. Verbrennen Sie diesen Brief es reut mich, daß ich dies einem
treulosen Papier anvertrauen muß. Entziehen Sie mir Ihre Freundschaft nicht: es wäre grausam
mir sie jetzt zu entziehen, da ich mir selbst am wenigsten genug bin, da ich mich selbst nicht
leiden kann, da ich mich umbringen möchte, wenn das nichts Böses wäre. Ich bin nicht schuld an
allen diesen Begebenheiten: ich bin kein Verführer, aber auch kein Verführter, ich habe mich
leidend verhalten, der Himmel ist schuld daran, der mag sie auch zum Ende bringen. Ich
schließe mich in Ihre Arme als Ihr <line type="break" /> melancholischer <line type="break" />
Lenz. <line type="empty" />
<note>am Rand</note> Haben Sie die Gütigkeit, der ganzen
Tischgesellschaft meine Ergebenheit zu versichern. … Ums Himmels, um meines Mädchens und um
meinetwillen, lassen Sie doch alles dies ein Geheimnis bleiben. Von mir erfahrt es niemand als
mein zweites Ich. </letterText>
<letterText letter="10"> Fort Louis d. 10ten Junius 1772 <line type="empty" /> Guter Sokrates! <line
tab="1" />Schmerzhaft genug war der erste Verband den Sie auf meine Wunde legten. Mich
auszulachen ich muß mitlachen, und doch fängt meine Wunde dabey nur heftiger an zu bluten.
Nur fürchte ich soll ich Ihnen auch diese Furcht gestehen? Ja da Sie mein Herz einmal offen
gesehen haben, so soll kein Winkel Ihnen verborgen bleiben. Ich fürchte, es ist zu spät an
eine Heilung zu denken. Es ist mir wie Pygmalion gegangen. Ich hatte mir zu einer gewissen
Absicht in meiner Phantasie ein Mädchen geschaffen ich sah mich um und die gütige Natur
hatte mir mein Ideal lebendig an die Seite gestellt. Es ging uns beyden wie Cäsarn: <aq>veni,
vidi, vici</aq>. Durch unmerkliche Grade wuchs unsere Vertraulichkeit und jetzt ist sie
beschworen und unauflöslich. Aber sie sind fort, wir sind getrennt: und eben da ich diesen
Verlust am heftigsten fühle, kommen Briefe aus Strasburg und Vergeben Sie mir meinen tollen
Brief! Mein Verstand hat sich noch nicht wieder eingefunden. Wollte der Himmel ich hätte nicht
nöthig, ihn mit Vetter Orlando im Monde suchen zu lassen. Ich bin um mich zu zerstreuen, die
Feyertage über bei einem reichen und sehr gutmüthigen Amtsschulz in Lichtenau zu Gast gewesen.
Ich habe mich an meinem Kummer durch eine ausschweiffende Lustigkeit gerächt: aber er kehrt
jetzt nur desto heftiger zurück, wie die Dunkelheit der Nacht hinter einem Blitz Ich werde
nach Strasburg kommen und mich in Ihre Kur begeben. Eins muß ich mir von Ihnen ausbitten:
schonen Sie mich nicht, aber lassen Sie meine Freundin unangetastet. Der Tag nach meinem
letzten Briefe an Sie, gieng ich zu ihr: wir haben den Abend allein in der Laube zugebracht;
die bescheidne und englisch gütige Schwester unterbrach uns nur selten und das allezeit mit
einer so liebenswürdigen Schalkheit - Unser Gespräch waren Sie ja Sie, und die
freundschaftlichen Mädchen haben fast geweint für Verlangen Sie kennen zu lernen. Und Sie
wollten mit gewaffneter Hand auf sie losgehen, wie Herkules auf seine Ungeheuer Nein Sie
müssen sie kennen lernen und ihre Blicke allein werden Sie entwaffnen. Ich habe meiner
Friedrike gesagt, ich könnte für Sie nichts geheim halten. Sie zitterte, Sie würden zu wenig
Freundschaft für eine Unbekannte haben. Machen Sie diese Furcht nicht wahr, mein guter
Sokrates! Uebrigens tun Sie was Ihnen die Weißheit räth. Ich will mich geduldig unterwerfen.
Es ist gut, daß Sie meinen freundschaftlichen Ott nicht mit meiner Torheit umständlich bekannt
machen. Ich verbürge mich gern vor mir selbst nur nicht vor Ihnen. Leben Sie wohl, Ihr <line
type="break" />unaufhörlich ergebenster Freund <line type="break" />JMRLenz. <line
type="empty" /> Gestern ist der Herr Landpriester bei mir zu Gast gewesen. Er ist ein
Fieldingscher Charakter. Jeder andere würde in seiner Gesellschaft Langweile gefunden haben;
ich habe aber mich recht sehr darin amusirt; denn ein Auge, womit ich ihn ansah, war poetisch
das andere verliebt. Er läßt sein Leben für mich und ich für seine Tochter. </letterText>
<letterText letter="11"> Fort Louis, d. 15ten Junius n. St.<line type="empty" /> Mein theurester Vater!
<line tab="1"/>Abermal muß ich eine Gelegenheit kahl aus meinen Händen lassen, mit der ich in Ihre Arme zu
fliehen hoffte. Wenigstens soll mein Brief mitgehen, wenn ich mein Herz in denselben einschließen
könnte, ich thät es mit Freuden. Ich schreibe jetzt unter den grausamsten Kopfschmerzen an Sie, die
die hier jetzt unausstehliche Hitze und zugleich die Weindiät verursachen, und von denen ich sonst,
wie von andern Krankheiten, Gott sey Dank! nichts weiß: obschon äußere Umstände, Sorgen,
Kummer und Geschäfte mir sie oft genug hätten zuziehen können. Noch immer bete ich die
Vorsehung an, und noch immer muß ich Sie aufmuntern, sie mit mir anzubeten und alle Ihre
zärtlichen Sorgen auch in Ansehung meines Schicksals auf sie zu werfen. Bedenken Sie daß wir in
einer Welt sind, wo wir durch tausend in einander gekettete Mühseligkeiten zum Ziel gelangen und
niemals eine vollkommene Befriedigung auch unserer unschuldigsten und gerechtesten Wünsche
erwarten können. Wenn ich so eitel sein darf, zu glauben, daß meine Abwesenheit eine kleine Wunde
in Ihrer Seele macht: welch eine Wunde muß denn die Ihrige in der meinigen machen? Die
Abwesenheit meiner theuresten Mutter und Geschwister, meiner zärtlichsten Freunde die allezeit
Arme und Herz für mich offen hielten, da ich sie jetzt als Fremdling allenthalben für mich
verschlossen sehe. Umstände dazu, die ich Ihnen weder schildern will noch kann dennoch,
dennoch halte ich meine Augen zum Vater im Himmel emporgerichtet, der mir an jedem Ort
nachfolgt, und wenn ich entfernt von Himmel und Erde wäre und Leib und Seele mir verschmachtete. <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Im Herzen rein hinauf gen Himmel schau ich <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Und sage Gott, dir Gott allein vertrau ich <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Welch Glück, welch Glück kann größer seyn. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Nur daß keiner meiner Briefe zu Ihnen gelangt, daß Sie durch dieses Stillschweigen nicht allein
an meinen Schicksalen, sondern auch an meinem Charakter irre werden; das kränket mich. Ich habe seit
Ihrem letzten Briefe schon zweymal an Sie geschrieben, und dennoch krieg ich einen Vorwurf über
den andern wegen meines Stillschweigens. Und können Sie glauben, daß mein sonst doch weiches
Herz sich auf einmal in einen Stein verwandelt Gott, du weißts. Ich schätze kein zeitliches Glück so
hoch als dasjenige, Sie noch einmal zu sehen. Was soll ich Ihnen sonst noch von meinen äußern
Umständen sagen. Die Vorsehung Gottes hat mir einen liebenswürdigen Zirkel von Freunden
geschenkt, mir Ihren Verlust zu ersetzen: sie sind aber das was die Wachslichter gegen das Tageslicht
sind. Einen Namen muß ich Ihnen hersetzen, damit Sie seiner in Ihren Seufzern für mich erwähnen: er
ist mir zu teuer. <aq><ul>Salzman</ul></aq> o wenn ich einen so erfahrenen liebenswürdigen Mentor nicht hier zur
Seite gehabt, auf welcher Klippe würde ich jetzt nicht schon schiffbrüchig sitzen? Wenn Ehre ein
wahres Gut ist, so bin ich glücklich, denn die wiederfährt mir hier genug, ohne daß ich sie verdienet
habe. Sie ist aber vielmehr ein Joch, als ein Gut, und sie allein würde mich nie abhalten, in den stillen
Schoß meines Vaterlandes unbemerkt wieder zurückzukehren. So aber sind mir jetzt noch Hände und
Füße dazu gebunden, ich möchte lieber sagen, abgehauen. Ich bringe meinen Sommer in Fort Louis,
einer Festung sieben Stunden von Strasburg zu, auf den Winter werde ich wieder dahin zurückkehren.
Jetzt bin ich also in einer fast gänzlichen Einsamkeit. Auf den künftigen Frühjahr hoffe ich mit
Nachdruck und Succeß an meine Heimreise zu denken. Bis dahin, theuresten Eltern, geben Sie sich
noch zufrieden. Ich wünsche Ihnen den großen Gott, auf den ich bisher noch nie zu meinem Schaden
gerechnet, und, ich glaube es unverändert, auch niemals ins künftige rechnen werde. Wenn ich meine
Lebens Geschichte aufsetzte, würde sie vielen unglaublich scheinen. Ich setze dies aufs Alter aus
vorher aber auf unsere mündliche Unterredung. Freuen Sie sich in dieser Zeit Ihrer wohlgeratenen
anwesenden Kinder, theurester Vater, schließen Sie einen abwesenden Flüchtling in Ihr Herz und
Gebet, aber schließen Sie ihn aus Ihrer Sorge, und übergeben ihn dem großen Gott, der am besten
weiß, was für ein Gefäß er aus ihm machen will. Ich falle Ihnen und meiner theuresten Mama mit
den zärtlichsten Tränen in die Arme, als Ihr bis ins Grab gehorsamster und getreuester Sohn Jac. Mich.<line type="break"/>
Reinh. Lenz.</letterText>
<letterText letter="12"> Fort-Louis, den 28. Juni <line type="empty"/> Gütigster Herr Aktuarius!
<line tab="1"/>Ich habe einen empfindlichen Verlust gehabt, Herr Kleist hat mir Ihren und meines guten Otts Briefe
recht sorgsam aufheben wollen und hat sie so verwahrt, daß er sie selbst nicht mehr wieder finden
kann. Ich bin noch zu sehr von der Reise ermüdet, als daß ich Ihnen jetzt viel Vernünftiges schreiben
könnte. Denn ich habe noch fast keine Minute gehabt, in der ich zu mir selbst hätte sagen können:
nun ruhe ich. Eigene und fremde, vernünftige und leidenschaftliche, philosophische und poetische
Sorgen und Geschäfte zerteilen mich. Mein Schlaf selber ist so kurz und unruhig, daß ich fast sagen
möchte, ich wache des Nachts mit schlafenden Augen, so wie ich des Tages mit wachendem Auge
schlafe. In Sesenheim bin ich gewesen. Ist es Trägheit oder Gewissensangst, die mir die Hand zu Blei
macht, wenn ich Ihnen die kleinen Scenen abschildern will, in denen ich und eine andere Person, die
einzigen Akteurs sind. Soviel versichere ich Ihnen, daß Ihre weisen Lehren bei mir gefruchtet haben
und daß meinen Leidenschaft dieses Mal sich so ziemlich vernünftig aufgeführt. Doch ist und bleibt es
noch immer Leidenschaft nur das nenne ich an ihr vernünftig, wenn sie mich zu Hause geruhig
meinen gewöhnlichen centrischen und excentrischen Geschäften nachhängen läßt, und das thut sie,
das thut sie. Die beiden guten Landnymphen lassen Sie mit einem tiefen Knicks grüßen. Mein
Trauerspiel (ich muß den gebräuchlichen Namen nennen) nähert sich mit jedem Tage der Zeitigung.
Ich habe von einem Schriftsteller aus Deutschland eine Nachricht erhalten, die ich nicht mit vielem
Golde bezahlen wollte. Er schreibt mir, mein Verleger, von dem ich, durch ihn, ein unreifes
Manuscript zurück verlangte, habe ihm gesagt, es wäre schon an mich abgeschickt. Noch sehe ich
nichts. Lieber aber ist mir dies, als ob mir einer einen Wechsel von 1000 Thalern zurückschenkte.
Lesen Sie dieß andere Blatt in einer leeren Stunde. Unsere letzte Unterredung und die darauf
folgende schlaflose Nacht, hat diese Gedanken veranlaßt. Schreiben Sie Ihr Urtheil drüber <line type="empty"/>
Ihrem ergebensten Lenz.</letterText>
<letterText letter="13"> <align pos="right">Fort Louis, d. 13ten Jul. 1772</align> <line type="empty"/>
<align pos="center">Liebster Bruder!</align> <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Deine Vorwürfe würden mir so empfindlich nicht seyn, wenn ich sie <del>nicht</del> verdient hätte: aber sie
nicht verdient zu haben und doch kein Mittel wissen, die üble Meinung abzulehnen die alle meine
vorige Bekannte meines Stillschweigens halber von meinem Herzen zu fassen anfangen das ist in der
That niederschlagend. So mürbe ich aber auch von den Streichen des Schicksals bin, so soll doch kein
einziger, das hoffe ich zu Gott, mir meinen Mut rauben. Ich habe öfter an Dich geschrieben als Du an
mich wen soll ich anklagen, daß meine Briefe nicht zu Euch kommen? Ich freue mich über Dein
morgenröthendes Glück das meinige liegt noch in der Dämmerung. Es mag ewig darinne liegen
bleiben Dir nähere Nachrichten von meinen Umständen und Begebenheiten zu geben, ist mir
unmöglich. Sie geben das anmuthigste Gemählde von Licht und Schatten, wiewohl der letzte
bisweilen ein wenig tief ist. Aber im Briefe kann ich Euch nichts davon mittheilen: und ich halte es für
besser Euch lieber zu schreiben daß ich noch gesund bin und lebe, sonst nichts, als Euch mangelhafte
und unvollkommene Nachrichten zu geben, aus denen Ihr Muthmaßungen und Schlüsse ziehen
könntet, die Eurer und meiner Ruhe schaden würden. Ich habe mit Deinem Briefe einen sehr
lamentablen von unserm guten Frohlandt aus Königsberg bekommen, worin er mir meldet, daß fast
die ganze Landsmannschaft <ul>davon gelauffen.</ul> In der That, ich werde bald anfangen zu erröthen, mich
aus unserm Vaterlande zu bekennen, wenn unsere Landsleute sich Deutschland in einer solchen
Gestalt zeigen. Baumann, Hesse, Zimmermann, Hugenberger, Kühn, Meyer ich habe meinen Augen
nicht trauen wollen. Und der arme Frohlandt ist in der That fast aufs äußerste gebracht Hipprich
und Marschewsky sind gleichfalls aus Berlin mit Schulden davon gelauffen, der letzte hat dieses schon
in Leipzig und Jena getan. Das sind denn die würdigen Subjekte, mit denen in unserm Vaterlande
Ehren- und Gewissens-Aemter besetzt werden. Ich wünschte meine Verwandten und Freunde heraus,
in der That, ich wende keinen Blick mehr hin. Doch will ich Deinen Vorschlag mit der <aq>Condition</aq>
überlegen und Dir in dem nächsten Briefe von meinem völligen Entschluß Nachricht geben, bloß um
nur noch einmal, einmal das Glük zu haben meine Eltern und Euch alle wiederzusehen. Vor künftigen
Frühjahr, also jetzt über 10 Monate kann ich mich auf keine Weise allem Anscheine nach von Kleists
loß machen. Ins künftige wenn Du schreibst, so laß sie doch grüßen, liebster Bruder! es ist in der That
<page index="2"/>zu spröde, daß Du thust, als habst Du sie nie gekannt. Ich dependire einmal in gewisser
Absicht von ihnen. Kurz in meinem nächsten Briefe werde ich Dir von meinem Entschluß positivere
Nachricht geben. Reisegeld aber würde der Herr Etatsrath mir wohl schicken müssen, denn die <ul>Reise</ul>
<del>macht</del> legt meiner Zurükkunft die größte Schwierigkeit in den Weg. Du weißt die Oekonomie der
jungen Herrchen und wie viel sie baar liegen haben. Von Henisch kriege ich noch beständig Briefe,
von Miller aber keine, auch von Pegau nicht, wenn Du an einen von ihnen schreibst, so grüße doch
beide von mir 1000mahl und sage ihnen, daß ich gegen alle meine Freunde unter allen meinen
Umständen der alte Lenz bleibe. Vielleicht thu ich mit dem ältesten Herrn v. Kleist auf den Herbst
eine Reise auf einen Monath nach <aq>Nancy</aq> und mit dem jüngsten auf den Winter eine auf ein paar
Monate nach Mannheim. Warum hast Du die Bedienung in Dorpat nicht angenommen. Eine gute
Einschränkung <del>versp</del> erwirbt oft mehr als ein hohes Gehalt und wenn zu dem ersten die Gesellschaft
der zärtlichsten Freunde kommt und bey dem andern jede Freude des Lebens darbt, so sollte billig
der erste Zustand der vorzügliche seyn. Jetzt kann ich unmöglich weiter schreiben die <del>Post</del>
<insertion pos="bottom">Gelegenheit</insertion> geht o Himmel wie viel muß ich unterdrüken! Das sey aber versichert, mein theurer
Bruder, daß ich Dich vorzüglich liebe und unter allen Umständen meines Lebens lieben werde. Die
Gelegenheit mit der ich Dir diesen Brief schicke ist der Baron von Grothusen, welcher Morgen nach
Curland zurükreiset und mit dem ich anfangs mitzugehen mir schmeichelte, diese Hofnung ist aber
durch allerley <aq>Contretems</aq> zu Wasser geworden. Die vorigen Briefe habe ich Dir theils auf der Post,
theils durch Pegau (wo mir recht ist) teils durch einen Landsmann der auch nach Hause reiste teils
durch Herrn v. Sievers zugeschickt. Daß keiner angekommen, weiß ich auf keine Art zu begreiffen.
Schreibe mir durch Frohlandt oder H. v; <aq>Sievers</aq>, fast möchte ich itzt die erste Gelegenheit für besser
oder nimm doch die andere Mache wie Du es für gut findst. Meine Adresse ist <del>an H</del> abzugeben
beym Herrn Actuarius Salzmann, nahe bey der Pfalz. Actuarius ist hier eine der ersten
Magistratsbedingungen, nicht wie in Liefland Ich muß schließen. Ich hoffe gewiß daß wenigstens
dieser Brief Dich antreffen wird. Melde mir doch wie die Bedingungen Deiner <aq>Condition</aq> lauten. Bitte
Papa um ein paar Zeilen von seiner Hand, dies ist die einzige Wohlthat die ich mir von ihm ausbitte.
Küsse ihm und Mama 1000mal die Hand allen meinen theuren Geschwistern Freunden und
Freundinnen 1000000mal den Mund von <line type="empty"/>
Deinem zärtlichsten Bruder Lenz.
<sidenote pos="top left" page="2" annotation="am linken Rand, vertikal">Kleists lesen alle meine Briefe. Wir sind aber Freunde und Du darfst alles frey schreiben, nur nichts
von ihnen.</sidenote></letterText>
<letterText letter="14">Fort Louis, August 1772 <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Sie bekommen heut einen sehr elenden Brief von mir, darum wollt ich anfangs lieber gar nicht
schreiben. Aber <aq>non omnia possumus omnes</aq> dacht ich, mit Herrn Rebhuhn und geantwortet
muß doch seyn. Ich komme eben aus der Gesellschaft dreier lieben Mädchen und einer schönen,
schönen Frau und in allen solchen Gesellschaften wird das Fleisch willig und der Geist schwach. Wie
dieser Brief in Ihre Hände kommt weiß ich noch nicht. Es soll ein Hauptmann nach Straßburg gehen,
der dorthin allerlei mitnehmen wird, unter anderm Ihren <aq>Hobbes civem Malmesburgiensem</aq>,
den ich mich nicht überwinden kann zu Ende zu bringen. Es geht mir wie einem Kinde, das über ein
neues Spielzeug eines alten vergißt, das es doch so fest mit seiner kleinen Patsche umklammert hatte,
als ob es ihm erst der Tod herausreißen sollte. Der Zustand meines Gemüthes ist wie er ist; den Haß
kann man wohl auswurzeln, aber die Liebe nie, oder es müßte ein Unkraut seyn, das nur die äußere
Gestalt der Liebe hätte. Wenn mir Einer Mittel vorschlagen wollte, Sie nicht mehr zu lieben, glauben
Sie, daß diese Mittel bey mir kräftig sein würden? Vergeben Sie mir mein böses Maul, ich wünschte es
allemal böser als mein Herz. Ich habe einen vortrefflichen Fund von alten Liedern gemacht, die ich
Ihnen, sobald ich nach Straßburg komme, mittheilen werde. Wollen Sie meine letzte Uebersetzung
aus dem Plautus lesen, so fodern Sie sie unserm guten Ott ab, denn ich glaube schwerlich, daß sie so
bald in der Gesellschaft wird vorgelesen werden. Sie haben mir keine Nachricht gegeben, wie sie mit
der Ietztern gegenwärtig zufrieden sind. Vernachlässigen Sie diese Pflanzschule Ihrer Vaterstadt nicht,
theurer Freund, vielleicht könnten wohlthätige Bäume draus gezogen werden, auf welche
Kindeskinder, die sich unter ihrem Schatten freuten, dankbar schnitten: Auch dich hat Er pflanzen
helfen. Es sieht noch ziemlich wild und traurig in Ihrer Region aus aber der erste Mensch ward in
den Garten Eden gesetzt um ihn zu bauen. Wollten Sie wohl einst so gütig seyn, mir, zum
<aq>aequivalent</aq> für <aq>Hobbes</aq>, noch eine glühende Kohle aufs Haupt zu sammeln und etwa Puffendorfs
<aq>historiam juris</aq> zu schicken. Oder ein anderes juristisches Buch, denn Jurist muß ich doch werden,
wenn mir anders die Theologie nicht verspricht mich zum Papst von Rom zu machen. Ich halte viel auf
die Extreme und Niklaus Klimms <aq>aut</aq> Schulmeister <aq>aut</aq> Kaiser ist eine Satire auf Ihren
Ihnen stets ergebenen <line type="empty"/><line type="break"/>
Lenz. <line type="empty"/>
Herr von Kleist befindet sich wohl und empfiehlt sich Ihnen bestens.</letterText>
<letterText letter="15">Mein theurer Sokrates!
<line tab="1"/>Ich umarme Sie mit hüpfendem Herzen und heiterer Stirne, um Ihnen eine Art von Lebewohl zu
sagen, das in der That nicht viel zu bedeuten hat. Einige Stunden näher oder ferner machen, für den
Liebhaber erschrecklich, für den Freund aber nichts. Der Erste ist zu sinnlich eine körperliche
Trennung zu verschmerzen, der andere aber behält, was er hat, die geistige Gegenwart seines
Freundes, und achtet die zwei Berge oder Flüsse mehr oder weniger nicht, die zwischen ihm und
seinem Gegenstande stehen. Nur das thut mir wehe, daß ich nicht so oft werde nach Straßburg
kommen können, indessen soll es dafür jedesmal auf desto längere Zeit geschehen. Ich denke, Sie
werden mich nicht vergessen, meinerseits sind die Bande der Freundschaft so stark, daß sie noch
hundert Stunden weiter gedehnt werden können, ohne zu reißen. Bis in mein Vaterland hinein bis
ins Capo de Finisterre<!-- Erfolgt hier ein Schriftwechsel aufgrund des Sprachwechsels? -->, wenn Sie wollen. In Ihrem letzten Briefe haben Sie mir Unrecht gethan. Wie,
mein liebenswürdiger Führer, ich sollte wie ein ungezähmtes Roß allen Zaum und Zügel abstreifen,
den man mir überwirft? Wofür halten Sie mich? Ach jetzt bekomm ich einen ganz andern
Zuchtmeister. Entfernung, Einsamkeit, Noth und Kummer, werden mir Moralen geben, die weit
bitterer an Geschmack seyn werden, als die Ihrigen, mein sanfter freundlicher Arzt. Wenn ich mit
Ihnen zusammenkomme, werde ich Ihnen viel, sehr viel zu erzählen haben, das ich jetzt nicht mehr
der Feder anvertrauen kann. Auftritte zu schildern, die weit rührender sind, als alles, was ich jemals
im Stande wäre zu erdichten, Auftritte, die, wenn Sie Ihnen zugesehen haben würden, Sie selbst noch
(meinen Sokrates) zu weinen würden gemacht haben. Noch ist meine Seele krank davon. Sie sind
mein bester Freund auf dem Erdboden, Ihnen, aber auch nur Ihnen, will ich Alles erzählen, sobald ich
Sie spreche. Zeigen Sie diese Stelle meines Briefes, nicht meinem guten Ott wenn er nicht noch
Jüngling wäre, wenn er die Stufe der Weisheit erstiegen hätte, würde ich über diesen Punkt nicht
gegen ihn zurückhaltend sein. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Heute komme ich von Lichtenau, aus einer sehr vergnügten Gesellschaft, in welcher ich vielleicht
allein die Larve war. Ich will meinen Brief an Sie bis zum Ende bringen, ich erwarte heute abend noch
einen Gnadenstoß. O lassen Sie mich, mein beschwertes Herz an Ihrem Busen entladen. Es ist mir
Wollust zu denken, daß Sie nicht ungerührt bei meinem Leiden sind, obschon es Ihnen noch
unbekannt ist. Denn Trennung ist nicht die einzige Ursache meines Schmerzens. Wir wollen von
andern Sachen reden. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich werde noch, vor meiner Abreise, einmal aus Fort-Louis an Sie schreiben und alsdann aus Landau,
sogleich nach meiner Ankunft. Mein Studiren steht jetzt stille. Der Sturm der Leidenschaft ist zu
heftig. Ich wünsche mich schon fort von hier, alsdann, hoffe ich, wird er sich wieder kümmerlich
legen. In Landau will ich, so viel es mein zur andern Natur gewordenes Lieblingsstudium erlaubt, das
<aq>Jus</aq> eifrig fortsetzen. Auf den Winter denk ich mit Herrn von Kleist, der sich Ihnen gehorsamst
empfehlen läßt, einige Monate in Mannheim, einige in Straßburg zuzubringen. Wo zuerst weiß ich
nicht. Seyen Sie so gütig und sagen es der Jungfer Lauthen noch nicht, daß ich von Fort-Louis
weggehe, ich will es ihr, wenn ich noch einen Posttag abgewartet, selber schreiben. Das weibliche
Herz ist ein trotzig und verzagt Ding. Leben Sie wohl bis auf meinen nächsten Brief. Ich bin von
ganzem Herzen
Ihr
Sie ewig liebender <aq>Alcibiades</aq><line type="break"/>
J. M. R. L.</letterText>
<letterText letter="16">Mein theuerster Freund! <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Auf einem Fuß, wie ein reisefertiger Kranich, steh ich jetzt und schmiere Ihnen mit dem anderen
mein Adieu aufs Papier. Ich glaube zum wenigsten, daß dies mein letzter Brief von Fort-Louis seyn
wird. Ich gehe jetzt nach Sesenheim hinaus, um den letzten Tag recht vergnügt dort zuzubringen.
Recht vergnügt Nicht wahr, Sie lächeln über meine stolze platonische Sprache, mittlerweile mein
Herz mit dem Ritter Amadis (oder was weiß ich, wie der Liebhaber der Banise hieß) von nichts als
Flammen, Dolchen, Pfeilen und Wunden deklamirt. Was soll ich sagen? Ich schäme mich meiner
Empfindungen nicht, wenn sie gleich nicht allezeit mit festem Schritt hinter der Vernunft hergehen. O!
und Salzmann bedauert mich sehen Sie die Schürze von Feigenblättern, die meine gefällige Vernunft
mir allezeit vor die Blöße meines Herzens bindet. Ich habe in Sesenheim gepredigt, sollten Sie das
glauben? Den Sonnabend nachmittags karessirt; nach Fort-Louis gegangen; das Thor zu gefunden;
zurückgegangen; den Pfarrer am Nachtessen unruhig gefunden, daß er so viel zu thun habe; mich
angeboten; bis vier Uhr in der Laube gesessen; mich von meinen Fatiguen erholt; eingeschlafen; den
Morgen eine Bibel und eine Concordanz zur Hand genommen und um 9 Uhr vor einer zahlreichen
Gemeine, vor vier artigen Mädchen, einem Baron und einem Pfarrer gepredigt. Sehn Sie, daß der
Liebesgott auch Candidaten der Theologie macht, daß er bald in Alexanders Harnisch wie eine Maus
kriecht, bald in die Soutane eines Pfarrers von Wackefield, wie ein der Liebesgelahrtheit Beflissener.
Mein Text war das Gleichniß vom Pharisäer und Zöllner und mein Thema die schädlichen Folgen des
Hochmuths. Die ganze Predigt war ein Impromptu, das gut genug ausfiel. Himmel die Uhr schlägt
sechs und ich sollte schon vor einer Stunde in S. seyn. Diesmal sollen Sie mich dort entschuldigen.
Ihren <aq>Heineccius</aq> nehme ich mit. Ohne Erlaubniß ach, mein Freund, <aq>dura necessitas</aq> läßt mich nicht
erst lange fragen, ich greife zu aber ich gebe auch wieder. Allein was werden Sie sagen, wenn ich
Ihnen Ihren <aq>Tom Jones</aq> noch nicht zurückschicke? Ich bin schuld daran, daß ihn mein faules Mädchen
noch etwas länger behält, er soll sie für meinen Verlust entschädigen, denn wenn man gute
Gesellschaft hat, sagte sie, so kann man nicht viel lesen. Ich habe so brav auf Ihre Güte gethan, daß
ich ihr mein Wort drauf gegeben, Sie würden es verzeihen, wenn sie Ihnen denselben erst durch
Mamsell Schell zuschickte; ja Sie würden sogar so gütig seyn und ihr noch die zween letzten Teile
alsdann dazu leihen, wenn sie die ersten wieder gegeben. Das heißt gewagt, mein bester Sokrates,
aber Jugend ist allezeit ein Waghals, und bricht doch nur selten den Hals; ich denke, Sie werden
meine tollkühne Freundschaft noch nicht fallen lassen: wenn sie älter wird, soll sie weiser und
vorsichtiger werden. Für Ihre Adressen in Landau danke ich Ihnen unendlich, wer weiß, wozu sie gut
sind. Ich hoffe eher nach Straßburg zu kommen, als nach Mannheim. Ich kann nicht mehr, theuerster,
bester, würdigster Freund! ich bin schon ein Jahr über meine bestimmte Stunde ausgeblieben. Leben
Sie recht sehr glücklich; mein Großfürst heirathet eine darmstädtische Prinzessin; leben Sie allezeit
gleich heiter und vergnügt; ich möchte gerne den Namen des Russischen <aq>Envoyé</aq> an diesem Hofe
wissen; erinnern Sie sich meiner zuweilen; der Friede soll auch schon geschlossen seyn; grüßen Sie
die Lauthsche Gesellschaft und die Mademoiselles tausendmal; doch was berichte ich Ihnen
Neuigkeiten, die bei Ihnen schon in der Hitze werden sauer geworden seyn und bleiben Sie
gewogen
Ihrem verschwindenden <aq>Alcibiades</aq><line type="break"/>
J.M.R.L.
</letterText>
<letterText letter="17">Weissenburg im Elsaß d. 2ten Septbr. 1772. <line type="empty"/>
Mein Vater!
<line tab="1"/>Ich schreibe Ihnen diesen Brief auf dem Marsch von Fort Louis nach Landau, wohin das Regiment
Anhalt, bey dem sich der H. v. Kleist, (der jüngere) befindt, den letzten des vorigen Monaths
aufgebrochen. Weil der letztere, dessen zärtliche Freundschaft für mich täglich zunimmt, mich immer
um sich haben will, so thue ich mit ihm und zugleich mit dem Regiment, zu Pferde eine zwar sehr
langsame aber auch nicht minder angenehme Reise.
<line tab="1"/>Ich bin Ihnen noch einige Striche von meinem Lebenslauf in Fort Louis schuldig, denn meinen letzten
Brief schrieb ich Ihnen, als ich eben dahin abgieng. Ob ich gleich nicht weiß, ob jemals einer von
meinen Briefen in Ihre Hände gekommen ist, oder kommen wird, so will ich doch meiner Seits nichts
ermangeln lassen. Vielleicht trägt ein gutherziger Wind doch eine Nachricht von mir wie ein
Blumenstäubchen fort, läßt sie noch bey Ihnen niederfallen, und zu einer kleinen Blume der Freude
aufgehn. Ich spähe hier vergebens jeden Winkel nach Nachrichten von Ihnen aus, fast keinen
Fremden, der aus Norden kömmt, laß ich entwischen, allein von Dorpat habe ich doch seit einem
halben Jahr nicht das mindeste erfahren können.
<line tab="1"/>Es ist mir in Fort Louis recht sehr wohl gegangen: eine Wirkung Ihres väterlichen Gebeths und der
Verheißung Gottes, frommen Eltern auch an ihren Kindern noch wohlzuthun. Denn was meine Person
betrifft, so bin ich viel zu gering alles dessen was die Barmherzigkeit des Herrn an mir getan hat. Je
länger ich mit d. Hrn. von Kleist umgehe, desto mehr spüre ich, daß seine Freundschaft zu mir wächst,
anstatt wie es sonst bei jugendlichen Neigungen gewöhnlich ist, durch Gewohnheit und Sättigung zu
erkalten. Ich habe mit seinen Nebenofficiers, die fast alle Deutsche sind, einen recht sehr artigen
Umgang, ob schon ich mich soviel möglich allezeit in mich selbst zurückziehe. Nahe bey Fort Louis
war ein Dörfchen, das ein Prediger mit drey liebenswürdigen Töchtern bewohnte, wohin sich die
Unschuld aus dem Paradiese schien geflüchtet zu haben. Hier habe ich den Sommer über ein so süßes
und zufriedenes Schäferleben geführt, daß mir alles Geräusch der großen Städte fast unerträglich
geworden ist. Nicht ohne Thränen kann ich an diese glückliche Zeit zurück denken! O wie oft hab ich
dort Ihrer und Ihres Zirkels erwähnt! O wie gern wollte ich in den schönen Kranz Ihrer Freunde eine
Rose binden, die hier in dem stillen Tale nur für den Himmel, unerkannt blühet. Ich darf Ihnen diese
Allegorie noch nicht näher erklären, vielleicht geschieht es ins künftige. Mündlich dereinst hoffe ich,
Ihnen das ganze Gemälde von meinem Lebenslauf aufzustellen, das in einem Briefe Ihnen viel zu
seltsam und romanhaft vorkommen würde. Glauben Sie mir aber, daß die menschliche
Einbildungskraft lange nicht so viel erdichten kann, als das menschliche Leben oft erfahren muß.
<line tab="1"/>Ich habe an diesem Orte kurz vor meiner Abreise eine Predigt, fast aus dem Stegreif gehalten. Sie fiel
für den ersten Versuch und für ein Impromptu gut aus, allein ich entdeckte einen wesentlichen Fehler
fürs Predigtamt an mir, die Stimme. Ich ward heiser und fast krank, und jedermann beschuldigte mich
doch, zu leise geredet zu haben, da überdem die Kirche eine der kleinsten war. Was für eine Stelle mir
also dereinst der Hausvater im Weinberge anweisen wird, weiß ich nicht, sorge auch nicht dafür. Noch
arbeite ich immer nur für mich und lerne von den Vögeln frei und unbekümmert auf den Armen der
Bäume den Schöpfer zu loben, gewiß versichert, das Körnchen das sie heute gesättigt, werde sich
morgen schon wieder finden. Nach Straßburg schicke ich von Zeit zu Zeit kleine Abhandlungen an
eine Gesellschaft der schönen Wißenschaften, die mich zu ihrem Ehrenmitgliede erwählt hat, und die
davon mehr Aufhebens macht, als mir lieb ist. Ob sich auch in Landau für mich ein Feld eröffnen wird,
in dem ich ein wenig graben kann, weiß ich nicht. Ich werde keinen Wink der Vorsehung aus der Acht
lassen, aber auch nicht murren, wenn ich dort noch eine Weile unerkannt und ungedungen am Markt
stehen bleibe. Meine Freundschaften und Verbindungen in Strasburg werden durch diese Reise, die
mich Ihnen einige Stunden näher bringt, nicht zerrissen, sondern nur noch enger zusammengezogen,
da auch bei Freunden und Gönnern immer das Sprichwort wahr bleibt <aq>Major ex longinquo reverentia.</aq>
Doch seit einiger Zeit, (ich rede von Herzen mit Ihnen) bin ich ziemlich gelassen auch bei den
empfindlichsten Trennungen und Verlusten. Ich habe ihrer schon so viel erfahren. Einige menschliche
Thränen, und alsdenn fröhlich ˕wieder˕ das ganze Herz dem übergeben, der uns für den Verlust einer
Welt entschädigen kann. Die große Moral, die ich aus meinen bisherigen Schicksalen mir abgezogen,
soll immer mein Hauptstudium bleiben: Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und
Erden. Jetzt will ich hier abbrechen und den Beschluß auf einige Tage weiter sparen, da ich Ihnen
auch etwas von Landau melden kann. <line type="empty"/>
Landau den 2ten October.
Viele Vorfälle, die mich ganz foderten, haben mir nicht soviel Zeit gelassen, meinen Brief an Sie zu
endigen. Hier muß ich ihn eben stehendes Fußes zum Ende bringen, da sich eine gute Gelegenheit
findet, ihn fortzuschaffen. Ich habe in Landau noch sehr wenig Bekanntschaft gemacht. Der Senior
Herr Mühlberge, ein Schwager meines geliebten Freundes, des Herrn Licentiats Salzmann in
Straßburg, scheint ein wackerer Mann zu sein. Ich bin bey ihm gewesen, habe ihn aber nicht
angetroffen. Seyn Sie doch so gütig, und lassen einliegenden Brief nach Reval kommen, er ist von
einem Feldwebel aus unserm Regiment, der mein Landsmann ist, und als solcher mich gar zu
inständigst gebeten, doch einmal einen Brief von ihm an die Seinigen zu schaffen. Er ist itzt schon 30
Jahr von Hause, verschiedene Landsleute haben seinen Brief angenommen, keiner aber bestellt. O
dacht ich, so werden deine saubern Landsleute es mit deinen Briefen auch gemacht haben
wenigstens will ich so leichtsinnig nicht sein. Sie werden mir vergeben, daß ich Ihnen dadurch Kosten
mache. Der Mann heißt Hönn, ist eines Predigers Sohn, und hat unter die Soldaten gehen müssen,
weil seine unmenschliche Stiefmutter, sogleich nach dem Tode seines Vaters, ihm da er kaum 1 Jahr
auf der Akademie gewesen, weder Geld noch Brief noch Anweisung mehr geschickt. Er macht noch
Ansprüche auf das Vermögen seines Vaters, wenn anders welches da ist, indem sie sich verheirathet
haben soll und zwar an einen gewissen Past. Oldekop: ich kann nicht begreifen, ob dieser Past.
Oldekop ein weitläuftiger Verwandte von unserm liebenswürdigen Freunde sein sollte. Übrigens führt
dieser Mensch sich ganz ordentlich.
<line tab="1"/>Jetzt muß ich abbrechen, wenn Sie anders diesen Brief noch erhalten sollen. Es heißt, das Regiment
soll auf den Winter nach Straßburg. Wenn ich nach Liefland komme, weiß Gott, indessen sorgen Sie
nie für mich, überlassen Sie dieses ihm. In dessen Vorsorge ich auch Sie empfehle. Tausend Grüße an
alle gute Freunde, tausend Küsse an alle meine Geschwister. Meine beste Mama! o könnte mein
Gebeth Sie gesund machen. Ich küsse Ihr und Ihnen aufs zärtlichste die Hände
als
Dero<line type="break"/>
gehorsamster Sohn<line type="break"/>
J. M. R. Lenz.</letterText>
<letterText letter="18">Landau, den 7. September. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>So wenig Zeit mir auch übrig ist, so muß ich Ihnen doch sagen, daß ich Sie in Landau noch eben so
hoch schätze, ebenso liebe, als in Fort-Louis. Unser Marsch war angenehm genug: vor Tage zu Pferde,
und vom Mittag, bis in die Nacht gerastet. Ich möchte so durch die Welt reisen. Weißenburg hat mir
gefallen, die dortige Schweizergarnison glich den Priestern der Cybele, so erfreute sie die Ankunft
eines deutschen Regiments. Landau kann in der That das Schlüsselloch von Frankreich heißen, da es
nur zween Thore hat, eins nach vorne, das andere nach hinten. Unsern Ausgang segne Gott, unsern
Eingang Ich wohne bei einem Herrn Schuch, der ein naher Verwandter vom Herrn Türkheim seyn
will. Seine Frau und er spielen mir alle Abende Komödie, wobei mein Herz mehr lacht, als bei allen
Farcen des Herrn Montval und Ribou. Er ist ein gutwilliger Schwätzer, gegen seine Frau, ein rechter
Adventsesel und auch gegen die Füllen bei ihr. Sie trägt Hosen und Zepter, eine Teintüre von Andacht
und koketter Prüderie in der That, meinen kleinen Plautus hinterdrein gelesen und ich brauche kein
Theater. Melden Sie mir doch, was das Ihrige in Straßburg macht und ob dort kein deutsches zu
erwarten sei. Beim Herrn Senior, der fast die alleinige Materie des Gesprächs meiner Wirthsleute ist
(ausgenommen den gestrigen vortrefflichen Abend, wo wir lauter Haupt- und Staatsaktionen
ausmachten) bin ich noch nicht gewesen. Der Bürgermeister Schademann soll schon seit geraumer
Zeit todt seyn. Vielleicht erlange ich die Bekanntschaft seines Sohnes, der sehr reich sein soll. Ein
Rektor bei der hiesigen Schule, der im Kloster einen Sohn hat, der schon Magister ist (wo mir recht
ist, hab ich ihn dort gesehen) soll eine gute Bibliothek haben: da muß ich suchen unterzukommen.
Seyen Sie doch so gütig und schreiben mir in Ihrem nächsten Briefe den Namen des Churfürsten von
der Pfalz; wie auch den Charakter und die Adresse des Herrn Lamey, ein Name, den ich in Straßburg
oft gehört. Sie lachen wozu das? Nun, nun, es hat nichts zu bedeuten, ein guter Freund hat mich um
beide in einem Briefe ersucht. Einen Nachmittagsprediger habe ich hier gehört, der keine Pfeife
Toback werth vorgebracht. Ich ging nach Hause und las Spalding, vom Werth der Gefühle im
Christentum. Welch ein Kontrast! Dieses Buch müssen Sie auch lesen, mein Sokrates! es macht
wenigstens Vergnügen zu finden, daß Andere mit uns nach demselben Punkt visiren. Ich freue mich,
daß man in einem Tage von hier nach Straßburg kommen kann, wer weiß wenn ich Sie überrasche.
Fahren Sie fort mit Ihrer Gewohnheit für mich.
Lenz.</letterText>
<letterText letter="19">Landau, den 18ten. <line type="empty"/>
Guter Sokrates!
<line tab="1"/>„Ohne mich nicht ganz glücklich“ Fürchten Sie sich der Sünde nicht, einen jungen Menschen stolz zu
machen, dessen Herz noch allen Passionen offen steht und durch Zeit und Erfahrung nur noch sehr
wenig verbollwerkt ist? Da ich so tief in Ihr System geguckt, da ich weiß, daß Ihre Religion die
Glückseligkeit ist so konnte mir kein größeres Compliment gemacht werden, als, daß ich im Stande
sey, mit etwas dazu beyzutragen, wenns auch nur so viel ist, als ein Mäuschen zum Rhein. Spaß bei
Seite, die Glückseligkeit ist ein sonderbares Ding, ich glaube immer noch, daß wir schon hier in der
Welt so glücklich seyen, als wir es nach der Einrichtung unseres Geistes und Körpers werden können.
Die Tugend ist das einzige Mittel diese Glückseligkeit in ihrer höchsten Höhe zu erhalten und die
Religion versichert uns, sie werde auch nach dem Tode währen und dient also dieser Tugend mehr zur
Aufmunterung, als zur Richtschnur. Da kommt nun aber die verzweifelte Krankheit, von der Sie
schreiben und wirft mir mein ganzes Kartenhaus über den Haufen. Allein sie muß doch auch wozu
heilsam seyn, vielleicht, wie Sie sagen, ist sie das Fegfeuer unserer Tugend, wenigstens macht sie uns
die Gesundheit desto angenehmer und trägt, durch den Contrast, also zu dem Ganzen unserer
Glückseligkeit auch mit das Ihre bei. Wiewohl, ich habe gut philosophiren, da ich sie, dem Himmel sey
Dank, schon seit so langer Zeit, bloß vom Hörensagen kenne. Ich bin jetzt auch von lauter Kranken
eingeschlossen und denke dabei beständig an Sie. Wiewohl ich aus dem Schluß Ihres letzten Briefes
zu meiner Beruhigung schließe, daß Sie jetzt wieder völlig hergestellt seyen. Sie werden von Herrn Ott
hören, wie ich mich amusire. Wenig genug und doch sehr viel. Wenn man Käse und Brod hat,
schmeckt uns die Mahlzeit eben so gut, als wenn das Regiment <aq>de Picardie</aq> traktirt, vorausgesetzt,
daß wir in einem Fall, wie im andern, recht derben Hunger haben. Um also glücklich zu seyn, sehe ich
wohl, werde ich künftig nur immer an meinem Magen arbeiten, nicht an der Mahlzeit, die ich ihm
vorsetze. Die Umstände, in denen wir uns befinden, müssen sich schon nach uns richten, wenn wir
selbst nur fähig sind, glücklich zu seyn. Bin ich doch ganz Philosoph geworden, werden Sie nur über
mein Geschwätz nicht von Neuem krank! Den Herrn Senior habe ich nur in seiner Kirche besucht und
noch nicht recht das Herz, ihn näher kennen zu lernen. Den Rektor der hiesigen Schule hab ich in
seinem Hause besucht und möchte wohl schwerlich wieder hingehen. Ich fragt ihn nach den hiesigen
Gelehrten: er lachte. Das war vortrefflich geantwortet, nur hätte der gute Mann die betrübte
Ahndung, die dieses Lachen bei mir erregte, nicht bestätigen sollen. Er beklagt sich über den
Schulstaub und die häuslichen Sorgen da, da, mein theuerster Freund, fühlte ich eine Beklemmung
über die Brust, wie sie Daniel nicht stärker hat fühlen können, als er in den Löwengraben hinabsank.
In seiner Jugend, sagt er, hätte er noch <aq>fait</aq> vom Studieren gemacht, jetzt o mein Freund, ich kann
Ihnen das Gemälde nicht auszeichnen, es empört meine zartesten Empfindungen. Den heiligen
Laurentins auf dem Rost hätt ich nicht mit dem Mitleiden angesehen, als diesen Märtyrer des
Schulstandes, eines Standes, der an einem Ort wie Landau, mir in der That ein Fegfeuer scheint, aus
dem man alle guten Seelen wegbeten sollte. Er hatte seine Bibliothek nicht aufgestellt, es waren
bestäubte, verweste Bände, die er vermuthlich nur in seiner Jugend gebraucht ausgenommen die
allgemeine Welthistorie figurirte, in Franzband eingebunden, besonders. Vielleicht daß ich da mich
einmal bei ihm zu Gast bitte. Er scheint übrigens der beste Mann von der Welt o Gott, eh so viel
Gras über meine Seele wachsen soll, so wollt ich lieber, daß nie eine Pflugschaar drüber gefahren
wäre. Jetzt bin ich ganz traurig, ganz niedergeschlagen, blos durch die Erinnerung an diesen Besuch.
Nein, ich darf nicht wieder hingehen. Wie glücklich sind Sie, mein Sokrates, wenigstens glänzt eine
angenehme Morgenröthe des Geschmacks in Straßburg um Sie herum, da ich hier in der ödesten
Mitternacht tappend einen Fußsteig suchen muß. Keine Bücher! ha Natur, wenn du mir auch dein
großes Buch vor der Nase zuschlägst (in der That regnet es hier seit einigen Tagen anhaltend), was
werd ich anfangen? Dann noch über die Glückseligkeit philosophiren, wenn ich von ihr nichts als das
Nachsehen habe? Doch vielleicht kriegt mich ein guter Engel beim Schopf und führt mich nach
Straßburg. Meine Lektüre schränkt sich jetzt auf drey Bücher ein: Eine große Nürnbergerbibel mit
der Auslegung, die ich überschlage, ein dicker Plautus, mit Anmerkungen, die mir die Galle etwas aus
dem Magen führen und mein getreuster Homer. Ich habe schon wieder ein Stück aus dem Plautus
übersetzt und werd es ehestens nach Straßburg schicken. Es ist nach meinem Urtheil das beste, das
er gemacht hat (doch ich kenne noch nicht alle). Noch an eins möcht ich mich machen: es ist eine Art
von Dank, den ich dem Alten sage, für das herzliche Vergnügen, das er mir macht. Ist es nicht reizend,
nach so vielen Jahrhunderten, noch ein Wohlthäter des menschlichen Geschlechts zu sein?<line type="empty"/>
<line tab="1"/>Heut möcht ich Ihnen einen Bogen voll schreiben, aber ich besinne mich, daß das, was mir ein
Präservativ für eine Krankheit ist, Ihnen leicht ein Recidiv geben kann. Ich bin ganz der Ihrige<line type="break"/>
Lenz.</letterText>
<letterText letter="20"><align pos="right">Arensburg in der Insel Oesel d. 24. Septbr: a. St. 1772</align> <line type="empty"/>
Mein zärtlich geliebter Bruder, <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Um die Freude auszudrücken, die Dein Brief mir verursachet, müßte ich mehr Muße und einen
größern Raum haben. Der Anblick einer Hand, die ich zwey lange Jahre zu sehn entwöhnt bin, war das
für mich, was Robinson auf einer wüsten Insel der erste Anblick einer Menschen-Gestalt nur immer
seyn konnte. Ich weiß jetzt daß Du lebst, daß Du wo nicht glücklich doch auch nicht ganz unglücklich
bist, und dieß ist alles. Aber die Schicksale, die Du verschweigst, mir verschweigst, in dessen Busen
Deine Geheimnisse, wenn Du welche hast, so gut verwahrt wären, wie in der Deinigen, gewiß diese
machen mich unruhig. Gott weiß, daß ich Dein Glück wünsche, und so sehr wünsche, als es vielleicht
keiner außer mir thut. Könnte ich zu Deiner Zufriedenheit was beytragen, wie sehr würde meine
eigne vergrößert werden. Sey offenhertzig gegen mich, wenn Du von meiner Zärtlichkeit überzeugt
bist; Und der Himmel verzeyhe es Dir, wenn Du es nicht bist. Sollte vielleicht Deine Rückreise durch
kleine Verwickelungen aufgehalten werden, so entdecke Dich mir, vielleicht kann ich Mittel erfinden,
Dir zu helfen? Denn was würde ich nicht dran wenden, Dich noch einmahl zu sehen, einmahl alle
meine bisherigen Schicksale in Deinen Busen auszuschütten, und aus Deinem Munde die Deinigen zu
hören, die mich wo nicht mehr doch eben so sehr <aq>intereßiren</aq> wie meine eignen. Unser guter alter
Vater, ich weiß, daß er Dich sehr liebt, es würde ihn tief beugen, wenn Du Hülfe nöthig hättest, und er
Dir nicht helfen könnte. Verschone ihn also, wenn Du in Verlegenheit bist, eben so wie unsere
Geschwister, die selbst in Schulden, eben so wie er begraben sind. Wende Dich an mich, mich wird
die Last nicht niederdrücken, die ich für meinen Bruder trage, den meine ganze Seele liebt. Ich bin
auch jünger wie sie, und habe keine Frau und Kinder, die mir Vorwürfe machen können. Was für ein
Verdienst, Dich unserm Vaterlande, unsern frommen Eltern, unsem frohen Geschwistern und
Freunden wiederzugeben, wie weit überwiegt es alle Ungemächlichkeiten! Und dieß erwarte ich
von Deiner Liebe, wenn es wahr ist, daß Du mich liebst. Laß mich immer bey meiner Einbildung
<page index="2"/> daß unter den vielen Ursachen, die Dich bewegen müssen, zurückzukommen, <insertion pos="top">ich</insertion> auch eine
kleine seyn könnte. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich zweifle nicht, daß Du ebenso ungeduldig bist, meine Geschichte zu hören, wie ich die Deinige. Ich
mache Dir keinen Vorwurf. Aber genung es ist traurig für mich, so wenig von Dir zu wißen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Du weißt, daß ich in meiner vorigen Condition einen Antrag zum Fiscalat in Dörpt bekam, den ich aus
vielen kleinen Ursachen ausschlug, die die Vorsehung vielleicht mir zu meinem Glück in den Weg
legte. Einige Wochen drauf kam ich in Vorschlag zum <aq>Stadts-Secretariat</aq> in <aq>Arensburg</aq>. Wunderbar hat
unser große u. gute Vater mich bisher geführt. Alle Hindernisse mußten gehoben werden, und seit
dem Anfange des vorigen Monats bin ich würklich ein 20jähriger <aq>Secretaire</aq>. Einige Ausarbeitungen,
die ich <aq>loco</aq> eines <aq>examinis</aq> machen muste, geriethen gut, weil ich mühsam in der Condition das
nachgeholt hatte, was ich auf der Akademie versäumt. <aq>Turzelmann</aq>, Ratsherr, u. ein Mutterbruder von
unsrer Tarwastschen Schwiegerin ist das Werkzeug meiner Beförderung, bey dem ich wohne und
speise, und der mich in allem, was mir noch am Schlendrijan fehlt, unterstützt und leitet. Meine
Bedienung trägt 300 Rbl. auch wohl beyguten Jahren gegen 400 Rbl. ein, ernährt also, wenn eine gute
Advokatur dazu kömmt, ihren Mann. Aber gegen 500 Rbl. die ich schuldig bin, und die ich ehrlich
bezahlen will, und die schlechten, armseligen Zeiten werden mich lange noch nicht in den Stand
setzen, meine eigene Hütte, zu verstehen mit einer zärtlichen Freundinn, die die Mühseeligkeilen
dieses Lebens mit tragen hilft, zu bewohnen. Es sey drum. So groß mein Begriff von einer solchen
Glückseeligkeit ist, so ist doch die Erfüllung unsrer Pflichten, und das nicht Bewustseyn einer bösen
Handlung <insertion pos="top">eine</insertion> nicht viel kleinere. Der Character dieser Nation, die Beschaffenheit der Stadt und
des Landes, und die kleineren Umstände meiner Geschichte, verspare ich bis zu unserer Gott gebe
baldigen Umarmung. Ich wiederhole noch einmahl, was ich wegen <insertion pos="top">der</insertion> Hinderniße die Dich abhalten
könnten, so bald als möglich in unsre Arme zurückzufliegen, gesagt habe. Eile mein Bruder. Du bist
Dich Deinem Vaterlande schuldig mir u. o wie vielen anderen. Der Himmel wird Dir hier schon
Brodt geben, und vielleicht, gleich sobald Du ankömmst. Ich erwarte bald Nachricht von Dir. Wenn sie
aber so wäre, daß sie unsern Vater kränken könnte, so <aq>adreßire</aq> den Brief nicht an ihn, weil er ihn
aufbrechen würde, sondern schicke ihn durch den jungen Sievers in Strasburg, wenn Du sicher bist,
daß er ihn gut bestellt. Ich unterhalte mit einigen aus dem Hause eine Corres<page index="3"/>pondence, und
bekomme ihn also gewiß, wenn er nur von dort abgeht. Sein Vater ist Land-Rath u. auf Euseküll.
Wenn Du ihn nicht kennst, so mache eine Gelegenheit zur Bekanntschaft. Ich habe viel Gutes von ihm
gehört. Die Condition, von der ich Dir schrieb, u. die ich gehabt habe, ist nun besetzt. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Meine Geschäfte, deren eine ungeheure Menge ist, laßen mir nicht Zeit, mehr zu schreiben. Ich
wünsche, daß dieser Brief zu Dir komme. Doch aus Deinen Briefen sehe ich, daß meine Briefe immer
angekommen sind. Aber die Deinigen ein feindseliger Dämon läßt sie nicht zu mir. Dieß war der
erste, wer weiß wie lange ich wieder werde schmachten müssen. Ein froher Tag wird es seyn, wann
wieder ein Brief von Dich kömmt. Unser leichtsinniger Freund <aq>Begau</aq> hat alle Einlagen an Papa u. an
mich, ich weiß nicht wo gelaßen. Er ist in Curland in Condition u. hat seinen Vater verloren. Genung
für dießmahl. Lebe wohl. Der Himmel erfülle die Wünsche, die die wärmste, feurigste Zärtlichkeit
eines Bruders für Dich thut. Es ist um desto schmertzhafter, daß die besten Herzen nicht die
glücklichsten sind, weil ihrer so wenige sind. Ich umarme Dich. Wie kalt ist diese Umarmung! O Gott!
wenn wird sie würklich werden. Wie dunkel ist die Zukunft unsrer Schicksale! Eine Anlage die ich
immer zur Melancholie gehabt, macht mich traurig, und beklemmt <del>mich</del>, wenn ich an eine so große
Entfernung denke, u. <insertion pos="top">an</insertion> alle Möglichkeiten, alle die <aq>Fantomes</aq> die sich schaarenweise einer
aufgebrachten Einbildung vordrängen. Wenn wird dieser frohe Tag kommen? Oder wird er j emals
kommen? Wozu der Vorwitz? Die Wege der Vorsehung führen uns am besten. Und noch ein
Lebewohl, ein Abschieds-Kuß, eine wollüstige kleine Thräne mit der Versicherung meiner innigsten
Zärtlichkeit, u. daß die Deinige eine der größten Glückseeligkeiten meines Lebens ist. <line type="empty"/>
Johann Christian Lenz. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Tausend Grüße an die Herrn v. Kleist. Ich wünsche sehr, u. mit dem aufrichtigsten Herzen, daß sie
meine Freunde sind, u. sich meiner noch erinnern. Sey glücklich! mein Bruder. Von der Seite der
Freunde bist Du es mehr als ich. Traurig genung, daß ich keinen eintzigen Busenfreund habe. Und was
ist ein Leben ohne Freundschaft? Du hast es nie empfunden, ich liebe Dich auch zu sehr, um es zu
wünschen. Laß mich bald in Dir meinen ersten und fast meinen eintzigen Freund wiederbekommen.
<page index="4"/>
<note>Adresse</note>
A Monsieur
Monsieur J. M. R. Lenz.
Kandidat der Theologie,
presentement a Fort Louis
P. Cond.
<note>nicht identifizierte Hand</note>
Capitaine Lieutenant Salomon Bodmer in der Mühle zu Wölflingen im Canton Zürich.<!-- "<hand>" benötigt zwingend eine Referenz. Wie kann dabei in dem Fall vorgegangen werden, wenn keine Hand identifiziert wurde? --></letterText>
<letterText letter="21"> <line tab="1"/>Herr Simon kommt zurück eh ich ihn haben will: ich kann Ihnen also das Versprochene nicht
zuschicken. Es war mein Trauerspiel, welches ich jetzt eben für Sie abschreibe. Ich werde schon eine
andre Gelegenheit finden es Ihnen zukommen zu lassen. Nicht einmal einen langen Brief erlaubt mir
seine beschleunigte Abreise. Gut, daß ich dann und wann, bei Lesung des Leibnitz ein hingeworfenes
Blatt für Sie beschrieben habe. Vergeben Sie mir, daß ich es nicht abschreibe und meine Gedanken in
Ordnung bringe. Ihnen, als einem unverwöhnten Auge, darf ich sie auch im Schlafrock zeigen; wenn
sie wahr sind, werden sie Ihnen auch alsdann besser gefallen, als falsche in einem Gallakleide. Wie
ich Ihnen gesagt habe, meine philosophischen Betrachtungen dürfen nicht über zwo, drei Minuten
währen, sonst tut mir der Kopf weh. Aber wenn ich einen Gegenstand fünf-, zehnmal so flüchtig
angesehen habe, und finde, daß er noch immer da bleibt und mir immer besser gefällt, so halt ich
ihn für wahr und meine Empfindung führt mich darin richtiger als meine Schlüsse. Nro. 11. ist eine
Apologie meines allerersten Briefes über die Erlösung. Nachdem ich aber Ihre Antwort wieder
durchgelesen, finde ich, daß wir fast einerlei gedacht und dasselbe mit andern Worten ausgedrückt
haben. Sie haben mich unrecht verstanden, wenn Sie glaubten, ich ließe Gott die übeln Folgen der
Sünde auf den Mittler lenken, bloß um seine strafende Gerechtigkeit zu befriedigen. Leibnitz dieses;
er sagt, es ist eine Convenienz, die ihn zwingt Gutes zu belohnen und Böses zu bestrafen. Ich denke
aber, es geschieht bloß um unsertwillen, weil, auf das moralische Uebel kein physisches Uebel, als
eine Strafe folgt; wir lieber Böses als Gutes tun würden, da das Böse leichter zu tun ist. Und warum
Gott das Gute für unsere Natur schwerer gemacht hat, davon ist die Ursache klar, damit wir nicht
müßig gehen; unsere Seele ist nicht zum Stillsitzen, sondern zum Gehen, Arbeiten, Handeln
geschaffen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Doch <aq>seriosa in crastinum</aq>. Ich werde hoffentlich noch mit Ihnen diesen Winter zusammenkommen;
wiewohl das Regiment jetzt die letzte Ordre erhalten hat, hier zu bleiben. Wenn ich Sie Sehe Jetzt
fühle ich, daß die ideale Gegenwart eines Freundes die persönliche nicht ersetzen kann, so werde ich
Ihnen viel zu sagen haben. Meine Seele hat sich hier zu einem Entschlusse ausgewickelt, dem alle Ihre
Vorstellungen dem die Vorstellungen der ganzen Welt vielleicht, keine andere Falte werden geben
können. Wenn ich anders ihn einem Menschen auf der Welt mittheile, ehe er ausgeführt ist. Mein
guter Sokrates, entziehen Sie mir um dessentwillen Ihre Freundschaft nicht; bedenken Sie, daß die
Welt ein Ganzes ist, in welches allerlei Individua passen; die der Schöpfer jedes mit verschiedenen
Kräften und Neigungen ausgerüstet hat, die ihre Bestimmung in sich selbst erforschen und hernach
dieselbe erfüllen müssen; sie seie welche sie wolle. Das Ganze giebt doch hernach die schönste
Harmonie die zu denken ist und macht daß der Werkmeister mit gnädigen Augen darauf hinabsieht
und <it>gut findet</it> <!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? -->was er geschaffen hat. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Nicht wahr, ich rede mystisch, Ihnen fehlten die Prämissen, um meine Folgesätze zu verstehen. Sie
werden sie verstehen, nur Geduld. In der Erwartung will ich Ihnen nur mit der größten logischen
Deutlichkeit sagen, daß ich von ganzem Herzen bin und bleibe <line type="empty"/><line type="break"/>
Ihr drollichter <aq>Alcibiades</aq>. <line type="empty"/>
Sagen Sie doch dem Ott, daß er den <aq>Lenz</aq> nicht über dem <it>Herbst</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> vergesse.</letterText>
<letterText letter="22">Würdiger Mann!
<line tab="1"/>Ich sehe in Ihrem Raritätenkasten alles, was uns die Herrn Modephilosophen und Moralisten, mit
einer marktschreierischen Wortkrämerei, in großen Folianten hererzählen, in zwei Worten
zusammengeraßt und so glücklich zusammengefaßt, daß sich dazu weder zusetzen noch davon
abnehmen läßt. Das ist vortrefflich also das Ziel ist gesteckt, nun Ihre Hand her, mein Sokrates, wir
wollen darauf zugehen, wie auf ein stilles und friedelächelndes Zoar und die hinterlassenen
Vorurtheile immer in Feuer und Schwefel aufgehen lassen, ohne uns darnach umzusehen. Mögen
furchtsame Weiber sich darnach umsehen und drüber zu Salzsäulen werden. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Um noch eine Stelle Ihres ohnendletzten Briefes zu berühren, wo Sie mir zu bedenken aufgaben, ob
Gott wohl uns das Gute könne schwerer machen, als das Böse, oder (um mit Ihren Worten mich
auszudrücken) ob er wohl die <aq>vim inertiae</aq> in uns stärker könne gemacht haben, als die <aq>vim activam</aq>,
so antworte ich, daß ich keine <aq>vim inertiae</aq> glaube. Bedenken Sie doch, mit welchem Fug, wir wohl für
die Unthätigkeit eine Kraft annehmen können? Vereinigung einer Kraft ist sie, Vernachlässigung der
<aq>vis activa</aq>, welche in Wirksamkeit und Thätigkeit zu setzen, allemal in unserm Belieben steht oder
nicht. Es ist aber die Natur einer jeden Kraft, daß sie nur durch Übung erhalten und vermehrt, durch
Vernachlässigung aber, so zu sagen eingeschläfert und verringert wird. Und daß die Übung dieser
Kraft schwerer, als ihre Vernachlässigung sey, liegt in der Natur der Sache und konnte von Gott nicht
verändert werden. <aq>Positio</aq> ist allemal schwerer als <aq>negatio</aq>, wirken schwerer als ruhen, thun schwerer
als nicht thun. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Was die Einwirkung Gottes in die Menschen betrifft, so kann ich mir nur vier Arten davon denken. Er
unterstützt und erhält die in uns gelegten Kräfte und Fähigkeiten diese ist <it>natürlich</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? -->, das heißt,
unsere Vernunft kann sie auch ohne Offenbarung erkennen; und <it>unmittelbar</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> hernach, er leitet die
äußern Umstände und Begebenheiten in der Welt so, daß eine oder die andere Fähigkeit in uns
entwickelt oder vergrößert werde, je nachdem es sein Rathschluß für gut befindet, diese ist gleichfalls
<it>natürlich</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> aber mittelbar. Zum dritten wirkt er durch die in uns geoffenbarten Wahrheiten diese ist
also, ihrem ersten Ursprung nach, <it>übernatürlich</it>, aber zugleich <it>mittelbar</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> und den Gesetzen der Natur
gemäß. Zum vierten wirkt er übernatürlich und unmittelbar, wie in den Propheten und Aposteln;
diese Einwirkung ist über die Gesetze der Natur erhaben, läßt sich also nicht mehr erklären (wiewohl
wir auch nicht das Recht haben, sie noch jetzt aus der gegenwärtigen Welt auszuschließen, im Fall die
Gottheit gewisse außerordentliche Endzwecke dadurch befördern wollte, welchen Fall aber, meiner
Meinung nach, unsere Vernunft nie determiniren kann, sondern vielmehr jedes Phänomen für
verdächtig halten muß, welches nicht die dazu erforderlichen Kennzeichen bei sich hat). <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Jetzt möge meine philosophische Muse ruhen, sich still zu Ihren Füßen setzen und von Ihnen lernen.
Spekulation ist Spekulation, bläset auf und bleibt leer, schmeichelt und macht doch nicht glücklich.
Zusammen mögen sich die Fittige des Geistes halten, und im Thal ruhen, ehe sie, wenn sie der Sonne
zu nahe kommen, in zerlassenem Wachs heruntertröpfeln und den armen Geist, welcher auf dem
Lande so sicher und lustig hätte einher gehe'n können, aus der Luft in das Meer herab wirft. <line type="empty"/>
Hier ist mein Trauerspiel mit dem Wunsch: möchte dieser Raritätenkasten des Ihrigen werth seyn.
Das beste ist, daß wir beim Tausch nicht verlieren, denn unter sympathisirenden Seelen ist <aq>communio
bonorum</aq>. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Es ist wahr, meine Seele hat bei aller anscheinenden Lustigkeit, jetzt mehr als jemals, eine tragische
Stimmung. Die Lage meiner äußern Umstände trägt wohl das Meiste dazu bei, aber sie soll sie, sie
mag sie nun höher oder tiefer stimmen, doch nie verstimmen. Eine sanfte Melancholei verträgt sich
sehr wohl mit unserer Glückseligkeit und ich hoffe nein ich bin gewiß, daß sie sich noch einst in
reine und dauerhafte Freude auflösen wird, wie ein dunkler Sommermorgen, in einen wolkenlosen
Mittag. Auch fehlen mir jetzt öftere Sonnenblicke nicht, nur kann freilich ein Herz, dem die süßen
Ergötzungen der Freundschaft und der Liebe sogar einer vernünftigen Gesellschaft genommen
sind, bisweilen einen Seufzer nicht unterdrücken. An den Brüsten der Natur hange ich jetzt mit
verdoppelter Inbrunst, sie mag ihre Stirne mit Sonnenstrahlen oder kalten Nebeln umbinden, ihr
mütterliches Antlitz lächelt mir immer und oft wird ich versucht, mit dem alten Junius Brutus, mich
auf den Boden niederzuwerfen und ihr mit einem stummen Kuß für ihre Freundlichkeit zu danken. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>In der That, ich finde in der Flur, um Landau, täglich neue Schönheiten und der kälteste Nordwind
kann mich nicht von ihr zurückschrecken. Hätt ich doch eines göttlichen Malers Pinsel, ich wollte
Ihnen gleich einige Seiten von diesem vortrefflichen Amphitheater der Natur hinmalen, so lebhaft
hats sich in meiner Fantasei abgedrückt. Berge, die den Himmel tragen, Thäler voll Dörfnern zu ihren
Füßen, die dort zu schlafen scheinen, wie Jakob am Fuß seiner Himmelsleiter.
Doch ich würde nur schwärmen, wenn ich fortführe und dafür muß ich meinen Geist in Acht nehmen.
Ich hatte vor einigen Tagen einen Brief an Sie fertig, aber ich verbrannte ihn, denn ich hatte darin
geschwärmt. Ich habe schon viel Papier hier verbrannt ein guter Genius hat über dies Trauerspiel
gewacht, sonst und vielleicht hätten Sie nichts dabei verloren. So viel muß ich Ihnen sagen, daß ich
es bei diesem ersten Versuch nicht werde bewenden lassen, denn ich fühle mich dazu Ich muß
abbrechen und Ihnen gute Nacht sagen. Möchten Sie doch aus Ihren Träumen lachend
erwachen, wie ich heute Morgen aus den meinigen.
Lenz.</letterText>
<letterText letter="23"><line tab="1"/>Ich will Sie auch drücken, mein Sokrates, aber erst, wenn ich Sie ganz kennen gelernt und von ferne
bewundert habe. Recht so wir stehen ganz beisammen; allen Ihren übrigen Meinungen
unterschreibe ich. Wir müssen das Ordentliche von dem Außerordentlichen, das Natürliche vom
Uebernatürlichen unterscheiden, nur müssen wir das Uebernatürliche nicht für unnatürlich halten,
oder aus einer Welt verbannen, in der Gott nach einem höhern Plane arbeitet, als unser kurzsichtiger
schielender Verstand übersehen kann. Ich bin sehr für das Ordentliche, für das Natürliche nur eine
aufmerksame Lesung der Briefe Pauli (der wirklich ein großer ein übernatürlicher Mann war) zwingt
mich eine übernatürliche Einwirkung nicht allein für möglich, sondern auch in gewissen Fällen (wie das
z. E. da die Religion erst im Keimen war) für nothwendig zu halten. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Um auf dem hohen Berge nicht stehen zu bleiben, sondern auch im Thale herumzuhüpfen muß ich
Ihnen sagen, daß Friedericke aus Straßburg an mich geschrieben und mir gesagt hat, sie habe dort
eine besondere Freude gehabt, die ich vielleicht boshaft genug seyn würde, zu errathen. Und das war
die, Sie am Fenster gesehen zu haben. Sie schreibt ferner, sie wäre durch Ihren bloßen Anblick so
dreist geworden, nach dem andern Theile des <aq>Tom Jones</aq> zu schicken und bittet mich sie desfalls zu
entschuldigen. Ist das nicht ein gutes Mädchen?
Und doch muß ich meinen Entschluß vor Ihnen verbergen. <line type="empty"/>
Was ist das für ein Zusammenhang? Ein trauriger <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich bin dazu bestimmt, mir selbst das Leben traurig zu machen aber ich weiß, daß, so sehr ich mir
jetzt die Finger am Dorne zerritze, daß ich doch einmal eine Rose brechen werde <line type="empty"/>
Zu allem diesem werde ich Ihnen die Schlüssel in Straßburg geben <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Der älteste Hr. von Kleist hat mir geschrieben, daß Briefe von meinem Vater da wären; er schickt sie
mir aber nicht, ich soll sie selbst abholen. <line type="empty"/>
Nun aber stößt sich meine Hinreise noch an vielen Dingen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich muß schließen, ich sehe, ich kann dies Blättchen nicht mehr zusiegeln, aber wenn es auch nicht
unser Freund Ott wäre, durch dessen Hände es gienge, so sind unsere Briefe von der Art, als die
spartanischen Ephori an ihre Feldherrn schickten, die an einen gemeinschaftlichen Stab mußten
gewickelt werden, wenn man sie lesen wollte.
Ich bin bis ins Grab<line type="break"/>
Ihr<line type="empty"/>
Lenz.</letterText>
<letterText letter="24">Mein <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Doch ich will, von jetzt an, immer ohne Titel an Sie schreiben. Wenn Geister zu einander treten und
sich miteinander besprechen, so können sie, mein ich den Scharrfuß wohl weglassen. Ich schreibe an
Sie, um Ihnen eine Veränderung zu melden, die mit mir vorgegangen. Ich bin ein Christ geworden
glauben Sie mir wohl, daß ich es vorher nicht gewesen? Ich habe an allem gezweifelt und bin jetzt, ich
schreib es mit von dankbarer Empfindung durchdrungenem Herzen, zu einer Ueberzeugung
gekommen, wie sie mir nöthig war, zu einer philosophischen, nicht bloß moralischen. Der
theologische Glaube ist das <aq>complementum</aq> unserer Vernunft, das dasjenige ersetzt, was dieser zur
gottfälligen Richtung unsers Willens fehlt. Ich halte ihn also blos für eine Wirkung der Gnade, zu der
wir nichts beitragen, als daß unser Herz in der rechten Verfassung sey, sie anzunehmen; diese
Verfassung aber besteht in einer vollkommen ernstlichen Liebe zur Tugend, zum Wahren, Guten und
Schönen. Dieser Glaube ist eine nothwendige Gabe Gottes, weil bei den meisten Menschen die
Vernunft noch erst im Anfange ihrer Entwicklung ist, bei vielen aber niemals entwickelt wird. Je mehr
sich aber unsere Vernunft entwickelt (das geht bis ins Unendliche), desto mehr nimmt dieser
<aq>moralische</aq> Glaube, der in der That mehr in den Empfindungen als in der Erkenntnis gegründet ist, ab
und verwandelt sich in das Schauen, in eine Ueberzeugung der Vernunft. Ueberhaupt bedürfen wir
nicht mehr und nicht weniger moralisch zu glauben, als zur Seligkeit nothwendig ist, das übrige haben
wir immer noch die Freiheit in <aq>suspenso</aq> zu lassen. Aber auch dieses müssen wir viel mehr suchen in
Erkenntnis und Anschauen zu verwandeln, weil, nach Ordnung Gottes, unser Wille sich nach unserer
Erkenntniß richtet. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Dieses sind die Prämissen, die ich Ihnen voranschicke, um Ihnen eine vollständige Idee von meiner
Ueberzeugung von unsrer Religion zu geben. Ich habe bisher die Erlösung unsers Heilands für nichts,
als ein in die Augen fallendes Beispiel der Folgen der Sünde gehalten, das uns an der Person des
vollkommensten Menschen, zur heilsamen Warnung aufgestellt worden. Denn, hab ich gedacht, die
Idee eines Verdienstes, und wär es auch des vollkommensten, widerspricht der allervollkommensten
Barmherzigkeit Gottes, als welche nicht braucht erst durch ein Verdienst sich die Vergebung unserer
Sünden gleichsam abfodern und abzwingen zu lassen. Aber ich habe gefunden, daß ich sehr irrte.
Gott ist die Liebe allein die übeln Folgen der Sünde aufzuheben (denn das heißt Sünde vergeben)
ohne die Sünde durch eben diese übeln Folgen zu strafen, hieße die Natur dessen, was gut und böse
ist, verändern und uns eben so viel Aufmunterung zum Bösen, als zum Guten, geben. Aber diese
übeln Folgen der Sünden einer ganzen Welt, auf einen dritten Gegenstand lenken, das konnte Gott,
das wird der Vernunft nicht schwer zu begreifen, das war das einzige Mittel, Sünde zu vergeben, ohne
sie zu strafen. Und eben dies läßt seine Barmherzigkeit in dem nämlichen Glanze. Freilich könnt es
scheinen, daß sie, gegen diesen dritten Gegenstand, welchen wir so lange unsern Heiland nennen
wollen, nicht ausgeübt worden, allein eben dieses ist der Gegenstand unsers Glaubens, hier kann die
Vernunft nicht weiter. Die Offenbarung sagt uns, dieser Heiland sei ein ganz reiner vollkommener
Mensch, vielleicht das Ideal der menschlichen Natur gewesen, dem sich die Gottheit selbst, auf eine,
uns unbegreifliche, Weise offenbart und mitgeteilet (das Wort vereinigt find ich nicht in der Bibel und
ist schon ein Schritt zu weit von unsern Theologen), den die Gottheit selbst, zu diesem großen
Geschäft unterstützt; den die Gottheit selbst, nach Vollendung desselben belohnt und ihm einen
Namen gegeben, der über alle Namen ist. Dieser Heiland aber, hat uns, außer seiner Lehre und
Beispiel, auch sein Verdienst gelassen, dessen er uns durch die Sakramente theilhaftig macht. Indem
er sich besonders durch das Sakrament des Abendmahls auf eine, zwar unbegreifliche, aber doch der
Vernunft nicht widersprechende, Art, mit uns geistig verbindet, so daß wir jetzt gleichsam alle an
seiner vollkommnen menschlichen Natur Antheil nehmen. Die Pflichten des Christenthums aber,
laufen alle dahin zusammen, diese Wahrheiten, die Christus uns verkündigt, zu glauben, gegen ihn
voll Liebe und Dankbarkeit sein Leben immer besser zu studieren, damit wir ihn immermehr lieben
und nachahmen, von ihm aber (welches die Hauptsache ist) zu Gott, als dem höchsten Gut, hinauf zu
steigen, ihn immer besser erkennen zu lernen, ja, alle Erkenntnisse, die wir hier erwerben, zu ihm, als
dem letzten Ziel zu lenken, um ihn als die Quelle alles Wahren, Guten und Schönen mit allen Kräften
unserer Seele zu lieben und (das ist die natürliche Folge davon) seinen Willen auszuüben, d.h. ihn von
ferne, im Schatten, nachzuahmen, wie er ganz Liebe und Wohlthätigkeit gegen das menschliche
Geschlecht, so kein größeres Glück kennen, als andere glücklich zu machen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Sehen Sie hier den Extrakt meiner Religion, das Fazit einer aufmerksamen Lesung der Evangelisten,
deren göttliche oder menschliche Begeisterung ich unausgemacht lasse, und sie bloß als aufrichtige
Erzähler ansehe. Denn dieses ist gut zu wissen, aber nicht verderblich nicht zu wissen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich habe es für nöthig gehalten, Ihnen den Zustand meiner Seele zu schildern, damit wir uns ganz
kennen lernen. Ich bin also jetzt ein guter evangelischer Christ, obgleich ich kein orthodoxer bin. Kann
ich in meiner Überzeugung weiter kommen, so will ich dem Gott dafür danken, der es weiß, daß
dieses das Lieblingsstudium meiner Seele ist und ewig bleiben wird. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Doch hoffe ich, niemals Prediger zu werden. Die Ursachen da müßt ich Ihnen Bogen voll schreiben.
Ich fühle mich nicht dazu. Dies ist aber kein dunkles, sinnliches sondern das Gefühl meines ganzen
Wesens, das mir so gut als Überzeugung gilt. Aber ich fühle mich als Ihren Freund <line type="empty"/><line type="break"/>
Lenz.</letterText>
<letterText letter="25"><line tab="1"/>Hier haben Sie wieder ein Blättgen mit einer Hypothese. Untersuchen Sie sie, halten Sie sie an den
Probierstein der Wahrheit Der menschliche Verstand muß von der höchsten Wahrscheinlichkeit zur
Wahrheit übergehen; ich habe zu dieser schärfern Untersuchung keine Zeit auch keine Fähigkeit, ich
überlasse sie Ihnen. Sie sagten in Ihrem letzten Briefe, Gott thue alles zu unserer Besserung mittelbar
und könne dazu nicht unmittelbar in uns wirken. Ich bin Ihrer Meinung, doch nur in einer gewissen
Einschränkung. Sie sollen sie sogleich hören. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Leibnitz, da er den Ursprung des Bösen mit der höchsten Güte Gottes reimen will, hält viel auf diese
unmittelbare Einwirkung, oder Einfluß der Gottheit, welchen er eine immerfortwährende Schöpfung
nennt. Er vergleicht ihn einem Strom, der seinen Lauf hält, die Freyheit des Menschen aber einem
Boot auf diesem Strom, das, je nachdem es schwerer oder leichter beladen, langsamer oder
geschwinder auf demselben fortgeht. Da die Sünde eigentlich in einer Privation des Guten besteht
und also die Quelle derselben nichts als Trägheit ist, die von unsern Fähigkeiten nicht den gehörigen
Gebrauch machen will, so gleicht diese Trägheit der Last oder Schwere des Boots und kann die Schuld
warum letzteres nicht so geschwinde fortgeht, nicht dem Strom, sondern dem Boot zugeschrieben
werden. Man kann ihm aber, und mich deucht mit Recht, einwenden, warum der Strom nicht mit
einer solchen Geschwindigkeit und Kraft fortfliesse, daß er die kleine Schwere des Boots überwinde
und aufhebe? und da bleibt bei Zulassung des Bösen von Seiten Gottes immer dieselbe Schwürigkeit.
Ich glaube weit sicherer zu gehen, wenn ich mich bei der einmal angenommenen Lehre von der
Erhaltung Gottes (welche allerdings wahr ist), an dem Wort <aq>Erhaltung</aq><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> halte, und also keine
fortwährende Schöpfung unter derselben verstehe. <aq>Fortwährend</aq><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> ist freilich ein Begriff, der der
Gottheit angemessen ist, allein eine solche <aq>Schöpfung</aq><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> nicht. Wenigstens kann sich unser Verstand
keine Schöpfung denken, die in Ewigkeit fortgeht, denn Schöpfung ist nach der einmal
angenommenen Bedeutung des Wortes, eine <aq>Hervorbringung<!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? Wichtig! Frage gilt für den gesamten Abschnitt--> aus Nichts</aq>, die nur einen Augenblick
währen könnte, nemlich den, da Gott sprach: Es werde! <aq>Bildung</aq> dieses Etwas, die kann fortgehen in
Ewigkeit, aber nicht die unmittelbare Schöpfung. Nun hat Gott uns gewollt, das heißt er hat uns
geschaffen, als freywillige und selbstständige Wesen, versehen mit gewissen Kräften und Fähigkeiten,
von denen wir einen Gebrauch machen können, welchen wir wollen, und wenn wir einen Einfluß
Gottes in uns annehmen wollen (welches uns Vernunft und Offenbarung heißet, weil wir <aq>abhängige</aq>,
geschaffene Wesen sind), so ist dieses kein anderer, als der allgemeine, den Gott in die ganze Natur
hat, vermöge dessen er nach den ewigen Gesetzen der Natur, die in ihr gelegten Kräfte und
Fähigkeiten <aq>unterstützt, erhält</aq>, daß sie nicht ins vorige Nichts zurückfallen. Wenn wir diese Handlung
auch eine <aq>Schöpfung</aq> nennen wollen, so mag es hingehen, nur muß man alsdann die <aq>fortgehende
Wirksamkeit Gottes</aq> von diesem Begriff absondern. Diese Einwirkung Gottes ist die allgemeine und
wird schon in der Bibel, durch den mystischen Ausdruck angezeigt: der <aq>Geist</aq> Gottes schwebte auf den
Wassern. Ich kann diese Stelle nicht anders erklären als: die allerhöchste Kraft Gottes unterstützte die
in die Natur gelegten Kräfte, daß sie ihre ihnen beschiedenen Wirkungen hervorbringen konnten. Bei
dieser Erklärung bleibt also Gott in Ansehung des Ursprungs des Bösen vollkommen gerechtfertigt.
Wir konnten unsere Kräfte gebrauchen oder nicht, in der von ihm gesetzten oder in einer entgegen
gesetzten Ordnung gebrauchen; er konnte nicht anders thun, als da er nach seiner Allwissenheit
unsern Fall voraussah, ihm durch äußere Mittel zu <aq>Hülfe</aq> kommen. Hier ist das Geheimniß unsrer
Erlösung, das in der That immer ein Geheimniß bleibt und wir ganz zu entziffern uns nicht
unterziehen dürfen. So viel ist aber klar dabei, daß durch die Offfenbarung seiner Gnade in Christo
Jesu, er nichts anders abzwecken will, als unsere Wiederherstellung in den Stand der Unschuld,
welches gleichsam die weisse Tafel ist, welche hernach beschrieben werden soll, und aus diesem in
den Stand der Glückseeligkeit, der Aehnlichkeit mit ihm, der höchsten Liebe zu ihm, und der höchsten
Freude, die aus der zunehmenden Erkenntnis seiner Vollkommenheiten und der immer näheren
Annäherung zu ihm fließt. Christus redt aber auch von einem Geist Gottes den Er uns senden will, der
uns alles vollkommen lehren und unsere Freude vollkommen machen soll, den auch wirklich die
Apostel in hohem Maß empfiengen. Dieses kann nicht anders erklärt werden, als durch eine
unmittelbare Einwirkung der Gottheit, die unseren natürlichen Fähigkeiten wenn wir sie unermüdet
recht anwenden zu Hülfe kommt, doch allezeit in dem Grade, als es der höchsten Weisheit Gottes
und der Uebereinstimmung der von ihm angerichteten Schöpfung angemessen ist. Die Wirkungen
dieses Geistes sind vorzüglich: Der unerschütterliche Glaube an Gott, als die höchste Liebe (es mögen
alle äusserlichen Anscheine auch dem zuwider seyn), an Christum, als den Vermittler dieser Liebe,
der sie uns nicht allein kennen gelehrt, sondern auch in gewissem Sinn erworben; hernach eine aus
diesem Glauben fliessende Liebe zu Gott, denn wer sollte den nicht lieben, von dem er <aq>glaubt</aq>, daß er
ihn unendlich glücklich machen will und eine geschwinde Fertigkeit, dem von ihm erkannten Willen
nach zu leben. Diese Wirkungen des Geistes Gottes müssen wir aber nicht mit Augen sehen wollen,
oder darauf warten; sie sind Trost und Belohnung unserer guten Aufführung, auch <aq>Aufmunterung</aq>
(dies scheint vorzüglich ihre Absicht), weil die menschliche Natur so viel Trägheit hat, daß sie in den
allerbesten erlangten Fertigkeiten doch wieder müde wird, sie sind das <aq>complementum moralitatis</aq>
und können uns in diesem ganzen Leben dunkel und unerkannt bleiben und uns dennoch ohne unser
Wissen, forthelfen und glücklich machen, wie ein unbekannter Wohltäter, der einem Bettler Speise
und Trank reichen läßt, ohne daß er weiß, wo es herkommt; genug er befindet sich wohl dabey und
überläßt es der Zukunft ihm seinen Wohltäter zu zeigen, damit er ihm alsdann den Dank ins Gesicht
sagen kann, den er jetzt für ihn in seinem Herzen behält. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich gebe diese Hypothese, die noch dazu so roh und undeutlich ausgedrückt worden, als sie in
meinem Verstande ausgeheckt ward, Ihnen hin, sie zu bearbeiten, alles zu prüfen und das Beste zu
behalten. Wenigstens müssen wir doch suchen in die Ausdrücke der Bibel einen <aq>Sinn</aq> zu legen, der mit
unserm Verstande übereinkommt; Geheimnisse bleiben immer Geheimnisse, doch müssen die Linien
unserer Vernunft hineinlaufen und sich hernach drin verlieren, nicht aber eine Meile weit seitwärts
vorbeygeführt, hernach mit Gewalt hineingebogen werden, welches eine <aq>krumme Linie</aq> geben würde. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Um über eine so wichtige Materie mit der höchsten Aufrichtigkeit zu schreiben, muß ich Ihnen nur
schreiben, daß ich bey meiner einmal angenommenen Erklärung der Lehre vom Verdienst Christi
bleibe, und daß ich mir keine andere denken kann, die mit dem was die Schrift davon sagt und mit
dem was unsere Vernunft von Gott und seinen Eigenschaften erkennt, übereinkommt. Lassen Sie uns
sie nur deutlicher machen und Sie werden mir Recht geben. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Was ist das Gute anders, als der gehörige und rechtmäßige Gebrauch, den wir von unsren Fähigkeiten
machen? Und das Böse, als der unrechtmäßige übelübereinstimmende Gebrauch dieser Fähigkeiten,
der, wie ein verdorbenes Uhrwerk, immer weiter im verkehrten Wege davon fortgeht; so wie der gute
Gebrauch immer weiter in dem graden und richtigen Wege. Wir sind selbstständig Gott <aq>unterstützt</aq>
die in uns gelegten Kräfte, wie in der ganzen Natur, ohne sie zu <aq>lenken</aq> Wir (sey es nun die Schuld
einer uns angebohrnen Trägheit, die die Theologen Erbsünde nennen, oder des bösen Beyspiels,
welche ich fast eher dafür halten möchte), wir brauchen die Fähigkeiten verkehrt. Gott kommt durch
eine ganze Folgenreihe äußerer Mittel (welche ich <aq>Gnade</aq> nenne und wohin in der Jugend besonders
die Tauffe und das Wort Gottes zu rechnen), wozu besonders auch die zeitlichen Umstände gehören,
in die er uns versetzt. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Wir hören nun, daß ein vollkommener Mensch gelebt hat, durch den sich Gott uns ehemals sichtbar
geoffenbart und angekündigt hat; daß, wenn wir den <aq>rechten</aq> Gebrauch von unsern Fähigkeiten
machen wollen, wir schon hier und in Ewigkeit glücklich oder seelig sein sollen ; wir hören, daß,
nach dem Ausdruck der Bibel, alle bisher begangenen Sünden der Menschen auf ihn gelegt werden,
daß er sie trägt (was kann dies Anderes heißen, als daß alle üblen Folgen der Sünde auf ihn gelenkt
worden? Darin bestand sein <aq>Leiden</aq>) Wir sollen nur glauben, daß Gott uns um seinetwillen gnädig
sei; dies soll uns also nicht mehr beunruhigen, nicht mehr zurückhalten an unserer Besserung mit
allen Kräften unserer Seele zu arbeiten, weil das Alte alles vorbei und wir gleichsam jetzt neue Glieder
an einem großen Ganzen sind, wovon der allervollkommenste Jesus das Haupt war (hieher geht eine
gewisse geistliche Vereinigung vor, die mir im Abendmahl scheint zum Grunde zu liegen, denn wer
wollte alle Geheimnisse der Religion ergründen?) <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Also, <aq>voilá tout</aq>. Wenn wir diese Hülfsmittel alle, die uns die Gnade darbeut, annehmen, bon <aq>ça</aq>, es
soll nicht dabei bleiben; wir sollen einmal einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung fä hig werden,
die in der Bibel die Sendung des h. Geistes heisset, die uns Gott immer mehr erkennen und lieben
lehren wird, die uns, wenn wir dazu reif, zum Anschauen Gottes bringen wird aber dazu gehört
freilich Zeit! <line type="empty"/>
Lenz.</letterText>
<letterText letter="26"><line tab="1"/>Es scheint, daß Sie dazu gemacht sind, mir meine kleinen Systeme alle zu zerstören und zu schleifen.
Kaum habe ich eine recht artige bunte Seifenblase vor dem Munde, so fahren Sie unbarmherzig
drüber her und lachen mich aus, wenn ich stehe und den Kopf kratze. Ich muß Ihnen aber auch sagen,
daß ich meine Kartenhäuser gern niederreißen lasse, weil in einer Stunde wieder ein neues da ist. An
mir ist von Kindesbeinen an ein Philosoph verdorben, ich hasche immer nach der ersten besten
Wahrscheinlichkeit, die mir in die Augen flimmert, und die liebe, bescheiden nackte Wahrheit kommt
dann ganz leise von hinten und hält mir die Augen zu. Eine lange Kette von Ideen, wo eine die andere
gibt, bis man, wenn man eine Weile gereist hat, die letzte findt und sich seines Zieles freuen kann, ist
für meine Seele eine wahre Sklavenkette wie glücklich bin ich, wieder an Ihrer Hand zu gehen, wenn
ich lange genug auf blumigten Wiesen herumgesprungen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Welch ein Wust von Allegorien! kann ich doch nicht davor, daß meine Seele jetzt so gestimmt ist.
Mein Hauptsystem bleibt dennoch unverrückt, und das ist freilich einfach genug, aber . darum für
meine Seele zuträglicher, weil sie Pein empfindet, wenn sie sich <aq>lange</aq> bei Wahrheiten aufhalten soll.
Und das ist dieß: es geht mir gut in der Welt und wird mir in Ewigkeit gut gehen, so lang ich selbst gut
bin, denn ich habe dort oben einen sehr guten Vater, der alles was er gemacht hat, sehr gut gemacht
hat und wenn sich dies letztere mir nicht allezeit so darstellt, so liegt die Schuld an meinem
dummen Verstande. Eine gewisse Offenbarung bestätigt dies mein Gefühl <aq>tant mieux</aq>! sie sagt mir,
das anscheinend und wirklich Böse, in der Welt, fang jetzt schon an und solle dereinst ganz
aufgehoben werden, und das hab ich dem Sohne Gottes zu danken, ob nun seiner Lehre allein, oder
auch wirklich seinem Verdienste (wenn anders, um von Gott nicht menschlich zu reden, bei Gott ein
Verdienst statt finden kann, denn bei ihm ist alles Gnade), <aq>tant mieux</aq>! sage ich, das ist eine schöne
frohe Botschaft (Evangelium); ich glaube sie herzlich gern und freue mich darüber und dies, denk ich,
ist der Glaube, der mich selig machen soll und schon hier glückselig oder selig macht, denn diese
beiden Wörter, denk ich, sind auch eins. So werden wir, denk ich, in dem Extrakt unserer Religion
ziemlich nahe bei einander stehen. Freilich haben Sie in vielen Punkten, die ich mir unterstrichen
habe, mich so unter sich gekriegt, daß ich mich kaum noch rühren kann, in andern bin noch <aq>in
suspenso</aq>, als daß Gott gar nichts in uns wirken kann u. a. m., wovon ich mündlich mehr mit Ihnen zu
reden hoffe. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Das Eine bitt ich mir aus, nicht so verächtlich von dieser Welt zu sprechen. Sie ist gut, mein Gönner,
mit allen ihren eingeschlossenen Uebeln, das Reich Gottes, wovon Christus immer redt, ist nicht
allein in jenem Leben zu hoffen, denn er selbst hat uns im Vaterunser beten gelehrt „dein Wille
geschehe im Himmel, wie auf Erden“. Wenns Glück gut ist, bin ich noch immer ein heimlicher
Anhänger vom tausendjährigen Reiche, wenigstens glaub ich gewiß, daß der Zustand unserer Welt
nicht immer derselbe bleiben wird. Und christlichphysisches Uebel muß immer mehr drin
abnehmen, wenn das Moralische darin abnimmt, und das wollt ich beinahe beweisen, wenn anders
eine Seele, die immer <aq>entrechats</aq> macht, wie eine Närrin, in ihrem Leben jemals etwas wird beweisen
können. <line type="empty"/>
<line tab="1"/> Eine Lieblingsidee haben Sie, mein Theurer, und das freut mich, weil ich auch <aq>eine</aq> habe. So bin ich
Ihnen doch in einem Stück ähnlich, denn, wenn es auf eine Aussicht in eine aneinanderhangende
Reihe von Wahrheiten ankömmt, da kann ich mich mit Ihnen nicht messen. Wissen Sie worin unsere
Lieblingsideell bestehn? Die Ihrige ist die <aq>Liebe</aq> und die Meinige, die <aq>Schönheit</aq>. Vielleicht stehn
diese, beide, nahe bei einander, oder fließen gar zusammen wenn nur meine Brille schärfer wäre!
So viel ist gewiß, daß die letztere die einzige Idee ist, auf die ich alle andern zu reduzieren suche. Aber
es muß die echte Schönheit sein, die auf Wahrheit und Güte gegründet ist, und in der höchsten und
faßlichsten Uebereinstimmung der Henker mag sie definieren; ich fühle sie und jag ihr nach; freilich
tritt sie mir noch oft hinter eine Wolke, aber ich werde sie einmal finden diese allein kann mein Herz
mit Liebe gegen Gott (die Schönheit <aq>in abstracto</aq>) und gegen alles was geschaffen (die Schönheit <aq>in
concreto</aq>) füllen. Freilich so nach Graden, so wie die Schönheit selber Grade hat. Da haben Sie meine
Brille Ihre ist vortrefflich, aber ich kann noch nicht dadurch sehen, darum sind wir Individua. Genug,
wir passen in das Ganze das Gott geschaffen hat und das ihm gefallt, so verschieden wie es ist, denn
in der Natur sind keine vollkommene Aehnlichkeiten, sagen die Philosophen. Genug, ich fühle eine
Affinität zu Ihnen, die ganz erschrecklich ist und obgleich ich die Lichtstralen, die Sie mir zuschicken,
nicht mit den meinigen vereinigen kann, so mag ich sie doch gern damit verschwägern. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Nun ists Zeit, daß ich vom Pegasus herabsteige, sonst wirft er mich ins Meer. Kaum hab ich so viel
Athem Ihnen zu sagen, daß ich, zu der höchsten Uebereinstimmung der Welt das Zutrauen habe, daß
sie mich nach Straßburg in Ihre Armen führen wird. <line type="empty"/>
Lenz.</letterText>
<letterText letter="27">Landau d. 10ten Dec. 1772. <line type="empty"/>
<line tab="1"/> Der Ausdruck in einem Briefe an meinen Bruder, mein Glück mag ewig in Dämmerung liegen
bleiben, ist mir leid: doch hab ich nur damals an das zeitliche Glück gedacht und dieses braucht
freilich nicht zu glänzen und kann dennoch solid seyn. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Dass ich mir auch selber wohl viele Leiden zugezogen, gestehe ich gerne, und wer sollte wohl so
weislich handeln, dass er nie erst durch Erfahrung nöthig hätte klug zu werden. Die Liebe eines in der
That liebenswürdigen Frauenzimmers kann ich aber keine Klippe nennen, an der meine Tugend
Gefahr gelaufen. Soviel ist richtig, dass die Klugheit will, dass ein Reisender sein Herz auch vor der
reinsten Leidenschaft verwahre, und das war der Rath meines Mentors, meines weisen Salzmanns,
für den ich keine Bewegung meiner Seele geheim hielt. Schade, dass er diese zu spät erfuhr, denn das
kann ich nicht leugnen, dass sie bei aller ihrer Süßigkeit, ihre Bitterkeiten hat. Unglücklich aber macht
sie mich nicht und soll auch in dem Plan, den die gött· liche Schickung mir zu durchlaufen
vorgezeichnet hat, nichts verändern, sollte gleich die Wunde, die sie in meiner Seele zurückgelassen,
unheilbar seyn. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Wie traurig ist es für mich, dass ich Ihren Vorschlag, ungesäumt ins Land zu kommen, nicht so·
schnell vollziehen kann, als es Ihr Vaterherz zu wünschen scheint. Aber Sie schreiben mir, Sie
wünschten mich vor Ihrem Ende noch zu sehen und zu seegnen haben Sie denn nur einen Seegen,
mein Vater? Ich hoffe zu Gott, dass er Ihr und meiner besten Mutter Leben noch eine Weile fristen
wird. Meine Verbindungen mit den Herrn von Kleist sind von der Art, Dass ich den eigentlichen
Zeitpunkt meiner Zurückkunft nicht bestimmen kann. Der älteste besonders will nichts davon hören,
dass ich ohne ihn heimreise. Sie werden mir vergeben, Dass ich über diesen Punct ein Stillschweigen
beobachte das ich für meine Pflicht halte. Noch einmal aber bitte ich Sie, sich über mein Schicksal
und meine gegenwärtigen und zukünftigen Umstände, keine vergebliche Unruhe zu machen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Dem guten Herrn Pastor Müthel danke ich für das schmeichelhafte Zutrauen, das er in mich zu setzen
beliebt. Er könnte sich aber auch vielleicht irren, wenn er zu viel Gutes von mir erwartete. Wenn ich
im Lande wäre, sollte mich nichts abhalten, so freundschaftliche und vorteilhafte Anträge
anzunehmen. So lange das aber nicht ist, wird er die Bildung seines Sohnes dem überlassen, der ihn
erschaffen und auch die unscheinbarsten Mittel zu seinen ewig nothwendigen Zwecken anzuwenden
weiß. Versichern Sie diesen mir so werthen Mann übrigens von meiner ganzen Hochachtung,
und sagen ihm, Dass ich nicht ohne Widerspruch meines Herzens, welches in schöner
Uebereinstimmung mit dem seinigen, gern für seinen Sohn voll süßer, kleiner Sorgen klopfen möchte,
seinen Vorschlag ablehne. Andere Sorgen fordern dieses Herz, die sich freilich nicht so durch sich
selbst belohnen, wie jene wohl tun würden. Kann ich aber in der Folge der Zeit irgend etwas
beytragen seine Wünsche zu befördern, so will ich es mit Freuden thun.</letterText>
<letterText letter="28"><line tab="1"/>Mein Schatten soll Ihnen Rö schiken ich bin froh mich Ihnen als Physiognom nur im Profil zeigen
zu dürfen, von meinem Brustbild machte Ihnen die <aq>Güte Ihres Herzens</aq> eine viel zu vortheilhafte
Zeichnung. Dafür bin ich aber Herz genug gewesen, das Ihrige an meine Lippen zu drüken u: einen
Wunsch gen Himmel zu schiken, den Mann von Angesicht zu sehen, mit dem ich einen Briefwechsel
scheüe, bis ich ihn inniger u: vertrauter führen kann das heißt bis Ihre <aq>gute</aq> Meynung von mir nicht
mehr Vortheil ist. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich bin den Armen eines Vaters entschlüpft, der so redlich dachte als Sie, obgleich nicht so aufgeklärt.
Seyen Sie mein Vater! Lenz.</letterText>
<letterText letter="29"><line tab="1"/>Hören Sie liebster Papa! ich habe eine Schrift von Ihnen gelesen die den Tittel führt … Keine
Versöhnung geschieht ohne Blutvergießen ich sag Ihnen nichts von den schönen Sachen die ich
drin gefunden selbst die Hauptidee die vielleicht manchen kalten Grübler erwärmen aber mir
gefällt es nicht, daß Sie unsern Gott wollen sterben lassen, weil es so seyn muß und in dem ganzen
Naturreich alles Leben durch Tod eines andern erhalten werden muß <line type="empty"/>
Wie wär es, wenn wir den Tod Christi vielmehr als ein Symbol und Vorbild von den Erfolgen unsrer
Mor oder Immoralität ansähen? Die Idee ist apostolisch, das weis ich, zweyten Thessalonicher
lesen Sie nur. Christus war Gesetzgeber mehr durch sein Leben und Thaten als durch seine Worte. Er
heilte Kranke mit seinem Athem, mit seinem Anrühren (hier kommen Sie mir zu Hülfe) alles
symbolisch, ich bin der Herr dein Arzt nennt er sich im 2 Buch Mose und <gr>ίησουσ</gr> in den Evangelisten.
Heißt: folgt ihr meinen Gesetzen voll Liebe, so verlieren sich, verschwinden alle Krankheiten Cörpers
und Geistes (merken Sie wohl die unsaubern Geister) jenachdem ihr meinem Cörper <ul>homogener</ul>
werdt (siehe Lavater) <line type="empty"/>
<page index="2"/>
Das ist gelallt. Uebersetzen Sie es in Männersprache. <line type="empty"/>
Ich küsse Ihnen die Hand für den Februar und bitte um weiters.
Adieu Adieu <line type="empty"/><line type="break"/>
<align pos="right">JMR Lenz</align></letterText>
<letterText letter="30">Hier, meine liebe Freunde <aq>Lenke</aq> und <aq>Röderer</aq> den März.
April ist nich nicht gemacht. Habt ihr <aq>Herders älteste Urkunde des Menschengeschlechts</aq>, so lest
miteinander, und sättigt Euch, und wärmt euch an der Morgensonne.
Ach! daß er mir mein tiefster Wunsch so gut würde, dieß Jahr Euch auch nur eine Stunde zu sehn
Lebet und leidet, und liebt! <line type="empty"/> <line type="break"/>
L.
Den 22. April 74.</letterText>
<letterText letter="31"><line tab="1"/>O ihr gute Kinder nicht <ul>meine</ul> Gottes!! Kinder, denn wir alle sind <ul>Brüder</ul>, wie gewinn ich euch so
lieb! wie gern mögt ich euch sehen u: ans Herz drücken und ich glaub, es wird uns so gut u:
wenns nur in 16. Wochen u: dann nur ein Stündchen möglich ist, ists VaterZärtlichkeit deßen, in
dem wir leben, weben u: sind <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Wenns Gott ausführt, was er angefangen hat, so reis ich in 7. oder 8. Wochen ins Schwalbacher, oder
ein ander Bad in der Gegend. Auf Briefe, die ich alle Posttage von Zimmermann erwarte, wirds
ankommen, wohin eigentlich, wann u: welchen Weg ich reisen werde? Aber entweder in der Hinreise
oder Rückreise werd ich, wenns Gott will, über Straßburg gehn nun mögt ich ehestens, so sicher
wie möglich wißen <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Wann es Ihnen, mein lieber Lenkze, am schicklichsten wäre, daß ich Sie besuche? Wann ich Sie am
wenigsten verfehle? am sichersten genießen könne? in 6 oder in 12. Wochen? Sodann wies zu
machen, daß ich den einen, oder die anderhalb Tage, die ich zu Straßburg seyn soll, denn länger kann
ich nicht, Sie unter der Zahl der 6. oder 8. Freunde, die ich besuchen soll u: wilI, nicht verliere. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Mir ist ein wenig bange. Den schwachen ehrlichen Seelen mögt ich zum Seegen seyn; es liegt mir viel
dran aber, wo mehr Freyheit ist, mögt ich ruhen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Rathen Sie mir, wie ichs einrichten soll! könnten Sie allenfalls mir erst ein paar Meilen
entgegenkommen oder mich sodann ein paar Meilen begleiten oder, wo ich aussteigen, <aq>Logis</aq>
nehmen soll. Salzmann hat mich zu sm Vater eingeladen. Herr Hebeisen wird mich vermuthlich auch
wollen. Ich aber sehe, daß ich schrecklich schenirt wäre, wenn ich zu dem einen oder andern, oder
irgend einem meiner Bekannten gienge. Also werd ich, wo möglich, in ein öffentliches Wirthshaus
gehen, das Ihnen am nächsten u: bequemsten ist. In welches? <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Sodann wollen wir reden, was wir im Herzen haben, wie wenn wir schon 30. Jahre mit einander auf
und niedergiengen und uns unsers Seyns, und Miteinanderseyns u. Ewigseyns freuen <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Aber Ihr Bild muß ich noch vorher haben von der Hand, die Röderern zeichnete, etwas größer als seins
seins u: schärfer gezeichnet. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Weiter schreib ich izt nichts. Mein Vater ward vorgestern begraben. Ich erhielt Ihren Brief eben, da
sein Sarg verschlossen war. Des redlichen Manns Todtenbild sollen Sie haben. Grüßen u: Küßen Sie
Röderer. Er ist mir Bruder. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Weil ich entweder vor oder nach Schwalbach durchs würtembergische muß, so muß ich bäldest
meine Einrichtungen machen, u: also schnell Antwort von Ihnen haben. Ich bin, so lang ich bin, Ihr <line type="break"/>
Lavater <line type="empty"/>
Zürich d. 10. May 1774.</letterText>
<letterText letter="32"><line tab="1"/>2. Worte! Nur Ihr seyt m: Herzen nahe, kommt mir aber kommt mir allein wenn ichs Euch sagen
werde bis auf Basel entgegen: Ich gedenke, so Gott u: m. Gesundheit will in 4. Wochen abzureisen.
<nr> </nr> bin ich solche Freunde zu haben doch ist mir bange, Kinder, daß Ihr Waßer aus der Dürre, u:
Leben von dem Todten erwartet o wie tief unter aller Erwartung bin ich obs falsche oder wahre
Bescheidenheit uns oder <ul>Wahrheit</ul> sey, werdet Ihr sehen. Doch bring ich Euch ein redlich offenes
Herz, das eures schrecklich gern kennt giebt durchs Empfangen u: empfängt durchs Geben <line type="empty"/>
<line tab="1"/><ul>Lentz</ul> bey Dir also steig ich ab bey Dir leb u: wes ich, aber ach! Nur einen Tag u. einen Sonntag
Sagen darf ichs hoff ich <ul>Dir</ul> o daß ich vor einigem Wiederwillen <nr> </nr> würde, wenn Du etwas mehr als
Teller Waßer, Gabel u. Löfel um meinetwillen auf Deinen Tisch legen würdest.
<ul>Goethe</ul> will mich auch bey sich haben in Erfurth thu, was du willst ihn fortzureitzen: doch wär
ich vielleicht der <ul>Schwächere</ul> Straßburger Freunde wagts denen ich <ul>Freyheitsgeist</ul> mitbringen
mögte, <nr ></nr> doch thue was du willst. Gott stärke dich Du edler Schwacher! Es ist eine der bittet, daß
dein Glaube nicht abnehme u: der ist mehr als L</letterText>
<letterText letter="33"><line tab="1"/>Wir haben Deinen Brief vom 29ten zwey Tage später erhalten als den vom 4ten Junii Mein ganz
Conzept ist verrückt durch Deine beschleunigte Kunft. Neue Geduldübung für Dich ich sehe Du
kennst weder mich noch Röderer der Situation nur dem Herzen nach. Und wir haben beide oft die
Augen größer als den Bauch. Ich bin Gesellschafter eines Curländischen Cavaliers der im Begrif steht
nach Hause zurückzugehen, mich hierzulassen. Ich zählte drauf wenn Du laut Deiner vorigen Briefe in
drey vier Wochen abreisetest, er würde gegen diese Zeit verreist und ich frey seyn. Also würden wir
Dir förmlich entgegen reisen, dich herholen können etc. So aber muß grad itzt das Schicksal seinen
jüngern Bruder der bey einem andern Regiment steht mit seinem Regiment gegen den Tag Deiner
Abreise hieherführen (den 11ten haben sie Ordre erhalten auszumarschiren) der Bruder erwartet ihn
um ihn noch das letzte Mal vor seiner Heimreise zu sprechen und ich in die allergeringsten ihrer
beyden Geschäfte verwickelt darf mich nicht von ihnen trennen besonders da diese Reise in dem
ganzen Lebenslauf des ältesten Epoque macht. Jetzt mein lieber theurer Lavater wirst Du noch
zürnen daß ich nicht Wort halten kann? Die Deutschen faßten ihre Entschlüsse im Rausch und
überlegten sie nüchtern. Aber hör etwas. Wir wollen uns so Gott es will mit Röderer <page index="2"/>
aufmachen und nach Colmar gehn, wo Du Donnerstags (falls Du mit der <aq>Diligence</aq>) zu Mittag
eintreffen mußt. Da essen wir zusammen und reisen bequemlich nach Strasburg wo Du nichts desto
weniger (wenn nicht in meinem Hause, in dem anstoßenden, das schon gerüstet dazu und noch
bequemer weil Du keine Treppen zu steigen und bessere Aussicht hast) absteigst, damit wir allein
sein, frey ununterbrochen. Siehst Du da feyren wir den ganzen ersten Abend und drauf folgenden
Morgen in süßer stiller Einsamkeit, hernach wird freilich das Geräusch Deiner Bekanntschaften
angehn, das Du nicht ganz vermeiden kannst. Das Begleiten ins Schwalbacher Bad ist nun ganz
unmöglich, mein Herz und alle meine Wünsche sollen Dich begleiten, aber ich bin nicht frey ich
bin vieles nicht. Nimm vorlieb wie ich bin, Du der Du vom Apostel Paulus auch Verträglichkeit mußt
gelernt haben, meine Freiheitsstunde (das hoff ich zu Gott) wird auch schon einmal schlagen und
dann will ich anders seyn. Das Gesicht von Deinem verklärten Vater hab ich alleweile vor mir und
kann mich nicht satt dran sehen. Solche Köpfe können nur in einer Republick gebildet werden, das
sind <page index="3"/> Züge die in keinem monarchischen Staat gesehen noch gehört noch empfunden werden
können. Ach daß er lebte! Hat er uns doch seinen Sohn gelassen und ein Brutusherz in ihm. Lebe
wohl! <line type="empty"/> <line type="break"/>
JMR Lenz
<sidenote pos="bottom" page="2" annotation="am unteren Rand der zweiten Seite">
<align pos="center">ich wünscht ich könnte den Kopf in mein innerstes Herz hineinzeichnen damit er mir zu allen Stunden
und Augenblicken gegenwärtig wäre</align> </sidenote>
<line tab="1"/>Sollte das Schicksal meinen Willen bis auf den Grad zwingen daß ich auch nicht bis Colmar
entgegen, wie denn grad die Tage kritisch sind und überhaupt ich nicht gern mehr versprechen als
halten mag so kommt doch Röderer gewiß, der kein Diener des göttlichen Worts noch; doch seine
Verhältnisse wird er Dir selbst detailliren. <line type="empty"/>
<hand ref="11"><line tab="1"/>Ich Röderer umarme Sie tausendmal und will auch itzt lernen zufrieden seyn in mancherley Fügungen
Es genese Ihr Knabe! Guter Gott erfreue einen Vater der schon manche Freude manchen denen
Kindern gemacht hat. </hand>
<page index="4"/>
<note>Adresse</note>
An Herrn
Herrn Diaconus Lavater
zu Zürich</letterText>
<letterText letter="34"><line tab="1"/>Morgen also, Sonntags den 12. und nicht Montags vereis ich auf Basel bin ich nicht wenn ihr
kommt, Brüder, bey den 3. Königen, so bin ich bey Hrn. Wilhelm Brenner bey der <aq>St. Clara</aq> in Basel. <aq>Ihr</aq>
seyd das Ziel meines Verlangens Ihr meine künftigen baldigen Mitarbeiter Kommt sobald ihr
könnt, trefft ihr mich nicht mehr in Basel an, weil ich Euch entgegen eile, so ists auf dem Wege, daß
ich Euch treffe am Staub Eures Wagens wird ich Euch kennen und das Schnauben Eurer Rosse wird
auch nicht täuschen. Am Montag Mittag bin ich q. g. in Basel also verlirt keine Zeit, wenn ihr micht
sehen wollt. Lebet und liebet <line type="empty"/>
Z. den 11. Jun. 74. <line type="empty"/>
Lavater. <line type="empty"/>
<note>Adresse</note>
An Herrn Röderer, Candidat, bey der neuen Kirche in Straßburg
<note>Nach FSt I, S. 294, hat Lenz auf der Außenseite notiert: „Hofrath Deinet in Frkfurt am Mayn“</note></letterText>
<letterText letter="35"><line tab="1"/>Seelen! Ich komm erst am Donnerstag Abend auf Straßburg. Wenn ihr dieß leset, bin ich in Colmar
bey dem blinden <aq>Pfeffel</aq> zu erfragen Ich kann nicht anderst. Lieber <aq>Lenz</aq>, schenire dich keinen
Augenblick! Du kannst nicht glauben, wies mich freut, wenn du an meinen Gauben, an mich
glaubest. Euere Umstände sagt Ihr mir so, wie hr sie fühlt. Ich kann wenig, nichts ändern, aber
tragen helfen, durch Mitgefühl. Adieu. <aq>Passavant</aq> ist auch ein Mensch. Was du willst will ich dir
erzählen. Adieu. <line type="empty"/>
Den 14 Juni 74. spät.</letterText>
<letterText letter="36"><hand ref="11">
<line tab="1"/>Liebster Bruder! Ihre zwo Sturmtage sind vorbey, und Sie wieder fort. Sie reisen ja wie die Apostel,
und die Ruhe die Sie haben bleibt in den Reiswägen sitzen wo sie noch obendrauf der Staub stöhrt.
Mag die Lebenskraft Gottes ob Ihnen schweben und den Saamen befeuchten den Sie ausstreuten,
mag vstündiger Schlaf bey Ihnen die Wirkung von längerem haben und Ihnen der Glaube helfen der
mir Wunderglaube ist. Ihnen folgt mein Herz nach nicht meine Worte. Dunkle! dunkle Wünsche
drinne die ich denen zugesellen die mir noch immer erfüllt wurden. Sie waren mir so nahe so nahe!
so sprachvoll und so stumm! Nicht Mangel an Vertrauen wars, denn ich weiß es, mein Herz steht
Ihnen offen aber ich weiß es was es ist: meine Empfindung ist noch nicht aufgelöst! Und ich seufze
nach dem. Wos geschehn wird weiß der der über meine Existenz wacht und in dem ich allein ruhen
möchte!! Dort drüben denke ich, wohin mir ein Alpenhohes Gebürg den Blick verbeut. Ich bin nicht
unruhig ängstlich wollt ich sagen bin ich nicht, aber ich strebe. O mein lieber! Nicht stöhre itzt
Mitgefühl die ganze Wonne, die ich über Sie hin wünsche und die Ihnen der Geber schenkt! <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Grüssen Sie Goethe. Eine Ode auf Erwins himmeldeutenden Finger versprachen Sie. Ihr … Herr Pf.
Bekommt am <note>Planetensymbol für Mittwoch</note> Ihr Billet in einem von Lenz und ein Paar Worte von mir
laufen mit. Ihnen aber blick ich nach und bin <line type="break"/>
O mein Theuerster! <line type="break"/>
Ihr Röderer.
Straßburg d. 18. Junius 74.
Physiognomik lehrt Gott von Angesicht zu Angesicht schauen. Gott und Natur effervesciren mit
einander auf unaussprechliche Arten, die sich nie unter allgemeine Regeln bringen lassen.
Das neue Testament ist mir eben so dürre Wüste ohne das alte, als das alte ohne das neue.
Die Opfer waren kein Vorbild auf Christum aber Christus war ein Gegenbild der Opfer.
Die Opfer waren Gesetzgebung für die Juden, Schwung ihre Gesetzgebung in Gang zu bringen.
Christus hob die Opfer auf um durch diese Wohlthat uns die Gottheit lieb zu machen.
Das Leiden Christi ist ganz und gar symbolisch. Die Juden litten für ihre Sünden am Vermögen, wir an
Leib und Seele und Christus leidet mit uns.
Tauffe und Abendmahl haben gar keinen Zweck, wenn sie nicht täglich wiederholet werden. Die
Worte: „Das ist mein Leib“ sind unter allen Worten Christi ganz allen buchstäblich zu verstehen. Bey
jedem Bissen den ich in Mund stecke, jedem Tropfen den ich trinke, wünscht ich so zu denken
meinen Genuß zu vergöttlichen.
<aq>1 Joh. III. 9.</aq> pekriqhsan proV auton sperma Abraam esmen ist das gründlichste was jemals von
Psychologie ist gesagt worden.</hand>
<note>Lenz Hand</note>
In Röderers Brief hin wie, was von Dank? Ich Dir ja ich Dir tausend Dank für tausend
tröstliche Gedanken, die Du mir in meiner Einsamkeit nachgelassen alle auf die Zukunft verfolge
Deinen Weg am Ziel hängt der Kranz, am Ziel und wenn Du fortstürmst, wird Dich niemand
überholen.
Hier gehst Du durch gute u. böse Gerüchte, wie es allen Warheitsausbreitern, wo Licht hinfällt tritt die
rückweichende Nacht desto dichter zusammen. Die Kopfhänger ärgern sich daß Du grade gehst,
weissagen Dir Hochmuth und Fall falsche Propheten. Der bessere Theil Menschen bewundert Dich,
liebt Dich viel fragen nach Dir, die Dich nie gekannt heut ist ein Franzos bey mir gewesen sich
Deine Schrift wider den Landvogt Grewel auszubitten. Die Geistlichen sind zwar noch über Dich
geteilt doch hast Du bei den meisten durch Deine Gegenwart Dich unaussprechlich legitimirt
Lies Röderers Gedanken und schreib ihm zurück drüber Meine Hausleute wollten ihren Augen nicht
trauen daß Du sie grüßtest und danken mit Tränen u. Enthusiasmus. Mit Tränen haben manche Deine
Klage wider den Landvogt schon angehört und Dich geseegnet.
Fleuch fort fleuch auf Deinem Wagen Lavater! und laß Dich von niemand überholen.
<align pos="right">Lenz</align>
<sidenote pos="top" page="1" annotation="am oberen Rand, horizontal gespiegelt">
Willstu mir eine süsse Stunde machen so schick Kleisten einen Gruß. - Aber bring bring Göthen von
mir was? Dich. Ich möcht ihm meine Seele schicken denn ich habe Hofnungen zu ihm, die wie die
Sonne vor Tage nur noch den Antipoden sichtbar. Ach ich leide aber Bruder Eure Hofnung
schimmern mir in meiner Nacht, daß ich den zögernden Tag nicht anklage.</sidenote></letterText>
<letterText letter="37"><hand ref="10">
[…] Herrliches Briefchen von Lenze an Goethe etc. <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Giebst mir ein, ich soll dich bitten.
<line tab="5"/>Wie der König <aq>Salomo</aq>.
<line tab="5"/>Herr, ach, Herr was soll ich bitten,
<line tab="5"/>Geh hinauf zu deinem Himmel,
<line tab="5"/>Bitt um dieses Stückgen Himmel!
<line tab="5"/>Und ein wenig Sonnenschein!
<line tab="5"/>Aber laß mir Bruder Goethen,
<line tab="5"/>den du mir gegeben hast.
<line tab="5"/>Dessen Herz so laut zu dir schlägt.
<line tab="5"/>O für ihm bitt ich mit Thränen
<line tab="5"/>Halt ihm nur den Rücken frey
<line tab="5"/>Platz wird er sich selber machen
<line tab="5"/>Nur beschirm mit deinem Schilde
<line tab="5"/>Ihn vor Feinden, mehr vor Freunden
<line tab="5"/>Die an seinen Arm sich henken
<line tab="5"/>Und den Arm ihm sinken machen
<line tab="5"/>Ach! bewahr ihn nur vor Freunden
<line tab="5"/>Die ihn nicht verstehn, und gerne
<line tab="5"/>Ihn zu ihrem Bilde machen.
<line tab="5"/>Oder kanns nicht seyn, so mache
<line tab="5"/>Mich nur nicht zu seinem Freunde!</hand></letterText>
<letterText letter="38">Zürich, Mittw. den 31. Augstm. 1774. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich habe Deinen Brief vom 12. Aug. den ich so gern weitläufig beantwortete; meine Umstände
wollens nicht und ich muß mit Ernst nach einer laconischen Kürze ringen, sonst muß ich mir manche
dergleichen Freuden, wie z. B. Briefe an Dich, versagen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Von meinen Vorlesungen nichts mehr; sie sind gewiß nüzlich: aber ich sollte mehr wißen, vor mich
und das Publikum, denn <aq>mundus vult decipi</aq>. O hätt ich Gelehrsamkeit genug, um mit mehr Ansehen
zu zeigen, daß man ohne Gelehrsamkeit Philosoph Christ Kenner des Geistes der Götti.
Offenbarungen glückselig seyn kann. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Raisonnir mir, mein Liebster, über den Menschen so viel Du willst; nur vergiß künftig nie: daß, wenn
der Mensch, das Menschengeschlecht allenfalls in einem Zustande des Verfalls, der Krankheit ist,
und aus diesem Gesichtspunkte angesehen wer· den muß, daß dieß alsdann in manches Urtheil
vom Menschen gewaltigen Einfluß hat. So, wenn der Mensch <aq>krank</aq> ist, so darf man ihm Diätregeln
vorschreiben, über die er sich nicht als eine grausame Einschränkung seiner Freyheit zu beschweren
hat. Nimm, Lieber! den Begriff der menschlichen Freyheit aus dem Reich der Idealen herunter ins
Reich unserer schlecht und rechten Wirklichkeiten! so wirst finden: Ohne Befehle und Verbote kannst
kein Kind auferziehen; also Einschränkung der Freyheit. Es werde nur Liebe und Zutrauen zum Vater
zum Grundtrieb gemacht. Wär nun Analogie zwischen Vater und Kind, und Gott und Menschen (und
ich glaube es ist größer als man denkt) so muß <aq>geboten</aq> und <aq>verboten</aq> sein; nur liege auch da Liebe
und Zutrauen zum Grund, sonst ists Sclaverey (und doch auch so wäre nur noch die wenigste,
erträglichste und unumgänglichste Sclaverey wovon die Schuld nur <aq>einseitig</aq> ist). <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Aber freylich hat Gott nicht so eingeschränkt, als der Eremit und die Nonne es wähnen; darüber,
Liebster, sind wir ganz einig. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Weinen mögt ich mit Dir, wie die Mönchstugend tausend gute Samen in der Menschennatur erstickt.
Ich irrte ehedem hierin auch sehr. Gott zog zurück. „Christus hat nichts ausrotten wollen, was Kraft
und Anlage im Menschen ist!“ Goldene bestäubte verkannte Wahrheit! Aber, Liebster! wie manches
Scrüpelchen, das Dir vielleicht doch mehr als recht ist, im Wege steht, müßt wegfallen, wenn wir uns
nur einige Zeit sähen. Von d. Apocalypse izt nichts. Aber „draußen sind die Hunde <aq>etc.</aq>“ das ärgert
dich? Gibts einst eine Sammlung der Guten die sich einen Himmel machen, willst Du denn die
Hunde wider drinnen haben, und die Ehebrecher? u. die Bösewichter? In den Spital mit ihnen, und
sie curirt mit scharfen Mitteln, wenns so seyn muß. pppp. <line type="empty"/>
Donnerstag morgen um 7 Uhr.
So eben empfang ich Deinen Brief an mich und <aq>Paß</aq>. und <aq>Clavigo</aq>. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Bin ich nicht ein gerechter Mensch, daß ich Clavigo liegen lasse und erst gehe den Brief an Dich zu
vollenden?
<line tab="1"/>Noch eins auf den vorletzten. Man hats in unseren Tagen besonders sehr schwierig machen, wie
Jesus und daß er nicht buchstäblich zu verstehen sey pp. und ist die Sache so simpel! so schlecht
und recht, so buchstäblich wie möglich, nur ohne Eulenspiegel-Chicane, alles in der Bahn des
gemeinen <aq>bon sens</aq> wie Kinder einen Vater verstehen. (Ausgenommen was seiner Natur nach
räthselhaft seyn mußte, prophetisches und was er genirt war herauszusagen.) <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Z.B., wenn ich Dir sagte, ich hab <aq>Deinen Hofmeister</aq> neulich gelesen ich rathe Dir, schreib nichts
mehr!“ (was ich aber weder in der gegenwärtigen, noch zukünftigen Welt nie zu Dir sagen werde).
Nun sieh, wie simpel buchstäblich das zu verstehen wär. Wie gefiel uns nun folgendes Raisonnement
(der neumodischen Theologen) darüber: „das könne unmöglich im eigentlichsten Wortverstande
genommen werden, daß Du keine Feder mehr anrühren, keinen Brief u.s.w. <aq>schreiben dörfest u.s.w.</aq>
also, weils nicht buchstäblich zu verstehen sey, so werde es sagen wollen, Du sollest eben keine
Folianten mehr in Druck geben, bisweilen ein Drama habe just nichts zu sagen, es sey ja nicht
buchstäblich zu verstehen das nichts“ <aq>etc.</aq><line type="empty"/>
<line tab="1"/>Lav. ist höchst vergnügt von seiner Reise zurückgekommen, hatte herrliche Seelen angetroffen
Engelseelen in weiblicher und männlicher Gestalt die Dich, Bruder, mit der Welt aussöhnen würden.
pp. Aber des Wiedersehens Wonne, o mein Lenz! hättst Du auch einen Lavater, von dem Du Dich 10
Wochen trennen könntest, und ihn wiedersehen! Sonst hast Du Lavatern, so sehr Du ihn haben
kannst. Er spricht mit Enthuasiasmus von Lenzen. Und wir werden uns alle noch recht nahe kommen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Studierst Theologie? predigest? bist ordinirt? <aq>etc.</aq> Sag mir was hievon. Schick mir auch Deine und
Röderers <aq>Silhouettes</aq>. Grüß mir ihn brüderlichst. <aq>Paß</aq>. wird selbst schreiben. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Wie verstehst das „Was Gott an Goethe getan –“? Doch versteh ichs vielleicht, wenn ich <aq>Clavigo</aq>
gelesen habe. <line type="empty"/>
Verzeih mein Sudeln. Mein Kopf und Herz und Hand sudeln bisweilen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Siehst meine offenen Arme? Komm ich drücke Deine Brust an meine, und küsse Dich! Kannst beten,
so bitt auch für mich. <line type="empty"/>
Conr. Pfenninger. <line type="empty"/>
Deine Schriften erwart ich mit Verlangen. Es ist kein Zürcher so verliebt darein, wie ich. <line type="empty"/>
<note>Adresse</note>
Herrn <aq>Lenz</aq> durch Herrn <aq>Candid. Röderer</aq>, neben der Neu Kirch in Straßburg.</letterText>
<letterText letter="39"><note>gedrucktes Rundschreiben</note>
<line tab="1"/>Ich muß, ich muß es allen meinen nahen und fernen Freunden und Gönnern sagen, daß ich nicht
mehr im Stande bin, nebst meinen übrigen, ohne dieß sich täglich häufenden Geschäften, eine
weitläufige Correspondenz fortzusetzen. Weder meine Zeit, noch meine Gesundheit, noch meine
Vermögensumstände gestatten es. Zu dem kommen itzt besonders noch neue Hinderniße Ohne alle
Verletzung also der Menschenliebe glaub ich, mir wenigstens ein halbes Jahr alle Briefe von
meinen bisherigen und etwa neuen Correspondenten, <it>sehr dringende Fälle ausgenommen</it> brüderlich
verbitten zu dürfen. Helfet mir, liebe Freunde, und alle die mir wol wollen, wieder zu der
Ruhe, ohne welche ich weder mich, noch die mich hören ober lesen, selig machen kann. Wenn
ich gar zu vieles sen soll, so bin ich keinem Etwas, und mir selber nichts. Am allermeisten
bitt ich jeden, dem dieß zu Gesichte kommen mag, zuzusehen, daß mir mit Buchhändlerischen
Aufträgen, Subscriptions-Sammlungen und dergleichen durchaus für ein allemal, und mit
Zusendung aller Manuskripten zur Lesung und Beurtheilung — wenigstens bis Ostern 1775.
gütigst verschont werde. Gott wirds denen, die aus Liebe zu mir, mir diese Gefälligkeit
erzeigen, gewiß nicht unvergolten lassen. <line type="empty"/>
Zürich,
den 1. des Herbstmonats. 1774.
<aq>Johann Caspar Lavater.</aq> <line type="empty"/>
<note>Lavaters oder andere zg. Hand</note>
<line tab="1"/>Nur ein Zeichelchen, daß ich an Dich, und Röderer, als liebe Brüder denke! Ich kann, ich kann nicht
schreiben! Nicht danken! Ich habe nicht einmal Zeit, Arbeiten zusammen zu suchen, dich ich Euch
auftragen möchte, für mich zu thun. Verzeihet mir, glaubet an meine Liebe, obgleich Ihr wenig oder
nichts sehet. Schreibet mir viel, aber erwartet keine Antwort. Macht Ihr physiognomische
Beobachtungen; theilt sie mir <aq>Sans ápropos</aq> halb, quart, <aq>octav</aq> wie Ihr sie macht nur auf
<aq>octav</aq>blätchen mit. Auch Monatgedanken hab ich keine mehr gemacht. Liebet einander Brüder,
und mich, und grüßt alle und entschuldigt mich bey allen, daß ich Ruhe suche, nicht die Ruhe der
Trägheit. <line type="empty"/>
<aq>Z. den 2. Sept. 1774.</aq> <line type="empty"/>
<note>Adresse</note>
An Herrn Lenze im Finkweiler, in <ul>Straßburg.</ul></letterText>
<letterText letter="40"><align pos="center">Straßb. d. 7 Novbr. 1774.</align> <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Konnt ich mein edler Bruder! einen bessern Gebrauch von Deinem Briefe (den ich erst im August
erhielt) machen, als daß ich ihn einem zweyten Du, durch die Bande der Freundschaft näher mit
mir verbunden als durch die Bande des Bluts, meinem Bruder Goethe# <!-- Was bedeutet "#"? --> in Frankfurt zuschickte
und Dein Glück mit ihm theilte. Wie ich denn nichts geheimes für den haben kann. Dafür ward
aber auch Deine Verbindung von zwey gleich warm theilnehmenden Seelen hier doppelt gefeyert.
Was soll ich Dir viel drüber sagen? Glückwünsche zeigen von einer armen Seele, deren Leerheit
der Witz und strafbare Gefälligkeit zu bepappen sucht, aber das wahre Gefühl bindet die
Zunge, kehrt die Augen gen Himmel und läßt Tränen reden. Verstehst Du diese Sprache mein Brüderchen!
Einziger aus meiner Familie der mich versteht. Der Himmel belohnt Dich dafür. Er gab Dir ein
Weib und ich beneide Dich nicht. Ich segne ihn, daß er Dich vorzüglichen Glücks würdigt da Du es
vorzüglich verdienst. Kein wildes Zielen nach einem ungewissen Zweck, edles starkes Bestreben
einen kleinen glücklichen Zirkel um dich her zu machen und von ihm wiederbeglückt zu werden.
Dein vorjähriger Brief mit diesem zusammengehalten welch ein Gemählde von Deinem Herzen stellt
es mir auf! Dein letzter Wunsch, <ul>„eine eigene Hütte mit einer Freundin die die Mühseeligkeiten
dieses Lebens“</ul> p. er ist erfüllt, Du bist <page index="2"/> belohnt, edler Freund! kleiner großer Mann
in Deiner Genügsamkeit. Du wirst nach Deinem Herzen gewählt haben, also glücklich täglich neue
Vorzüge werdt Ihr aneinander entdecken, täglich neuer Beruf zu lieben und geliebt zu werden. Und
so unsterblich, noch übers Grab hinaus o ich muß mich wegwenden von Eurem Glück, wem zu essen
versagt ist steht mit Verzweiflung vor dem Gemähld eines Banquets. <line type="empty"/>
<sidenote pos="left" page="1" annotation=" am linken Rand der ersten Seite, vertikal">
#<!-- Was bedeutet "#"? --> Verfasser des Goetz v. Berlichingen, Clavigo, Leiden des jungen Werthers und einiger Kleinigkeiten. <line type="empty"/></sidenote>
<line tab="1"/>Du willst mein Schicksal wissen. Liebe Seele! was ist Dirs gedient damit. Daß ich Dich liebe weist du,
darum hätt ich immer noch länger schweigen können. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich bin jetzt frey, athme das erstemal dreist aus. Der älteste Kleist ist nach Kurland gereist, um
wiederzukommen, woran ich doch schon itzt zu zweifeln anfange. Sein jüngster Bruder aus Frankfurt
Oder kam grad an als der andre abgieng und ich mußte ein viertel Jahr bey ihm bleiben. Jetzt bewohn
ich ein klein Zimmer allein, speise täglich an einem Tisch wo einige meiner Freunde mitessen (die
einzigen die in Straßb. Liebhaber der ächten Wissenschaften zu sein sich nicht schämen) und unterhalte
mich ein wenig mühseelig von Lektionen die ich meinen Landsleuten in der deutschen Sprache und in der
Geschichte ihres Vaterlands <page index="3"/> ich meine Pohlen Curland Rußland gebe, da hier sehr theuer zu leben ist. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Mein Herz geht nicht müßig. Ich hab einige vorzügliche Freunde und Freundinnen und denk auch oft
an Euch. Wiewohl mir Papa und der Tarwaster das zum Verbrechen machen wollen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Grüße Papa! Sag ihm nur daß es mir ein wenig fremd vorkam, da ich nichts von ihm foderte nichts
von ihm erwartete, als Erwiederung meiner warhaftig zärtlichen Gesinnungen für ihn und meine
Blutsfreunde, mich dafür von ihm und Fritzen mit Ruten abpeitschen zu sehen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich will Dir hier ein klein Verzeichniß meiner Schriften anhenken, damit Du sie Dir anschaffest und
mich und meinen Lebenslauf daraus beurtheilest. Auf Kosten der Sozietät wurden gedruckt:
Lustspiele <del>des</del> <insertion pos="top">nach dem</insertion> Plautus. Auf Kosten der Weygandschen Buchhandlung: Der Hofmeister,
oder Vortheile der Privaterziehung, eine Komödie. Darnach, der neue Menoza oder Geschichte des
Cumbanischen Prinzen Tandi, eine Komödie. Darnach Anmerkungen über Theater, nebst
angehängtem Shakespearischem Stück. Diese drey könntest Du Dir zusammen binden lassen. Ostern
kommt mein letztes Stück heraus: der Poet, Weg zum Ehemann, das meinem Herzen am nächsten ist . <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Auch werden herauskommen Meynungen eines Layen zum <page index="4"/> Besten der Geistlichen: und
Stimmen eines Layen auf dem letzten theologischen Reichstage. Die Du Dir anschaffen sollst. wovon
aber der Verfasser unbekannt bleiben will. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Laß Dir die drey Komödien zusammen binden, den Hofmeister, den Menoza und den Poeten und
schenk sie Deiner lieben Frauen auf den Nachtisch als ob sie von mir kämen. Schreib ihr hinein von
meinetwegen <line type="empty"/>
<align pos="center"><line tab="5"/>Fühl alle Lust, fühl alle Pein
<line tab="5"/>Zu lieben und geliebt zu seyn
<line tab="5"/>So kannst du hier auf Erden
<line tab="5"/>Schon ewig seelig werden. </align><line type="empty"/>
<line tab="1"/>Und nun lebt wohl lieben Kinder! und laßt mich euch um den Hals fallen und mein Gesicht zwischen
euren verbergen. Laßt mich eure Küsse euch zubringen und indem ich so euch beyde zwischen meine
Arme an mein Herz drücke und Gott um Unsterblichkeit bitte für euch so schickt eure warmen
brüderlichen Seufzer auch für mich empor, daß auch mir es so gut werde oder wenn ich dies Glück
nicht verdiene daß ich müd von des Tages Hitze einst am Abend <insertion pos="left">meines Lebens</insertion> in euren Armen
ausruhe und sterbe. Ich behalte mir den Platz aus mein Bruder! willigen Sie drin meine Schwester? So
seegne sie Gott für den guten Willen Amen.
<align pos="right">Jakob Michael Reinhold Lenz.</align></letterText>
<letterText letter="41"><line tab="6"/>NachtSchwärmerey <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Ach rausche rausche heiliger Wasserfall
<line tab="5"/>Rausche die Zeiten der Kindheit zurück in mein Gedächtnis
<line tab="5"/>Da ich noch nicht entwöhnt von deinen Brüsten
<line tab="5"/>Mutter Natur mit dankbar gefühliger Seele
<line tab="5"/>Dir im Schoos lag dich ganz empfand
<line tab="5"/>Schämst du dich Wange von jenen Flammen zu brennen
<line tab="5"/>Schämst du dich Auge, von jenen geheimen Zären
<line tab="5"/>Jenen süssen süssesten aller meiner Zären
<line tab="5"/>Wieder still befeuchtet zu werden?
<line tab="5"/>Nein so hab ich, so hab ich die Menschheit
<line tab="5"/>Noch in der wilden Schule der Menschen
<line tab="5"/>Nein so hab ich sie noch nicht verlernt.
<line tab="5"/>Kann gleich mein Geist mit mächtigerm Schwunge
<line tab="5"/>Unter die Sterne sich mischen die damals
<line tab="5"/>Nur als freundliche Funken mich ganz glücklich
<line tab="5"/>Ganz zum Engel lächelten.
<line tab="5"/>Aber itzt steh ich, nicht lallendes Kind mehr,
<line tab="5"/>Itzt steh ich dar ein brennender Jüngling,
<line tab="5"/>Blöße mein Haupt vor dem Unendlichen
<line tab="5"/>Der über meiner Scheitel euch dreht
<line tab="5"/>Dank ihn, opfr ihm in seinem Tempel
<line tab="5"/>All meine Wünsche mein ganzes Herz.
<line tab="5"/>Fühle sie ganz die große Bestimmung
<line tab="5"/>All diese Sterne durchzuwandern
<line tab="5"/>Zeuge dort seiner Macht zu seyn.
<line tab="5"/>O wenn wird er, wenn wird er der glücklichste der Tage
<line tab="5"/>Unter allen glücklichen meines Lebens
<line tab="5"/>Wenn bricht er an, da ich froher erwache
<line tab="5"/>Als ich itzt träume o welch ein Gedanke <page index="2"/>
<line tab="5"/>Gott! noch froher als itzt! ists möglich,
<line tab="5"/>Hast du soviel dem Menschen bereitet
<line tab="5"/>Immer froher tausendmal tausend
<line tab="5"/>Einen nach dem andern durchwandern und immer froher
<line tab="5"/>O da verstumm ich und sink in Nichts
<line tab="5"/>Schaffe mir Adern du Allmächtiger dann! und Pulse
<line tab="5"/>Die dir erhitzter entgegen fliegen
<line tab="5"/>Und einen Geist der dich stärker umfaßt.
<line tab="5"/>Herr! meine Hofnung! wenn die letzte der Freuden
<line tab="5"/>Aus deiner Schaale ich hier gekostet
<line tab="5"/>Ach denn wenn nun die Wiedererinnrung
<line tab="5"/>Aller genossenen Erdenfreuden
<line tab="5"/>Unvermischt mit bittrer Sünde
<line tab="5"/>Wenn sie mich einmal noch ganz überströmt
<line tab="5"/>Und dann, plautz der Donner mir zu Füßen
<line tab="5"/>Diese zu enge Atmosphäre
<line tab="5"/>Mir zerbricht, mir Bahn öfnet, weiter
<line tab="5"/>In deinen Schoos Unendlicher
<line tab="5"/>Ach wie will ich, wie will ich alsdenn dich
<line tab="5"/>Mit meinen Glaubensarmen umfassen
<line tab="5"/>Drücken an mein menschliches Herz
<line tab="5"/>Laß nur ach laß gnädig diesen Antheil von Erde
<line tab="5"/>Diese Seele von Erde mich unzerrüttet
<line tab="5"/>Ganz gesammlet dir darbringen zum Opfer
<line tab="5"/>Und dein Feuer verzehre sie.
<line tab="5"/>Ach dann seht ihr mich nicht mehr theure Freunde,
<line tab="5"/>Lieber Göthe! Der Freunde erster
<line tab="5"/>Ach dann siehst du mich nicht mehr. <page index="3"/>
<line tab="5"/>Aber ich sehe dich, mein Blick dringt
<line tab="5"/>Mit dem Strahl des Sterns zu dem ich eile
<line tab="5"/>Noch zum letzten mahl an dein Herz
<line tab="5"/>An dein edles Herz. Albertine
<line tab="5"/>Du auch, die meiner Liebe Sayte
<line tab="5"/>Nie laut schallen hörtest, auch dich
<line tab="5"/>Auch dich seh ich, seegne dich wär ich
<line tab="5"/>Dann ein Halbgott, dich glücklich zu machen
<line tab="5"/>Die du durch all mein verzweiflungsvoll Bemühen
<line tab="5"/>Es nicht werden konntest die du vielleicht es wardst
<line tab="5"/>Durch dich selbst ach die du in Nacht mir
<line tab="5"/>Lange lange drey furchtbare Jahre
<line tab="5"/>Nun versunken bist die ich nur ahnde
<line tab="5"/>Euch mein Vater und Mutter Geschwister
<line tab="5"/>Freunde Gespielen fort zu vielfache Bande
<line tab="5"/>Reißt meine steigende Seele nicht wieder
<line tab="5"/>Nach der zu freundlichen Erde hinab.
<line tab="5"/>Aber ich sehe dich dort meine Doris
<line tab="5"/>Oder bist du vielleicht trüber Gedanke!
<line tab="5"/>Nein du bist nicht zurückgekehrt
<line tab="5"/>Nein ich sehe dich dort ich will in himmlischer Freundschaft
<line tab="5"/>Mit dir an andern Quellen und Büschen
<line tab="5"/>Sternenkind! ach wie wollen wir Kinder
<line tab="5"/>Hand in Hand dort spazieren gehn!
<line tab="5"/>Aber Göthe und Albertine
<line tab="5"/>Nein ihr reißt mich zur Erde hinunter
<line tab="5"/>Grausame Liebe! ihr reißt mich hinunter.
<line tab="5"/>Reißt denn geliebte! reißt denn ich folge
<line tab="5"/>Reißt und macht mir die Erde zum Himmel! <line type="empty"/>
<page index="4"/>
<note>linke Spalte</note><!-- Wie kann ich bei der Tabellendarstellung vorgehen? -->
<line tab="1"/>Hier mein Bruder ein Brief den ich Dir schicken muß, warm wie er aus dem Herzen kommt. Dich wird
das Porto nicht dauern lieber obschon kein Geschäft darinnen ist außer eine Commission von Hafner
der mich lange gebethen hat. Ist doch uns kein höher Glück auf der Erde gegönnt als uns zu
unterreden mir ists das höchste. Denn alle meine Wirksamkeit ist für andre aber mein Gefühl für
Dich und einige Liebe ist für mich.<line type="empty"/>
<line tab="1"/>Warum gibst Du uns denn nicht Neuigkeiten von Dir. Haben genug in unsern Briefen itzt von meinen
Schmieralien gesprochen nun laß mich wieder ausgehen von dem kleinen Dreckhauffen Ich und
Dich finden <line type="break"/> <line type="empty"/>
<align pos="right">Lenz</align>
<note>rechte Spalte</note>
<line tab="1"/>Ich habe viel in der Societät zu überwinden, auf einer Seite ists Unglauben, Zerrüttetheit, vagues
Geschnarch von Bellitteratur wo nichts dahinter ist als Nesselblüthen: auf der andern steife leise
Schneckenmoralphilosophie die ihren grosmütterlichen Gang fortkriecht, daß ich oft drüber die Geduld
verlieren möchte. Da konnte Götz nicht durch dringen, der beyden gleich abspricht. Daher fing ich an
<aq>ut vates</aq> den Leuten Standpunkt ihrer Religion einzustecken, daß itzt unter viel Schwürigkeiten vollendt
ist, die Erfolge wird die Zeit lehren. Und nun stürm ich mit Ossians Helden hinein das alte Erdengefühl
in ihnen aufzuwecken, das ganz in französische <aq>Liqueurs evaporirt</aq> war. Daß wirs ausführen können was
ich mit ganzer Seele strebe, auf Heid und Hügel Deine Helden wieder
naturalisiren.
<align pos="center">Addio </align></letterText>
<letterText letter="42"><align pos="right">D 8ten Aprill 1775.</align> <line type="empty"/>
Hier mein theurer Eifferer für unser Haus einige Versgen die ich dies Jahr in Calender setzen lasse. <line type="empty"/>
<line tab="6"/>Ueber die kritischen Nachrichten vom Zustand des deutschen Parnasses (der Verf. ist Gotter der bey Dir war
<line tab="6"/>Gotter. Es wimmelt heut zu Tag von Sekten
<line tab="5"/>Auf dem Parnaß
<line tab="6"/><ul>Lenz</ul> Und von Insekten. <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Ueber die Dunkelheiten im Klopstock und andern
<line tab="6"/><ul>Der Schmecker.</ul>
<line tab="5"/>Ich bitte gebt mir Licht
<line tab="5"/>Herr ich versteh euch nicht
<line tab="6"/>Antwort.
<line tab="5"/>Sobald <ul>ihr</ul> mich versteht
<line tab="5"/>Herr, bin ich ein schlechter Poet. <line type="empty"/>
<line tab="6"/>Klopstocks Gelehrten Republick
<line tab="5"/>Ein götterhaft Gerüst
<line tab="5"/>Der Menschen Thun zu adeln
<line tab="5"/>Wer darf, wer mag da tadeln?
<line tab="6"/>Antwort
<line tab="5"/>Wems unersteiglich ist.
<page index="2"/>
<line tab="1"/>Nichtsdestoweniger aber wünscht ich, daß Deine herzhafte Prügelsuppe den Leuten ganz warm über
die Schultern regnete und will deshalb eine Abschrift dieser Rezension Gottern grad zuschicken sie in
den deutschen Merkur zu rücken Wielanden vielmehr, mögen die es verdauen so gut sie können und
zu ihrer Besserung anwenden denn es ist unerträglicher Leichtsinn daß ein solcher Schmecker sich
untersteht von solchen Sachen auch nur einmal zu reden, geschweige so abzuweisen. <line type="empty"/>
<sidenote pos="left" page="2" annotation="am linken Rand, vertikal"><line tab="1"/>#<!-- Was bedeutet #? --> Ich schick es Gottern nicht eher als bis Du mir die Erlaubnis gegeben hast. Sonst wollt ich schon für
ein <aq>vehiculum</aq> sorgen ihm die Medicin beyzubringen</sidenote> <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Hier noch was von Goethe über diese Abgeschmacktheiten in seiner neusten Satyre,
die ich zugleich die glücklichste nennen möchte: „Prometheus Deukalion und seine Rezensenten“ bey Gelegenheit der
Deraisonnements in Deutschland über seinen Werther <line type="empty"/>
<align pos="center"><line tab="6"/>Plötzlich erscheint Herr Merkurius pp
<line tab="5"/>Wirst hier kritische Nachrichten hören
<line tab="5"/>Kannst dich wahrhaftig des Lachens nicht wehren
<line tab="5"/>Sehn aus als wärens im hitzigen Fieber gemacht
<line tab="5"/>Haben hübsch alles in Klassen gebracht
<line tab="5"/>Aufgeschaut und nit gelacht. <line type="empty"/>
<line tab="6"/>Merkur
<line tab="5"/>Sieh da ihr Diener Herr Prometheus
<line tab="5"/>Seit Ihrer letzten M Reis
<line tab="5"/>Sind wir ja Freunde so viel ich weiß
<line tab="5"/>Ist mirs vergönnt den Sporn zu küssen <line type="empty"/>
<line tab="6"/>Prometheus (Verf. des Werthers
<line tab="5"/>Werd euch zur Zeit damit zu dienen wissen
<line tab="5"/>Wie stehts um d. Fenster die ich eingeschmissen
<page index="3"/>
<line tab="6"/>Merk.
<line tab="5"/>Mein Herr wird sie halt machen lassen müssen
<line tab="5"/>Waren ja über das nur von Pappier <aq>etc.</aq> <line type="empty"/>
</align>
<line tab="1"/>Seegen Gottes über Dein Amt! Wer bin ich, daß ich Dir Glück wünsche? Dich, Deinen Standpunkt,
Deinen Wirkungskreiß nach Würden erkenne und ausmesse. Wirkt miteinander Du und Dein
Pfenninger und betet für einen betrübten Verlassenen <line type="empty"/>
<sidenote pos="left" page="3" annotation="am linken Rand, vertikal"><line tab="1"/>Warum hast Du mir denn nicht die Vollendung Deines Mskpts. für Freunde zugeschikt? Doch Dank
dafür! Und für alle die reichhaltigen Gedanken in diesem Mkspt. ewigen Dank.</sidenote> <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich bin bey Zimmermann gewesen und freue mich über seine Freude über Dir. Er hat einen wakern
Stubengesellen, den Sohn des Meckels der seinen Vater kurirt hat. Es hat mich in der Seele gerührt so
den Geist der Liebe der Väter auf den Kindern ruhen zu sehen. Sie fühlen beyde dies schöne
Verhältniß, wie mich deucht, die edlenjungens. Wieviel haben wir auch von Dir und Deiner ersten
Erkennung mit Zimmermann in Schinznach gesprochen!
<line tab="1"/>Der Herzog von Weymar kommt (wie ich nun leyder gewisse Nachrichten eingezogen) in 4 Wochen
zurück, aber nicht über Lyon und durch die Schweitz, weil er sehr kränkelt und daher nach Hause eilt.
Hast Du ihm was zu sagen, meld mirs, wenn ich Knebeln hier spreche, solls sicher bestellt werden.
<page index="4"/>
<line tab="1"/>Wie sehr wünscht ich nur einen Tag bey Dir zu seyn, wenn Du Physiognomik arbeitest. Ich freute
mich schon im Geist Dich vielleicht mit einem Exemplar hier zu sehen, doch werd ich das Buch wohl zu
sehen bekommen, nur des Verf. Erläuterungen fehlen. Klopstock ist auch wieder nach Hause gekehrt zu
seinen alten Freunden, ich hatt ihn so nahe und sah ihn nicht. So waltet ein uns unbekanntes Schicksal
über unsre liebsten heiligsten Wünsche und Neigungen und leitet sie nach seinen Absichten. Goethe schweigt
auch gegen mich, vermutlich weil ihn Geschäfte überwältigen. Nächstens sollst Du eine Künstlerromanze von
ihm lesen, die ich seiner Schwester zugeschickt.
<line tab="1"/>Melde mir doch aufs eheste ob der Herzog von Weymar mit unter den Subskribenten auf Deine
Physiognomik ist. Und für wieviel Exemplare? Und denn ob ich die Wielandias dem Gotter schicken
darf, dem ich eine Antwort schuldig bin. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Grüß den edlen Passavant und dank ihm mit der heissesten Umarmung für all seine Freundschaft für
mich. Die Lieder von denen er mir schrieb sind meistens nicht von mir, sondern von einem jungen
Schweighäuser einem Jüngling von vollem Herzen. Dank ihm noch mehr für seine schönen Mühwaltungen für
meine Kosakin, die ihm selbst auf einem Zettel ihren Dank stammeln wollte, aber jetzt krank zu Bette liegt.
Sie hat von dem bewußten Freunde nun auch schon selbst seine <it>Adresse</it> in London erhalten, indessen bittet
sie Passavanten doch gütigst fortzufahren, und sobald er Neuigkeiten erfährt, sie ihr mitzutheilen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Grüß den theuren Pfenninger und sag ihm, ich arbeite gegenwärtig an einer neuen Auflage meines
Menoza mit sehr wesentlichen Verbesserungen, der liebe Kritiker soll ihn zuerst haben. Überhaupt bitte
ich meine Freunde mir ungeheuchelt und strenge ihre Meinung, ihr wahres uneingenommenes Gefühl über
alle Stücke die ich künftig dem Publikum vorlegen werde zu schreiben. Es ist der gröste, der einzige
Liebesdienst, den sie einem Künstler erweisen können. Und wißt Ihr lieben Brüder, daß der Tadel des
Publikums auch auf Euch zurückfällt? „Hat er denn nicht Freunde?“ <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Und nun, Lavater, laß mich Dich an mein Herz drücken, solang ich noch nahe bey Dir bin und Dir ein
Wörtgen über die Schweitzerlieder zurufen, von denen ich neulich wieder gesprochen. Mit dem
Büchlein in der Tasche komm ich einmal in eure Gebirge. Tausend Grüße Deiner verehrungswürdigen
Gehülfin. Daß doch das Blatt schon zu Ende ist <line type="break"/><line type="empty"/>
<align pos="right">Lenz.</align>
<sidenote pos="left" page="4" annotation="am linken Rand, vertikal">
Der gute Röderer Nathanael empfiehlt sich euch allen aufs zärtlichste. Adieu! Adieu!</sidenote></letterText>
<letterText letter="43"><aq>Den 14. Aprilis 75.</aq> <line type="break"/>
An Lenze.
<line tab="1"/>Grüße <ul>Röderern</ul>, den edeln! Dank für <ul>Zimmermann,</ul> daß Du ihn besuchtest; Laß ihn Dir sehr
empfohlen seyn! Prometheus kennen wir. Mir gefällt er nicht. Was soll ein <it>Autor,</it> der so gelesen wird,
spotten? <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Sende <ul>Gottern</ul> meinen Aufsatz, <ul>nicht zum Druck,</ul> aber sonst als eine unterdrückte Effusion des
Herzens dann in die Flamme! So eben ist ein <ul>Sendschreiben</ul> herausgekommen wider mich von
einem geistlichen Mitbürger. Ein Denkmal des rasendsten Neides vollgestopft von Lügen, die mich der
ganzen Welt lächerlich machen sollen. Soll ich schweigen? Soll ich reden? Noch will ich schweigen
und warten. aber, das heißt doch wirklich rasen! doch wieder wen? wider sich selbst! <line type="break"/>
adieu! <line type="break"/><line type="empty"/>
Johann Caspar Lavater.</letterText>
<letterText letter="44"><note>Adresse</note>
An den Verfasser der <ul>Meynungen eines Layen</ul> schleunigst abzugeben. <line type="empty"/>
<sidenote annotation="auf dem roten Lacksiegel">
panta dynata tō pisteuonti @<!-- Was bedeutet @? --> </sidenote><line type="empty"/>
<line tab="1"/>Eine und viele der seeligsten Stunden meines Daseyns hab ich Ihnen, sey Sie wer Sie wollen, zu
danken. In einer Lage, wies wenige giebt am Sterbebeth einer nahen, eben nicht warm doch redlich
geliebten Schwägerinn fieng ich an, Ihre wolerhaltnen <aq>Meynungen eines Layen</aq>, zu lesen, mit inniger
Freud in der Stille der Mitternacht Meine Schwägerinn entschlummerte sanft Ich ging schnell nach
Hause; an einem hellen doch kühlen Frühlingsmorgen fuhr sogleich, morgens vor 5 Uhr fort zu lesen;
vor Freude zu zittern, vor Freude zu weynen, bald eine Zeile draus an meinen Bruder <aq>Pfenninger,</aq> der
auf dem Lande ist, zu schreiben! <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Sturm von Seite der Cabale, <ul>die das Sendschreiben eines zürcherschen Geistlichen</ul> geboren hat
stürmte dazwischen! aber Ihre prophetische Geisteskraft trug mich. Nun hab ichs vollendet; nun
liests neben mir <ul>Passavant</ul> und den Abend noch (warum ich nicht an seiner Seite) <ul>Pfenninger?</ul>
Ich kann nichts, nichts sagen, als Sie <ul>sind</ul> mein Freund, ich bin der Ihrige. Nicht bitt ich
Sie um Ihre Freundschaft; nicht trag ich Ihnen die meinige an wir sind schon Freunde.
Lichtstral darf nicht Lichtstral bitten: „Fließe mit mir zusammen.“ Das geschieht, in dem
sie einander begegnen aber <ul>das</ul> ist ein Ziel meiner Bitte, daß Sie mir bäldest eine Zeile
schreiben und zu mir sagen: „Lavater! hier und dort hast du geirrt; das Ziel nicht erreicht,
vorbey geflogen bist angeprallt. Vor dem hüte dich! da ist Quell deines Irrthums! da
Fallstrick für deine Imagination, deinen Verstand, dein Herz –“ Dann will ich auch sagen,
welche <ul>Zeilen</ul> Ihrer Schrift unter die Gottesgeistigkeit herabsinken, hinausgleiten,
nach meinem Sinn.
Den 20 April 75. <line type="break"/>
Lavater <line type="break"/>
Zürich, Donnerstags, Abends nach 3 uhr.</letterText>
<letterText letter="45"><line tab="1"/>Dein kostbares Briefgen habe erhalten ist mir ein theures theures Zeugniß der Güte und innern
standhaften Grösse Deines Herzens die keiner falschen Bescheidenheit braucht um damit Cabale zu
machen. Lache doch Lavater der Wolken die Freunde und Feinde an Dir vorbeyziehen lassen, Du wirst
immer durchscheinen. Durchscheinen durchscheinen mein lieber Getreuer bis auf lange Nachwelt
hinunter. Mich freut der Eiffer Deiner jungen Freunde. Fürchte nichts von mir, ich konnte und kann
Dich nie kompromittieren, mein Blut ist kalt, aber mein Herz fühlt warm. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Alles das was Du mir schreibst hat mein Herz grade so geahndet, das war mir ein Siegel, daß auch ich
Dein oder Deines Gottes bin. Ich konnte aber und werde nun keinen üblen Gebrauch davon
machen, dessen sey sicher. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Laß Deine Freunde machen was sie wollen und für gut und nöthig finden, ich mische mich nicht
darunter, gewiß nicht aus Menschenfurcht, denn was können mir Deine Menschen helfen oder
schaden. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Aber was ich in einer Entfernung für Dich hinaus thun kann, das thu ich und nichts kann mich
abhalten. Ich kenne Deine Sphäre nicht, aber ich <page index="2"/> kenne die Fassungsart und Gesinnungen
der meinigen, in die ich freilich sehr langsamen und halb imperceptiblen Einfluß habe. Also hast Du
nichts von mir zu hoffen noch zu fürchten gegenwärtig. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Deine Physiognomik lieber der Wunsch mir ein Exemplar geben zu können, was geb ich Dir dafür?
Mein ganzes Herz mehr hat mir der Himmel nicht gelassen. Ich glaube aber dennoch, ich glaube, ich
werde sobald es heraus ist, hier eines zu Gesicht bekommen und das ist ja <ul>aIIes</ul> was ich wünsche. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Lebe wohl mein lieber Leidender! Meine Freunde werden mir denn erst recht theuer, wenn sie ein
wenig dulden und schweigen müssen und das ist das Gefühl aller honetten Leute. Also nutzen Dir
Deine Feinde bei der honetten Welt und bey der erleuchteten können sie Dir auch nicht schaden.
Was bleibt ihnen denn übrig, als ein halbgelehrter schaler feindseliger Anhang, den <ul>ich Dir</ul> nicht
wünschen möchte.
<page index="3"/>
<line tab="1"/>Leb wohl hier ist ein physiognomischer Gedanke der mir durch den Kopf gezogen ist und über den ich
Deine Meynung zu hören wünschte. Es ist manchmal gut allerley <ul>anzuhören,</ul> wenn man über gewisse
Sachen nachdenkt also wirst Du mir mein Gelall und Gestammel nicht übel nehmen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Grüsse Passavant (dessen Enthusiasmus für Dich mich entzückt), Pfenninger, das Kind Gottes in
Blumen spielend und Kaysern. Ich erwarte von den beyden ersten die nächsten Briefe mit vieler
Sehnsucht. <line type="empty"/>
<align pos="right">Lenz.</align>
<page index="4"/>
<line tab="1"/>In unsern Tagen ist eine gewisse Faulheit und Niedergeschlagenheit besonders in monarchischen
Ländern so <ul>häuffig</ul> anzutreffen, daß die Gesichtszüge daher fast alle auf eins hinauslauffen und von
keiner Bedeutung sind. Die zu geläuterten Religionsbegriffe, die übermässige Verfeinerung in den
Künsten und Zweiffel und Ungewißheit in den Wissenschaften geben ganz andere Gesichter und ganz
andern Ausdruck der Empfindungen als ehemals. Das Feuer sitzt bey uns nur in den Augen, bey den
Alten aber in allen Mienen und der Stellung derselben. Ueberhaupt scheinen mir alle heutige
<ul>bedeutende</ul> Gesichter nur <ul>aufgeschürzt</ul>, das heißt die <ul>herunter</ul>gesunkenen Lineamenten mit Mühe
wieder <ul>empor</ul>gearbeitet da die Alten das zu wilde Emporsteigen der Mienen vielmehr zu hemmen
und zu mässigen suchen mußten. Das waren <ul>gesammlete Gesichter</ul>, bey uns sind es <ul>angestrengte.</ul>
Derselbe Unterscheid, der zwischen einem <ul>berittenen</ul> wilden Hengst und einem mit <ul>Sporn und
Kourierpeitsche in Galopp</ul> gebrachten Karrengaul ist.</letterText>
<letterText letter="46"><align pos="right">D. 1sten May 1775.</align><line type="empty"/>
<align pos="center">Gnädige Frau!</align><line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich halte mich für eben so berechtigt Ihnen zu schreiben, als ein freyer Geist über alle
Unterscheidungszeichen und Verhältnisse in der Welt herausgehoben, Ihnen seinen Beyfall zulispeln
würde, wenn er Sie irgend eine edle grosse Handlung ausüben sähe. Ich habe von Ihnen weder zu
hoffen <insertion pos="top">noch</insertion> zu fürchten, und um Ihnen die Warheit dessen und die Ungezwungenheit und Freywilligkeit
meines Urtheils zu beweisen sollen Sie meinen Namen nicht erfahren, aber erlauben Sie mir
auch jetzt mit aller der Hochachtung zu Ihnen zu treten, die das Anschauen Ihrer wundernswürdigen
Eigenschaften in mir rege macht. Ich habe hie und da Nachrichten von Ihnen eingezogen die alle
dunkel und unzuverlässig waren, besser wust ich mich nicht zu wenden als an Goethe der mir einmal
einen Brief in Coblenz aus Ihrem Dintenfaß geschrieben hat. Und wie entzückt ich darüber seyn
muß die Züge Ihrer Hand in meinen Händen zu sehen, dieser Hand die die Sternheim schrieb, und
von dieser soviel Gütiges für mich! „Das Gleichgestimmte meines Carakters“ wissen Sie auch was
das auf sich hat gnädige Frau? Die göttliche Güte hat mich, da ich eben durch andere Vorfälle
meines Lebens und Verirrungen meines Kopfs und Herzens bis <page index="2"/> zu Boden gedrückt war, auf
einmal wieder erhöhen wollen, ich fühle ein neues Leben in mir, neue Aussichten, neue Hoffnungen
und ach Gott! wie selten kommt mir das, etwas von Ihrer Selbstzufriedenheit. Erschrecken Sie
über dies Wort nicht, Sie allein können es ohne Gefahr brauchen. Solange konnten Sie zusehn daß
Ihre Sternheim unter fremdem Namen möchte ich beynahe sagen vor der Welt aufgeführet wurde und
mit halb sovielem Glück, als wenn jedermann gewußt, aus wessen Händen dieses herrliche Geschöpf
entschlüpfte. O wahrhaftig starke Seele, müssen doch Männer Ihnen erröthen und zittern.
Lassen Sie mich aufrichtig reden, der Name des Verfassers komischer Erzehlungen war keine gute
Empfehlung für einen Engel des Himmels der auf Rosengewölken herabsank das menschliche Geschlecht
verliebt in die Tugend zu machen, dieser Name warf einen Nebel auf die ganze Erscheinung und
ich danke Ihnen eben so eyfrig, daß Sie ihn mir von den Augen genommen als ich Ihnen das
erstemahl für Ihre Schöpfung gedankt haben würde. Und wie es mir in die Seele hinein Vergnügen
macht, daß ich mich in der Ahndung auch um kein Haar <page index="3"/> verschnappt, W. habe nur die
Noten und die Vorrede gemacht, denn sie sind so ganz sein würdig. Ich verkenne diesen Mann nicht,
aber er hätte mit mehrerer Ehrfurcht dem Publikum ein Werk darstellen sollen, dessen Verfasserin
zu groß war selber auf dem Schauplatz zu erscheinen und dies soll geahndet werden. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Gnädige Frau! nennen Sie Ihr Mädgen nicht phantastisch, ich hoffe es werden Zeiten erwachen die
itzt unter dem Obdach göttlicher Vorsehung schlummern, in denen Leserinnen von Ihnen Ihr Buch
das sie jetzt noch als Ideal ansehen, zur getreuen Copey machen werden. Wenn Sie doch für jedes # <!-- Was bedeutet #? -->
Alter dergleichen Ideale schüfen! Sie würden alle einen Thon haben, weil sie aus Ihrem Herzen
kämen, das sich in dergleichen Gemählden nur selbst abdruckt. Liebe gnädige Frau! der Himmel
belohne Sie. Wär es auch nur für all die wollüstigen Tränen die Sie mir haben aus den Augen
schwärmen machen und in denen die ganze Welt um mich her verschwand <line type="empty"/>
<sidenote pos="left bottom" page="3" annotation="links unten">
#<!-- Was bedeutet #? --> weibliche
<page index="4"/>
<line tab="1"/>Wenn ich bedenke, daß und womit ich Ihnen Freude gemacht habe, so werde ich stolz auf mich
selber und danke dem Himmel für die Stunde in der er mich hat geboren werden lassen, für die
Leiden, den schönen krummen Pfad durch den er mich bis zu Ihnen hinaufführte, daß ich wenigstens Ihr
Angesicht sehen kann. Ich habe nur den ersten Brief in der Iris gelesen und Sie gleich wieder darin gefunden.
Lebt solch eine Freundin wirklich die mit den geheimsten Bewegungen Ihrer grossen Seele vertraut ist,
so sei sie dem Himmel gesegnet, mit Ihnen die Zierde unsers Säculums. Was sollen wir schmeicheln liebe
gnädige Frau, mich däuchte der erste Brief mit mehr Feuer geschrieben als die nachfolgenden. Binden
Sie doch Goethen ja recht ein, mir wenns möglich die nächstfolgenden im Mskpt mitzutheilen, ich werde
mit diesem Heiligthum gewissenhafter umgehen als W. Nicht ein Wort in diesem ganzen Briefe habe ich
gesagt, das nicht mit der vollen Empfindung meines Herzens ausgesprochen, das ich nicht vielleicht
weit stärker gebraucht haben würde wenn ich in einer andern Himmelsgegend und Zeitraum <ul>von Ihnen</ul>
gesprochen hätte <line type="empty"/></sidenote>
<align pos="right">x x x</align><!-- Was bedeutet "x x x" -->
<sidenote pos="left" page="4" annotation="am linken Rand, vertikal">
<line tab="1"/>Alles alles schicken Sie mir was Sie gemacht haben, auch das französische. Ich muß Sie ganz kennen
lernen und das grad in dieser Lage meines Herzens. Hier ist meine Adresse. Was kannֹ<aq>S</aq>s mir auch schaden
Ihnen meinen Namen zu sagen. Es ist so der <ul>kürzeste</ul> Weg. Und ich habe viele Namensvetter,
die auch Goethen kennen. <line type="empty"/></sidenote></letterText>
<letterText letter="47"><line tab="1"/>Mein Lenz Ich schreib Dir aus dem Bett, wo ich den zweiten Fieber <aq>paroxysmus</aq> erwarte. Kaum war
Lindau weg, so gieng ich nach Ihringen; schon seit Deiner Ankunft lag aber das Fieber in mir. Durch
die Bewegung brachs aus, das wollt ich! Ich must in Ihringen fast Tag und Nacht zu Bette liegen.
Am Dienstag macht ich mich fort, und ritt zuruk, 5 Stunde in zwo. Als ich ankam fand ich meine Frau
besser. Ich must mich aber legen weil ich Kopfweh hatte wie ein Teufel der in mir hämmerte. Ich
thats und fiehl die Nacht zum zweitenmahl in einen Schweis worinn ich wie schwomm. Mittwochs kam
das Fieber ordentlich an. Ein Syberischer Frost schüttelte mich 4 Stunden lang, die Hitz war gering.
Nun denk dir mich mit allen meinen Arbeiten am Hals, und angenagelt im Bett. Ich schrieb mitten im
Frost dem Doktor; wie etwa Alexander aber es war kein Philippus. Ganz sachtgen kam er geschlichen
und sagte ich müßte <aq>purgiren. Vomiren</aq>, sagt ich Herr Doctor, <aq>vomiren</aq>, den Teufel wegspeyen das
geht schneller. Aber es war umsonst, und so gros ist unsre Sclaverey daß wir nicht einmahl <aq>vomiren</aq>
dürfen wans uns lüstet. Gestern war also der <aq>Evacuations</aq> Tag. In der Nacht schlief ich wenig,
aber heut ist mirs erträglich; wenn nicht das Fieber sich wieder meldet. In der Nachtinsomnie
hab ich Verse gemacht. Hier hast Du sie, wenn sie Dir gefallen, so laß sie in einen Almanach wandern;
gefallen sie Dir nicht, so schenk sie <aq>sans façon</aq> dem Herrn Kamm. Meine Verse sind lauter <it>Huren
Kinder</it> denen man nicht einmahl gern die <aq>Alimente</aq> giebt. <line type="empty"/>
<line tab="6"/><it>Über Werthers Leiden</it> <line type="empty"/>
<line tab="6"/>an seine Widerleger, Berichtiger, Vertheidiger und Recensirer. <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Ists Bild; so hats Urania gemahlt;
<line tab="5"/>Lebt er; so streute sie des Jünglings Grab mit Rosen.
<line tab="5"/>Trübt nicht den Glanz der Himmlischen, der Grosen,
<line tab="5"/>Ihr wüst wie selten sie uns strahlt. <line type="empty"/>
<line tab="6"/><it>Die Journalisten.</it> <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Da sitzen sie und sprechen
<line tab="5"/>Wie Stimm der Nation,
<line tab="5"/>Um den Geschmack zu rächen
<line tab="5"/>Stürzt niemand sie vom Trohn? <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Wie Püter decidiret
<line tab="5"/>Und Götz andächtig flucht,
<line tab="5"/>Und Kästner calculiret
<line tab="5"/>Und Haller Kräuter sucht; <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Das möchtet ihr durchsichten
<line tab="5"/>Und messen Tag und Nacht;
<line tab="5"/>Hier darf der Kaltsinn richten,
<line tab="5"/>Der Kaltsinn hats gemacht. <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Wann Gott den Dichter wärmet,
<line tab="5"/>Wann seine Seele glüht,
<line tab="5"/>Da fragen: wo er schwärmet
<line tab="5"/>Und wo er Wahrheit sieht; <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Wie Schülern auf den Bänken
<line tab="5"/>Dem deutschen Weib und Mann
<line tab="5"/>Beschreiben was man denken
<line tab="5"/>Und fühlen wird und kann, <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Wohl gar die Gränz vormachen
<line tab="5"/>Wie weit man fühlen soll,
<line tab="5"/>Ist selbst in Aristarchen
<line tab="5"/>Blasphemisch oder toll. <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Wen Gott für künftge Welten
<line tab="5"/>Zum Dichter eingeweiht,
<line tab="5"/>Hör nicht ihr Lob und Schelten,
<line tab="5"/>Seh nur die Ewigkeit. <line type="empty"/>
Samstags.
<line tab="1"/>Ich hab dem Doktor sehr Unrecht gethan! kaum hatte ich gestern so weit geschrieben so befiehl mich
eine Üblichkeil die sich gerade auf die Art äuserte als ich wollte. Ich hoffe das Fieber ist zu allen
Henkern. Ich aß gestern Abend schon wieder ein wenig; schlief ruhig und habe nun wirklich Hunger!
Meine kleinen Leiden werden durch die wieder täglich wachsende Gesundheit meiner besten Frau wieder
doppelt vergolten, und auch an mir werden sies, denn ein Fieber, wenns fort ist, läßt immer die beste
Gesundheit nach sich. Adieu, lieber Lenz, auf den Herbst also sehn wir Dich gesünder, fröhlicher,
besser wieder. Versags uns nicht! Wie sollst Dus? Da wirds eine wirklich seelige FamilienGruppe werden <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Hier hast du die vermutl. Übersetzung aus einem Englischen Stük von der <aq>Collection</aq>, die du drin hast
liegen lassen. Ich hätte das Original gern finden mögen, sie scheint mir sehr glükl. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Hier ist auch die Übersetzung der <aq>Sappho</aq> an <aq>Phaon</aq>; oder vielmehr die Nachahmung der ganze
Unterschied besteht aber nur daß das ein Bube zum Mädchen sagt, was man der Sappho zum Buben
gesagt zu haben zuschreibt. <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Zevs der auf den Wolken fart
<line tab="5"/>Ist nicht seelger als wer hier,
<line tab="5"/>Holdes Mädchen, neben Dir,
<line tab="5"/>Deine süße Stimme hört
<line tab="5"/>Und Dein himmlisch Lächlen sieht
<line tab="5"/>Das mein schmelzend Herz durchglüht. <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Götter, als ich sie gesehn,
<line tab="5"/>Stockte mir die Zung, die Ohren
<line tab="5"/>Klangen mir, von Sehn zu Sehn
<line tab="5"/>Rollten Flammen und ein Flohr
<line tab="5"/>Zog sich beyden Augen vor. <line type="empty"/>
<line tab="5"/>Kalter Schweis des Todtes tropfte
<line tab="5"/>Von der Stirne, Schauer klopfte
<line tab="5"/>Mir im Busen, starr und bleich
<line tab="5"/>Wurden Mund und Wang zugleich,
<line tab="5"/>Und wie wenig fehlte mir,
<line tab="5"/>Ach! so starb ich neben ihr! <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Wenn Dus billigst, so laß auch das in einen Almanach laufen, aber in keinen als Boyes. Ich mag mit
den Hrn. Hölty und Consorten nichts zu thun haben. Die Kerls haben die Lehrjungen gespielt, und
richten nun einen eigenen <aq>Shop</aq> auf; das ist mir nicht geniesbar.
<line tab="1"/>Noch einmahl adieu; grüß die Jungfer Königen vielmahl von uns beyden. Meine Frau wird ihr bald
wieder schreiben Als ich heut nachmittag auf dem Bett lag, rauschten meine alten Ideen vom
Selbstmord wieder vor mir vorbey. lch schick sie Dir, mach mit was Du willst. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Höhr ist Herr Kamm nicht so etwas von einem Juden? Ich hab einen Ring davon der Raupstein <aq>Nacre
marin</aq>, von sehr schönen Grün, rund um mit Brillanten schön <aq>coronoisirt</aq>, ist, er ist etwa von der Form und
Gröse […] Um 89 D <aq>or</aq> geb ich ihn! Will er, so schik ich ihn dir. <aq>Adieu</aq></letterText>
<letterText letter="48"><line tab="1"/>Ich höre, Du willst nach Strasburg kommen Lavater! Kupfer zu Deiner Physiognomik hier stechen zu
lassen. Ich seegne diesen Vorsatz und wünschte ihn in die Zeit hinaus da Goethe gleichfalls sich
vorgenommen hie durch zu seiner Schwester zu reisen, wohin ich ihn begleiten könnte. Das Haus in
welchem Du ehemals hier geherbergt, wartet daß ich so sagen mag mit offenen Armen auf Dich, in der
That darfst Du in Strasburg nirgend anders hin wohnen. Du würdest die Leutgen seufzen machen. Ich
wohne zwar selbst nicht mehr da indessen steh ich doch noch immer in Zusammenhang mit ihnen und
sie sind es die mir den Auftrag gethan, Dir zum voraus ein Liebesseil an den Hals zu <page index="2"/> werfen,
damit Du unsern Hofnungen nicht entgehen könnest. Ich habe unter der Zeit manches erfahren und mich
auch ein kleinwenig mit der Welt aussöhnen lernen, vielleicht weil mein Schicksal besser worden. So
sind wir Helden, die ein Lüftgen dreht Du aber bleibest wie Du bist. Meine größten Leiden
verursacht mir itzt mein eigen Herz und der unerträglichste Zustand ist mir mit alledem doch,
wenn ich gar nichts leide. Viellleicht ist alle Glückseeligkeit hier nur immer Augenblick und
Ruhepunkt den man nimmt um sich in neue Leiden zu vertiefen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Lieber Lavater! ich muß hier abbrechen, Geschäfte bestürmen mich, denn ich führe mein Schiff itzt
selber. Leb wohl. <line type="empty"/>
<align pos="right">Lenz.</align><line type="empty"/>
<page index="3"/>
<line tab="1"/>Ich imaginire mir Deine Physiognomischen Beschäftigungen in der Stille so reitzend daß ich daran
nicht denken kann ohne in Feuer zu gerathen. Du wirst bald den Herzog von Weymar sprechen, in
dessen Gefolg ein Mann ist, der ausserordentlich von dieser Gesichtsschwärmerei auch angesteckt ist
und dessen Bekanntschaft überhpt Dich freuen muß. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Hier ein Paar meiner Gesichtsanmerkungen wieder, über die wie über die vorigen Du mir Deine
Meynung mündlich sagen magst. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>„Alle Linien die heraufgehen zeigen Vergnügen, alle die heruntergehen Verdruß und Traurigkeit an. Es
scheint der Himmel hat den Menschen auf die Gesichter zeichnen wollen, wo der Sitz der Freuden zu
suchen wäre. <line type="empty"/>
„Je kleiner der Mund, desto unschuldiger das Herz; je grösser, desto erfahrener. P <line type="empty"/>
<page index="4"/>
<note>Adresse</note>
An Lavatern.
in Zürich.</letterText>
<letterText letter="49"><align pos="right">Strasb. den 10ten May 1775.</align> <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Es ist wohl wunderbar daß ich einen Brief vom Jenner erst im May beantworte: aber ich muß Ihnen
gestehen Gotter, daß ich Sie im Verdacht hielt, Sie hätten die kritischen Nachrichten im Merkur
gemacht und die gefallen mir nicht. Darum schwieg ich. Meine Autorschaft läßt mir gute Ruh und
kann mich einen Freund nicht vergessen machen. Das ist kein Vorwurf für Sie mein Lieber, denn
Sie hatten mich darum nicht vergessen, obschon Sie mir nicht schrieben und auf die Versprechungen
der Freundschaft halte ich so streng nicht, weil ich mich selbst auf den Punkt nichts
zuverlässiger kenne. Wir sind in gewissen Augenblicken so seelig, so trunken vom Gefühl unsers
Daseins daß wir die ganze Welt mit einem Blick übersehen mit einem Schritt überschreiten da
fühlen wir uns eine gewisse Größe unmögliche Dinge in einem ganz leichten Roman zu kombiniren
wie meine Reise nach Gotha war. #<!-- Was bedeutet#? --> Nehmen Sie das Projekt für ein Zeichen meines Vergnügens in
Ihrer Gesellschaft an wie ich Ihr Versprechen mir aufs geschwindeste zu schreiben dessen Erfüllung
und die Nachrichten von Ihrer fürtrefflichen Schwester mir nun ein unvermutetes Geschenk sind
wofür ich sehr danke obwohl etwas spät. Was aber langsam kommt kommt gut und mein Dank ist
aufrichtig. Ich habe alle Ihre Aufträge ausgerichtet und von alle den Herrn viel Gegenkomplimente
zu versichern. Gerhardi ist Rath worden bei den Prinzen von Hessen die er itzt hofmeistert.
Ich hab ihn seit unsrer guten letzten Zusammenkunft nur einmal gesehen und von beyden Seiten
sehr zerstreut. Ich gehe <page index="2"/> so meinen Gang fort über Stock und Stein und bekümmere mich
eigentlich nur um die Leute deren Herz und Geschmack sich mit meinem berühren kann. So waren
Sie mir recht was Sie mir auch übern Menoza schreiben können, den ich selber eine übereilte Comödie
zu nennen pflege. Mein Theater ist wie ich Ihnen sage unter freyem Himmel vor der ganzen deutschen
Nation, in der mir die untern Stände mit den obern gleich gelten die <aq>pedites</aq> wie die <aq>equites</aq>
ehrenwürdig sind. Findt sich niemand in meinen Stücken wieder so bedaure ich Oel und Mühe ob sie
übrigens spielbar sind bekümmert mich nicht, so hoch ich ein spielbares Stück schätze wenn es gut
gerathen ist. Sich nächst an die Natur hält und doch Herz und Auge fesselt. Neugier auf einen Grad
der Leidenschaft zu treiben weiß und doch durch Befriedigung derselben mich nicht unlustig macht,
weil ich sie möglich und wahr finde. Das letzte könnte Thema zu einer Kritik meines Menoza geben
und ich danke Hn. Wieland für einige Winke in der seinigen. Wiewohl er hoffe ich bei der nächsten
Auflage das zu harte: <ul>„Mischspiel“</ul> zurücknehmen wird. Ich hatte bloß versäumt einige Erzehlungen
deutlicher zu machen die <ul>das Ganze</ul> in ein besseres Licht stellen
<sidenote pos="left" page="1" annotation="am linken Rand der ersten Seite, vertikal">
<line tab="1"/># Der Kurländer sitzt schon lang unter seinen Hausgöttern und ist auf dem Wege gestorben und
wieder auferstanden. Ich war wirklich auf den Punkt ihn zu begleiten, aber all meine Anstalten
wurden zu Wasser. Doch trag ich mich immer noch mit einer Ausschweiffung nach Deutschland.
Warum haben Sie mir denn nichts von Ihnen zukommen lassen? Das Versprechen hätten Sie doch
halten sollen. Sie wissen wie es uns armen Poeten geht, die die Bücher lesen wie Vögel unter dem
Himmel ein Korn finden. Ich habe noch keins von Ihren Stücken in die Hände bekommen Von der
Seilerschen Gesellschaft verseh ich mir sehr viel Gutes Gott weiß wenn ich <aq>exul</aq> wieder einmal
deutsches Schauspiel zu sehn bekomme</sidenote>
<sidenote pos="left" page="2" annotation="am linken Rand, vertikal">
<line tab="1"/>Grüßen Sie mir Ihre verehrungswürdige Schwester und den lieben Doktor. Wenn Sie aber nach Lyon
schreiben, oder Himmel führe Ihre Hand alsdenn, meiner im besten zu gedenken. Kann ich nicht
erfahren wenn sie zurückkommen. Lieber Freund! wären doch alle Oerter in der Welt so nah bey
einander als in Shakespears Stücken! Lion, Strasburg, Gotha ich denk, ich erwarte Sie alle.</sidenote>
<sidenote page="2" annotation="am oberen Rand, spiegelverkehrt">
<line tab="1"/>Was sagen Sie zu all dem Gelärms übern Werther? Ist das erhört einen Roman wie eine Predigt zu
beurtheilen. O Deutschland mit deinem Geschmack!</sidenote></letterText>
<letterText letter="50">Straßburg, d. 20. May, 1775. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Sie sind vielleicht schon jezt auf der Reise, deren Sie in dem Briefe an Göthe Erwähnung thaten.
Nehmen Sie dahin meinen Dank mit, (wenn anders der Dank eines Menschen wie ich, Sie erwärmen
kann,) für den braven Mylord <ul>Allen;</ul> ein Portrait, das ich in meiner Gallerie hoch anstelle. Er hat
Erdbeben in meinen Empfindungen gemacht. Lassen Sie sich das neue linke Wort nicht verdrießen;
ich rede einmal so, wenn ich mich nicht zwingen mag. Und gegen Sie zwinge ich mich nicht eher, als
bis Sie mir dazu winken. Darf man mit Personen, die außer unserm Stande sind, nicht reden, wies
einem ums Herz ist, sage ich immer. Wie traurig wäre ihr Loos dann? <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Wenn Göthe bey Ihnen ist, so möcht ich eine Viertelstunde zuhorchen. Warum lassen Sie ihn denn
so viel Operetten machen? Freilich kann mein kaltes Vaterland großen Antheil daran haben, daß ich
mehr für das Bildende als Tönende der Dichtkunst bin. Doch kann ich auch weinen bei gewissen Arien
die mir ans Herz greifen, und verloren bin ich, (wenigstens in jeder Gesellschaft von gutem Ton,)
wenn sie gerad die Stimmung meiner Situation treffen. Wenn Sie denn doch seine Muse seyn wollen,
so verführen Sie ihn in ein <ul>großes</ul> Opernhaus, wo er wenigstens <ul>Platz</ul> für seine Talente finden
könnte, wenn man es erst von <ul>Metastasios</ul> Spinneweben rein ausgefegt hätte. Nur weiß ich nicht,
wie Göthe übers Herz bringen sollte, Helden anders als im Rezitativ singen zu lassen; oder die
Arien müßten von einer Art seyn, wie ich sie mir nicht zu denken im Stande bin. Ich schreibe
<ul>Ihnen</ul> das, weil er <ul>mir</ul> ganz stille schweigt. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Was mir wieder einmal eine Zeile von Ihrer Hand seyn würde das darf ich Ihnen doch nicht erst
sagen. Aber nur, wenn es Niemand, Niemand Eintrag thut. Ich will gern hinten an stehen. <line type="empty"/></letterText>
<letterText letter="51"><line tab="1"/>Hier hast Du die Seele m: Seele die immer geheime Triebfeder alles deßen was gut u: wirksam an
mir ist ohne die ich als ein kalter toter Klumpe dahinfallen würde, der nur die Erde zu beschweren nicht aber
zu beglüken im Stande ist, mit der ich, wenn ich eine Weile lieber Flamman so weit ich reichen kann ausgebreitet
vor ihr gern als ausgebrante Asche hinsinken will, glüklich genug m: Zeitraum hindurch von ihr erwärmt worden zu
seyn. Sie kann mehrere so Erwärmte so begeistert haben, aber niemand mit der ungetheilten Empfindung als mich.
Ich kenne auf der Welt nichts Schöneres als Sie, ein Gedanke an ihr ist mir Belohnung, der ich nichts auf der Welt
zu vergleichen weiß. Und so gehen alle meine Arbeiten so ruhig so heiter, so frey von andern Leidenschaften, u:
doch so munter u: voll der großen Hoffnung irgend einmahl ihren Beyfall zu erhalten Ach L.! wie glücklich! wenn
der Zustand dauern könnte. Wenigstens will ich mich durch meine Handlungen auch des Vorzugs würdig machen, sie
geliebt zu haben u: ihr nicht Ursache geben darüber zu erröthen <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Doch wenn Du nicht m: Unglück willst, schweige, sie ist in einer Lage u: unter Menschen, wo diese
Gedanken selber zu denen sie weiter nicht die geringste Gelegenheit gegeben, aber dadurch daß sie so
vollkommen ist, ihr zum äußersten Nachtheil ausgelegt werden würde. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Mit allen Talenten geschmükt die das weibliche Herz nur bilden können, sie spricht 5. Sprachen, auch
das Latein sie macht zeichnet als eine Meisterin, sie spielt den Flügel treflich, sie tanzt, reitet jetzt
sogar u: hat täglich alle ihre Sunden so eingetheilt daß keine Minute unangewendet bleibt. Und diese tiefe
Empfindung von Religion von Familien Banden von freundschaftlichen Verhältnißen selbst fast zu
partheyische Vaterlandsliebe. Ich werde Dir einmal einige ihrer Brfe lesen die ich erbeütet habe (ich habe m:
Freundin einige durch besondere Wege gestolen) sie schreibt gern u: immer aus Bedürfniß sich mitzutheilen,
nie aus kalt erschriebner Höflichkeit oder eigennuzer Veranlaßungen ehe sie m: Namen wußte u: die zuerst m: ganze Seele ausgespannt ein solches Frauenzimmer von Angesicht zu
sehen. Mehr als 4 Wochen habe ich eine andere überall für sie angesehen, weil ich nicht Gelegenheit hatte in
ihre Gesellschaft zu kommen. So wenig war es körperlicher Reiz allein der mich feßelte, hätte sie in der Marke
einer Olinde gestekt, ich würde sie verehrt haben. Wie sehr wünsche ich Du kämest nach Strasburg u: hättest
Gelegenheit wie sie Dir denn nicht fehlen kann sie zu sehen u: zu sprechen. Eben höre ich daß Göethe nach
Italien gereist sey, für die Wahrheit dieses Gerüchs kann ich nicht stehen. Seye daran was es wolle, was er
thut ist mir immer recht, ich erwarte nächstens schriftliche Nachrichten davon Viel u: mancherley Weh ruht
an diesem Herzen</letterText>
<letterText letter="52"><note>Königs Brief vom 14. Juni 1775 enthält folgende Notiz</note>
<hand ref="15"><line tab="1"/>Lentz hat mir auch geschrieben; die Achtung von Herder u seiner Frau rührt ihn gar sehr, er sagt mir
„ich bitte sie sagen Sie doch der theuren Herderin viel Gutes von mir, u welche Aufmunterung u
Erquickung mir ihr Beyfall ist. ich wünschte ich kennete ihren Geschmack u könnte für sie allein
ein Stück schreiben, sie sollte mir so viel werth seyn als das ganze Publicum. sagen Sie ihr ich
habe eine Lucretia geschrieben, vieleicht daß Götte sie drucken läßt, sie möge alsdann auf die
Sceenen acht haben in welchen Flavia vorkommt, u mir ihre Meinung drüber wissen lassen. ihr Gefühl
allein soll mir der Probierstein all der weiblichen Characktere sein die ich mir vorzüglich geglückt
glaube“</hand></letterText>
<letterText letter="53"><line tab="1"/> So führen Sie mich denn! Und da es einmal so weit gekommen ist, so muß ich Sie bitten, Sie
mögen an mir Beobachtungen und Entdeckungen machen, welche Sie wollen; entziehen Sie mir Ihre
Freundschaft nicht! Ich nehme das Wort in der strengsten, eigentlichstell Bedeutung; nichts mehr,
aber auch nichts weniger ist mein Herz stolz genug von Ihnen zu verlangen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ein gewisser Leichtsinn, der oft nah an Unbesonnenheit grenzt, ist eine Gabe, die die Natur für gut
befunden hat mir besonders aufzuheben. Welchen Wert die hat, kann ich noch nicht bestimmen,
aber mir ist sie bisher oft unentbehrliche Wohltat gewesen. Ich lege mich immer zu Bett, als ob
ich den andern Morgen nicht aufstehen würde, und jedes Schicksal ist mir gleich. Sagen Sie mir,
könnten Sie die Freundin eines solchen Menschen seyn? So viel muß ich Ihnen dabey sagen, daß mir
andre Menschen, deren Wert ich erkannt habe, heilig sind. Mag auch das Leben noch so barocke Szenen
mir vorbehalten, und überhaupt das Schicksal über mich ergehen lassen, was es wolle, diese angenehme
Sensationen, und die Erinnerung derselben, kann es mir doch nicht nehmen, und das ist meine Genügsamkeit.<line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich muß mich doch auch ein wenig ausstreichen; was meynen Sie? Damit Sie wissen, was Sie von
meinen Urteilen zu halten haben. So muß ich Ihnen denn sagen, daß ich nicht der einzige bin, der
Erkundigungen nach Ihnen macht; vielleicht nicht alle aus dem Motiv; indessen wer kann Motive beurtheilen.
Die Erscheinung einer Dame von Ihrem Range auf dem Pamaß, (die so viele andre Sachen zu thun hat,) mußte
jedermann aufmerksam machen. Mich ärgerte nichts mehr, als Gott weiß, daß ich die Warheit sage, als die
dummen Noten, die mich allemal bey den seligsten Stellen in meinem Gefühle unterbrachen, gerad als wenn einem
kalt Wasser aufgeschüttet wird. Gleich fühlte ich, daß in den Noten die Verfasserin nicht war; einige dunkle
Klätschereyen sausten mir um die Ohren, Sie hätten dem Umgange mit Wieland vieles zu danken; ich muß Ihnen aber
zur Beruhigung sagen, daß alle diese Nachrichten von Frauenzimmern kamen, bey denen ich die Quelle leicht
entdeckte. Verzeihen Sie mir! Auf den Punkt ist ein kleiner Neid auch manchmal bey edlen Personen Ihres
Geschlechts sehr natürlich, und mir also gar nicht einmal auffallend; nur ärgerte michs, daß ich Niemand
von meinem Geschlecht hörte, der gesunden Menschenverstand oder Edelmuth genug gehabt hätte, im Gegenteil zu
behaupten: Wieland müsse Ihrem Umgange alles alles vielleicht zu danken haben, was ihn schätzbar macht.
Ich sagte noch neulich, (und das rechne ich mir nicht zum Verdienst an) einer Frau von Stande, die auch mit
dem zweideutigen Tone von Ihrer Sternheim sprach: „Wieland könnte wohl viel Antheil daran haben“ sehr trocken,
(ohne damals die geringste Nachricht zu haben,) ich hielte W. nimmermehr für fähig, in seinem ganzen Leben so
feine moralische Schattierungen zu mahlen; In der That muß es jedem nur halb gesunden Auge auffallen, daß sein
Pinsel viel zu grob dazu ist. Noch habe ich in einem Frauenzimmer-Briefe, (wo mit außerordentlichen Lobe von
Ihrem äußern Betragen gesprochen wird) die seltsame Bemerkung gelesen, Wieland könne Sie wohl bey seiner
Musarion in Gedanken gehabt haben. Das wußt ich wohl, daß er Ihnen unter dem Namen Danae, die Grazien
dedizirt hatte. Mit allen dem hätten Sie von einem ganz andem Pinsel gemahlt werden sollen, wenn er Reitze
der Seele zu malen verstanden hätte. Ein Rousseau O geben Sie mir doch Schlüssel zum Verborgenen! Wie
hat Wieland Sie kennen gelernt? Und war seine Empfindsamkeit für Sie mehr Prahlerey, als innere Rührung?
Ich habe bisweilen wunderliche Ideen im Kopf, und bin nicht umsonst so aufdringend, so neugierig. Bedenken
Sie, daß auch ich älter werden kann, und daß der Wunsch jeder gut meinenden Seele Erhörung verdient, in den
Standpunkt gesetzt zu werden, hochgeschätzte Personen in ihrem <ul>wahren</ul> Lichte zu sehen. Auf meine
Verschwiegenheit können Sie zählen; wenigstens <ul>die</ul> Tugend hat mich meine Situation gelehrt, da ich als
Vertrauter junger Herren gereiset, und vier Jahre mich bloß dadurch bey ihnen erhalten habe. Ich habe keine
Maitresse, und keine Ergießungen des Herzens als vor Gott. Bisweilen auch an dem Busen meines Göthe, der nun
freilich viel von mir weiß. Was könnt ich nicht in dem Fall! Rosalia! Erlauben Sie mir diesen Namen!
Seyn Sie so gütig, und fahren fort. Ach welchen Tag, welche Sonne Sie in diesem
Herzen ausbreiten. Rosalia!</letterText>
<letterText letter="54"><!-- französischer Brief --></letterText>
<letterText letter="55">Strass. d. 13t julii 75 <line type="empty"/>
<hand ref="15"><note>Königs Hand</note>
<line tab="1"/>Eben komme ich von Buchsweiler zurück. desswegen eine so späte Antwort auf Ihr liebes herrliches
Briefehen ja wohl Briefchen! aber liegt nicht Dein gantzes, liebendes Herz darinne dies ersetzt mir
alles meine ganze Seele umfaßt Dich dafür, u. seegnet laut Amen Amen! ich habe Freunde in Buchs.
verlassen den würdigen Rathsemhausen verlassen, ländliche Freuden u doch ist mir wohl daß ich
hier bin ich bin in, <it>meinem Eigenthum</it>. diess geht mir über alles Raths. will ich soll ihn in Ihr
Andenken zurückrufen, es ist ihm kostbar, er verehrt Sie, dann er kennt Ihren ganzen Wert er hat es
mir oft wiederholt ihn nicht bei Ihnen zu vergessen dieser liebe Mann! warum kann ich nicht immer
um ihn leben! so einen Mann u ich heurate noch unsre Rehfeldin ist noch immer das muntre
schwindliche Weib, aber dabei redlich u gut ich habe ihr die Stelle aus Ihrem Brief für sie
gelesen u es hat ihr wohl gethan sie wollte mir einen Brief für Sie mitgeben, aber unter den
Freuden u Herrlichkeiten des Lebens, vergass sie ihn. unsre beyden jüngern Printzen waren da,
die haben alles froh gemacht hat Ihnen unsre Hessin die Stelle aus Lentzens Brief an mich, ausgeschrieben?
hier ist noch einmahl „ich bitte sie sagen Sie doch der theuren Herderin viel Gutes von mir, u welche
Aufmunterung u Erquickung mir ihr Beyfall ist. ich wünschte ich kennete ihren Geschmack u könnte für sie
allein ein Stück schreiben, sie sollte mir so viel werth seyn als das ganze Publicum. sagen Sie ihr ich
habe eine Lucretia geschrieben, vieleicht daß Götte sie drucken läßt, sie möge alsdann auf die Sceenen acht
haben in welchen Flavia vorkommt, u mir ihre Meinung drüber wissen lassen. ihr Gefühl allein soll mir der
Probierstein all der weiblichen Characktere sein die ich mir vorzüglich geglückt glaube“ u dencken Sie
diessen neuen lieben Freund verliehre ich vielleicht bald u auf lange hier fühle ich mich wieder in der
Welt, ob ich schon in Augenblicken von oben herunter auf sie blicke ich soll eine Fürbitte bey Ihnen für
ihn einlegen Eurer beyden Schattenriß soll ihm Stärkung Trost u Freude auf seiner langen Reise seyn
wären sie auch nur halb gut er will das übrige hinzusetzen u glücklich dabey seyn doch hier kommt er
selbst, zu bitten zu flehen ich will ihm noch einmahl die Conditionen weisen unter welchen er sie haben
soll aber dafür will <it>ich</it> davon frey sein selbst mein Gesicht das <it>Sie kennen,</it> sagt Ihnen warum u dazu
habe ich es unsrer Fridericke abgeschlagen, sie hat die Ursachen gebilligt, sie mag sie Ihnen sagen
kriechet immer mit Eurem Buben auf Teppichen herum da wo Agesilaus unter seinen Kindern auf einem
Steckenpferde herum reitet, ist er mir am grössten
Luise. <line type="empty"/>
Das Geld ist ganz recht, noch rechter daß <it>Sie</it> mit mir zufrieden sind. <line type="empty"/></hand>
<note>Lenz Hand</note>
<line tab="1"/>Ich bin itzt ganz glücklich da ich das beste Paar unter der alles anschauenden Sonne auch das
glücklichste weiss. Die Freude die aus Ihrem ganzen Briefe athmet würdigste Sterbliche! und die
selbst mehr Tugend als Genuss ist, hat auch mein Herz das ihr nun lange schon verschlossen schien,
wieder erfüllt und erwärmet. Gönnen Sie mir Ihr und Ihres Mannes und Ihres Kindes Gesichter. Wenn kein
unsichtbarer Zug dem Maler die Hand führen sollte, so schicken Sie mir sie auch halb ähnlich, ich hoffe
noch so viel Imagination übrig zu haben, aus dem was ich von Ihnen gelesen und gesehen mir das übrige zu
ergänzen. Sagen Sie Ihrem Mann, er soll mich wenn ich weit bin, unter seine Kinder aufnehmen und manchmal
einen freundlichen Wunsch für mich thun. Ich kann nicht mehr schreiben, Goethe ist bey mir und wartet
mein schon eine halbe Stunde auf dem hohen Münsterthurm. <line type="empty"/>
Lenz.</letterText>
<letterText letter="56"><note>Katalogstext</note>
<line tab="1"/>Lenz empfiehlt Lindau die Nachbarschaft Lavaters auszunutzen, er erwähnt Goethe u. Schlosser,
Goethes Schwager, die grüßen lassen, u. spricht von einer weiten Reise, die er vielleicht Ende des
Winters vornehmen wird. <line type="empty"/>
<note>Nachschrift Lavaters</note><hand ref="10">
<line tab="1"/>Zwei Dinge sind unter der Sonne, die du zu meiden hast allzustille Einsamkeit u.
allzulautes Geräusch dass du in jener nicht dich selbst, in anderer nicht andre versehrest. d. 29. Jul. 75.</hand></letterText>
<letterText letter="57"><line tab="1"/> Ich sage immer: die größte Unvollkommenheit auf unsrer Welt ist, daß Liebe und Liebe sich so oft
verfehlt, und nach unsrer physischen, moralischen und politischen Einrichtung, sich fast immer
verfehlen muß. Dahin sollten alle vereinigte Kräfte streben, die Hindernisse wegzuriegeln; aber leider
ists unmöglich. Wer nur eines jeden Menschen Gesichtspunkt finden könnte; seinen moralischen Thermometer;
sein Eigenes; sein Nachgemachtes; sein Herz. Wer den Augenblick haschen könnte, wo sich seine Seele mit der andern
zu vereinigen strebt. Wer seine ganze Relation von seinem Character absondern, und unterscheiden könnte, was er
zu seyn gezwungen ist, und was er ist. Stille, Stille gehört dazu; stille, heitre, ruhige, göttlichertragende
Beobachtung. Rosalia! In jeder Gesellschaft zieht nichts mein Aug auf sich, als Sie, wenn Sie einem andern
zuhören, und etwas aus ihm heraus zu schweigen suchen. Fahren Sie so fort, meine liebe Gnädige; es wird Ihnen
immer wohler dabei werden. Aufzumuntern ist eine göttliche Eigenschaft, und was muntert mehr auf, als
Aufmerksamkeit hochachtungswürdiger Personen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ihre deutsche Diction bewundre ich. Personen aus Ihrer Sphäre, (das will noch ganz etwas anders
sagen, als: von Ihrem Stand) sollten doch unsrer treuen Muttersprache die Hand bieten. Wär es auch
nur, um einen gewissen Ton in unsre Gesellschaft zu bringen, wo deutsch-französisch Geplauder mit
rätselhaften Kränzchen-Witz abwechseln, und so mancher ehrliche Fremde auf der Folter liegt, welches einen
am Ende ganz und gar mistrauisch in seinen eigenen Verstand machen kann. Ich häre eine Deutsche mit
Vergnügen fremde Sprachen wie ihre eigene reden und schreiben; aber Schriftstellerin darin zu werden, ist
doch zu viel Herablassung. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Werden Sie nicht glauben, ich höre mich gern, daß ich so viel rede? Ach freilich, so ist es! Mit
gewissen Personen fühlt man sich so offen, besonders wenn es selten kömmt. Wenigstens lernen Sie
nun auch mich ertragen, der freilich es selbst wohl fühlt, wie sehr er nicht mit Wieland allein, (denn
das würde mir Ehre machen,) sondern mit hundert Tausend bessern Personen absticht. Bei allen dem
bin ich mir keiner Absichten bewußt, und das erhält mich. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ihr Ausdruck: neuer Freund, soll mich lange, lange durch heiße Sandwüsten begleiten und erfrischen,
denn ich sehe deren vor mir. Ich will niemals fodern; aber ich bitte Sie, ach! gnädige Frau, sagen Sie
mir Ihre ganze Meinung; aber ich werde mich niemals ändern. Modifiziren kann sich der nur, der nicht
von Jugend auf, wie ich, mit dem Kopf gegen die Wand gerennt ist. Aber sagen Sie mir alles; ich
beschwöre Sie. Ewig <line type="empty"/><line type="break"/>
Ihr Freund und Verehrer, <line type="empty"/>
M. R. <ul>Lenz.</ul></letterText>
</document>
</opus>