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<opus>
<document>
<letterText letter="1">
<page index="1" /> Hoch Edelgeborner Hochgelahrter Herr <aq>Secretair</aq> <line type="break"
tab="7" /> Verehrungswürdigster Gönner! <line tab="7" />
<line type="empty" /> Ew.
HochEdelgebh: haben mich durch die neue Probe von Dero schätzbaren Gewogenheit ausserorndtlich
beschämt. Meine Feder ist zu schwach, Denenselben die regen Empfindungen meines Herzens
darüber zu schildern. Ich weiß Ew. HochEdelgebh: meine Dankbegierde auf keine andere Art an
den Tag zu legen, als daß ich meine gestrigen Wünsche für Dero Wohlseyn wiederhole, und die
gütige Vorsicht um die Erhörung derselben anflehe. Der Herr überschütte Dieselben und Dero
wertes Haus im künftigen Jahr mit tausend Seegen und Heil. Er erhalte Ew. Hoch Edelgebh: bis
zu den spätesten Zeiten im ersprießlichsten Wohlergehen. Er bewahre Ew. HochEdelgebh: für alle
widrige Zufälle in den künftigen Jahren, und <page index="2" />lasse mich noch lange das Glück
genießen, Dieselben in dem blühendsten Wohlstande zu sehen, und mich mit dem erkenntlichsten
Herzen nennen zu dürfen <line type="empty" /> Hoch Edelgeborner Hochgelahrter Herr <aq>
Secretair</aq> <line type="break" tab="7" /> Verehrungswürdigster Gönner <line type="break"
tab="7" /> Ew. Hoch Edelgebh: <line tab="7" />
<line type="empty" /> gehorsamsten Diener <line
type="break" tab="7" /> JLandau, den 7. September.
So wenig Zeit mir auch übrig ist, so muß ich Ihnen doch sagen, daß ich Sie in Landau noch eben so hoch schätze, ebenso liebe, als in Fort-Louis. Unser Marsch war angenehm genug: vor Tage zu Pferde, und vom Mittag, bis in die Nacht gerastet. Ich möchte so durch die Welt reisen. Weißenburg hat mir gefallen, die dortige Schweizergarnison glich den Priestern der Cybele, so erfreute sie die Ankunft eines deutschen Regiments. Landau kann in der That das Schlüsselloch von Frankreich heißen, da es nur zween Thore hat, eins nach vorne, das andere nach hinten. Unsern Ausgang segne Gott, unsern Eingang Ich wohne bei einem Herrn Schuch, der ein naher Verwandter vom Herrn Türkheim seyn will. Seine Frau und er spielen mir alle Abende Komödie, wobei mein Herz mehr lacht, als bei allen Farcen des Herrn Montval und Ribou. Er ist ein gutwilliger Schwätzer, gegen seine Frau, ein rechter Adventsesel und auch gegen die Füllen bei ihr. Sie trägt Hosen und Zepter, eine Teintüre von Andacht und koketter Prüderie in der That, meinen kleinen Plautus hinterdrein gelesen und ich brauche kein Theater. Melden Sie mir doch, was das Ihrige in Straßburg macht und ob dort kein deutsches zu erwarten sei. Beim Herrn Senior, der fast die alleinige Materie des Gesprächs meiner Wirthsleute ist (ausgenommen den gestrigen vortrefflichen Abend, wo wir lauter Haupt- und Staatsaktionen ausmachten) bin ich noch nicht gewesen. Der Bürgermeister Schademann soll schon seit geraumer Zeit todt seyn. Vielleicht erlange ich die Bekanntschaft seines Sohnes, der sehr reich sein soll. Ein Rektor bei der hiesigen Schule, der im Kloster einen Sohn hat, der schon Magister ist (wo mir recht ist, hab ich ihn dort gesehen) soll eine gute Bibliothek haben: da muß ich suchen unterzukommen. Seyen Sie doch so gütig und schreiben mir in Ihrem nächsten Briefe den Namen des Churfürsten von der Pfalz; wie auch den Charakter und die Adresse des Herrn Lamey, ein Name, den ich in Straßburg oft gehört. Sie lachen wozu das? Nun, nun, es hat nichts zu bedeuten, ein guter Freund hat mich um beide in einem Briefe ersucht. Einen Nachmittagsprediger habe ich hier gehört, der keine Pfeife Toback werth vorgebracht. Ich ging nach Hause und las Spalding, vom Werth der Gefühle im Christentum. Welch ein Kontrast! Dieses Buch müssen Sie auch lesen, mein Sokrates! es macht wenigstens Vergnügen zu finden, daß Andere mit uns nach demselben Punkt visiren. Ich freue mich, daß man in einem Tage von hier nach Straßburg kommen kann, wer weiß wenn ich Sie überrasche. Fahren Sie fort mit Ihrer Gewohnheit für mich.
Lenz.
acob Michael Reinhold Lenz <line tab="7" />
<line type="empty" />
Von Hause, d. 2 Jenner, 1765. </letterText>
<letterText letter="2">
<page index="1" /> Bester Bruder! <line tab="2" /> Wie kann ich einen Augenblick anstehn, Dir
bey der freudigsten Begebenheit Deines Lebens ein Bruderherz auszuschütten, das von Seufzern
und Tränen wallet! Ich preise die Vorsicht mit Dir, die Dir die liebenswürdigste Gattin
zuführt und unsere Familie in einem Jahre mit sovielem Glück überhäuft, daß wir für gar zu
großer Freude wie betäubt sind und nichts als jauchzen und stammeln können. So sind denn nun
Deine Wünsche erfüllt: so schmeckest Du nun zum erstenmal alles Süße, alles Entzückende einer
Liebe, die keine Angst, kein Kummer, keine Träne verbittert. So belohnt denn die ächte, die
reine, die wahre Zärtlichkeit endlich einmal ein Herz, das nur für sie geschaffen war und das
schon von Jugend auf sich heimlich nach einem Gegenstande hat sehnen müssen, dem es sich ganz
überlassen könnte. 0 gütige Vorsicht! so erhöre denn alle unsere Wünsche, alle unsere Tränen,
für dies Paar, das du selbst durch wunderbare Wege geknüpft hast. Lebe, liebster Bruder! lebe
lange, lebe glücklich in den Armen Deiner Cristinchen: seyd ein Muster der schönsten Ehe, ein
Trost Eurer für Freude weinenden Eltern, eine Freude Eurer Geschwister: jeder Eurer Tage müsse
mit neuem Entzücken für Euch geschmückt seyn, jedes Eurer Jahre müsse so heiter hinfließen,
wie ein Bach, der durch Rosen fließt. Nie müsse ein Gram Eure Seele umwölken, nie müsse ein
Elend euch niederschlagen, da es euch nicht mehr allein, sondern verbunden, von der Hand
Gottes verbunden, trifft, da eure Zärtlichkeit und eure Küsse euch trösten und selbst im
Unglück beglücken werden. Eure Liebe sey so feurig, so rein, aber auch so unauslöschlich, wie
das Feuer der Vesta: sey so dauerhaft, als ein Felsen, auf den das Meer vergeblich loßstürmt:
eure Liebe lebe mit euch, sie leide mit euch: ihr werdet zwar sterben, aber eure Liebe wird so
wie eure abgeschiedenen Seelen ewig währen, sie wird um euer Grab wachsen, und so wie eure
Seelen dereinst wieder mit euren Körpern vereinigt werden; alsdann kann kein Tod sie mehr
aufhalten, alsdann dauert sie bis in undenkbare Aeonen. <line type="empty" /> Ich seh euch
schon im Geist, ihr liebenswerthen Beyde, <line tab="5" /> Ihr wandelt Hand in Hand durch
Tarwasts frohe Flur. <line tab="5" /> Aus euren Mienen lacht nur Freude, <line tab="5" /> Und
reine Lust und Lieb und Unschuld nur. <line tab="5" /> Euch wird der Lenz sich jetzo schöner
schmüken, <line tab="5" /> Ihr findt ihn auf der Flur, findt ihn in euren Bliken. <line
tab="5" /> Euch wird der Bach jetzt mit mehr Anmuth rauschen, <line tab="5" /> Mit froherm
Ohr werdt ihr aufs Lied der Wälder lauschen, <line tab="5" /> <page index="2" /> Und mit
entzükterm Blick, werdt ihr von goldnen Höhn, <line tab="5" /> Die Morgensonn zur Erde lächeln
sehn. <line tab="5" /> Und weht der stürmsche Herbst und tobt der kalte Winter <line tab="5" />
So wird nur euer Herz und eure Lieb entzündter; <line tab="5" /> Im ländlich stillen Sitz
werdt ihr, auch ganz allein, <line tab="5" /> Auch unter Schnee und Sturm, euch durch euch
selbst erfreun: <line tab="5" /> Und wird denn in der Stadt der Tag zu trübe seyn, <line
tab="5" /> Dringt ihm die Nacht zu früh herein, <line tab="5" /> Wird er des Abends Länge
scheun: <line tab="5" /> Dann werdet ihr bei sanftem Lampenschein <line tab="5" /> Euch selbst
Gesellschaft, Lust und Scherz und Frühling seyn. <line tab="5" /> Wird euch ins künftige ein
neues Glüke lachen, <line tab="5" /> So werdet ihr vereint, es euch noch süßer machen: <line
tab="5" /> Und naht ein Unglückssturm euch zärtlichen Erschroknen, <line tab="5" /> So wird
des einen Trän des andern Tränen troknen. <line tab="5" /> Und einst wenn Jahre euch, wie Tage
hingeflossen, <line tab="5" /> Und ein unschuldig Kind hält eure Knie umschlossen <line
tab="5" /> Und stammelt seinen Segen euch: <line tab="5" /> Dann ist nicht Ehr und Gold,
dann ist nicht Thron und Reich <line tab="5" /> Dann ist kein Glük dem euren gleich. <line
tab="5" /> Dann soll sich eur Geschlecht dem unsrigen begegnen <line tab="5" /> Und unsre
grauen Eltern seegnen: <line tab="5" /> Dann wollen wir uns freun, wie sich ein Engel freut, <line
tab="5" /> Voll Wehmut und voll Zärtlichkeit, <line tab="5" /> Voll Wonne und voll
Dankbarkeit. <line tab="5" /> Und werden einst … Gedank voll Bitterkeit! <line tab="5" />
Und werden einst sich eure Augen schließen, <line tab="5" /> (Doch dann erst, Gott! wenn sie
das Alter halb schon schließt) <line tab="5" /> Dann drükt mit traurigen und doch noch traurig
süßen, <line tab="5" /> Und euch im Tod noch angenehmen Küssen <line tab="5" /> Euch eure
Augen zu. O Bild voll Schmerz! Dann fließt! <line tab="5" /> Ihr Tränen meiner Wang, fließt
um sie! Dann begießt <line tab="5" /> Ihr mir geliebtes Grab, aus seiner Erde schießt <line
tab="5" /> Dann eine Ros herfür, die traurig reizend blühet, <line tab="5" /> In der mein
Aug das Bild von ihrer Ehe siehet. <line tab="5" /> Dann sag ich doch mein Lied, zu
traurig Lied! halt ein! <line tab="5" /> Sonst muß ich dieses Blatt mit Tränen überstreun. <line
tab="5" />
<line type="empty" />
<note>vertikal am linken Rand</note> Ich umarme Dich und
küsse Dich 1000mahl als Dein <line type="break" /> allergetreuester Bruder <line type="break" />
Jacob Michael Reinhold Lenz.<line type="break" /> Dorpat den 11ten October 1767. </letterText>
<letterText letter="3">
<page index="1" />
<align pos="center">Verehrungswürdigste Eltern! </align>
<line type="empty" />
<line
type="empty" />
<line type="empty" /> Nach einer langsamen und ziemlich beschwerlichen Reise
sind wir endlich am verwichenen Mittwochen Nachmittags um zwey Uhr glüklich und gesund zu
Tarvast angekommen. Der Weg ist fast <aq>inpassabel</aq>, und die ersten Tage hatten wir
ungemein starke Stürme und Regen. Wir wurden von der Wittwe recht artig aufgenommen und
speiseten den ersten Abend mit dem Lieutenant Krüdner von Arrohoff und seiner Gemahlin, die
sich Ihnen empfehlen ließen und mit dem Rittmeister Pietsch und der Fräulein Krüdner. Wir
werden auch noch immer zum vor und nachmittäglichen Kaffee und zur Mahlzeit herein gebethen,
weil der älteste Bruder mit seiner Wirtschaft noch nicht völlig im Stande ist und wir erst mit
dem Anfange der künftigen Woche unsre eigne <aq>Menage</aq> <page index="2" />anfangen wollen.
Die Wittwe ist eine <aq>simple</aq> Frau mit der der Umgang ziemlich langweilig wird: aber die
Kinder sind rechte Unholde, und ich habe sie noch in meinem Leben so ungezogen nicht gesehen.
Die jüngere Tochter strich ohne uns zu grüßen mir wie ein Wirbelwind vorbey und nahm ihren Weg
gerade nach dem Tisch zu, auf den sie mit einem Satz sich heraufschwung und die Älteste machte
es eben so, nur mit dem Unterschied daß sie bei jedem Schritt eine Art von Kniks machte, wie
ihn ihr die Natur gelehrt hatte. Bey Tisch schreyt alles so untereinander, daß wir stumm seyn
müssen, weil wir unser Wort nicht hören können. Der Bruder läßt sich recht sehr entschuldigen,
daß er nicht mitgeschrieben: er ist von Morgen bis Abend zu mit Arbeiten und Bräutigammen und
Lehrlingen überhäufft, überdem auch mit seiner Wirthschaft beschäftigt, mit der es noch nicht
in<page index="3" /> den Gang kommen will, weil die alte Jungfer noch immer Rasttage hält und
überhaupt ein bisgen unlustig ist, weil sie, wie sie sagt und sich einbildt, unter lauter
Feinden hier leben muß. Er befindet sich aber sonst nach der Reise, so wie auch ich und die
Jungfer, Gottlob recht gesund und läßt Sie, das junge Paar und alle Geschwister aufs
ehrerbietigste und zärtlichste grüßen. Ich bitte gleichfalls den Neuverbundnen und allen
Geschwistern meinen zärtlichsten Gruß zu vermelden und küsse Ihnen die Hand als <line
type="empty" /> Meiner verehrungswürdigsten Eltern <line type="empty" />
<line type="empty" />
gehorsamster Sohn <line type="break" /> Jacob Michael Reinhold Lenz Tarwast den 9ten November
1767. <note>am linken Rand, vertikal</note> Der Frau Obristin und ihrem würdigsten Hause, wie
auch dem Herrn Pastor Oldekopp bitte unser beyder gehorsamste Empfehlung zu machen und
letzterem zu seinem Namenstage zu gratuliren. Ich werde meine Kur erst mit der künftigen Woche
anfangen und mache mir deswegen in der jetzigen bisweilen eine <aq>Motion</aq>, mit Reiten und
Spazierengehen. Auf den Sonntag wird der Bruder teutsch predigen. <page index="4" />
<note>
Adresse</note> Dorpat. <line type="empty" />
<line type="empty" />
<line type="empty" />
<aq>A
Monsieur Monsieur <ul>Lenz</ul> Prevot ecclisiastique et Ministre du St. Evangile a leglise
de St. Jean </aq>
</letterText>
<letterText letter="4">
<page index="1" />
<align pos="center">Verehrungswürdigster Herr Papa!</align>
<line
type="empty" />
<line
type="empty" />
<line type="empty" /> Ich weiß nicht, ob der Bruder bey seinen
Amtsgeschäften, Catechisiren etc. Zeit haben wird, an Sie zu schreiben: ich nehme mir also die
Freyheit, Ihnen abermals von dem was uns angeht, gehorsamst Nachricht zu geben. Der Bruder ist
wie gesagt, sehr beschäftigt, befindet sich aber bey seinen Arbeiten noch immer Gottlob! recht
gesund und vergnügt. Auch mir bekommt meine Kur recht gut und außer der kleinen
Unbequemlichkeit, die mir der <aq>Diät</aq>, das Warmhalten, das Laxieren u. dgl. <page
index="2" />machen, bin ich hier so vergnügt, wie man es in der Einsamkeit sein kann. Ich
lese, oder schreibe, oder studire, oder tapeziere oder purgiere, nachdem es die Noth erfodert.
Uebrigens hoffen und wünschen wir beyde von ganzem Herzen, daß dieser Brief sowohl Sie, als
meine hochzuehrende Frau Mamma recht gesund, vergnügt und zufrieden antreffen möge. <line
tab="1" /> Doch! eine Bitte, gütigster Herr Papa! zu der mich die Noth und Dero väterliche
Gewogenheit berechtigen. Ich habe bey der neulichen Herreise empfunden, wie wenig ein bloßer
Roquelor bey Reisen in kühler und windiger Witterung vorschlage. Ich kann mir also leicht
vorstellen, wie es anziehen muß, wenn man im Winter im bloßen Mantelrock reiset. Ich weiß
wirklich nicht, wie ich einmal nach Derpt zurückkommen oder falls des Bruders Hochzeit im
Janauar seyn sollte, zu der er mit seiner Equipage mich mitnehmen will, wie ich die Reise
dorthin werde thun können. Ueberdem ist mir ein Pelz allezeit nöthig: ich nehme mir also die
Freyheit, Sie ganz gehorsamst zu bitten, ob sie mir nicht könnten für 3 Rubel das Futter dazu,
nämlich einen Sak <insertion>schwarzen</insertion> Schmaßchen aus den Russischen Buden
ausnehmen lassen. Das Oberzeug darf nur Etemin seyn: und da Sie in dieser Zeit sich <page
index="3" />ohnedem ausgegeben haben, <insertion>so</insertion> daß ich mich billig gescheut
haben würde, mir von Denenseiben was gehorsamst auszubitten, wenn mich nicht die Noth zwänge:
so könnte es ja solange in Peukers Bude auf Conto gesetzt werden, bis es Ihnen weniger
beschwerlich fiele, das Geld dafür zu bezahlen. Ich überlasse dies übrigens ganz Ihrer eigenen
gütigen Disposition und werde mich auch alsdenn zufrieden geben, wenn die Umstände es für
diesmal nicht erlauben sollten. <line tab="1" /> Uebrigens küsse ich Ihnen und meiner besten
Mamma ganz gehorsamst die Hand und bin nach 1000 Grüßen an allen meine Geschwister und nach
gehorsamen Empfehl an die Frau Obristin Albedille nebst Ihrem ganzen würdigsten Hause, an den
Herrn Pastor Oldekopp und alle übrige Gönner und Freunde <align pos="right">Meines
verehrungswürdigsten Herrn Papas</align>
<line type="empty" />
<line type="empty" />
<align
pos="right">gehorsamster Sohn <line type="break" /> Jacob Michael Reinhold Lenz. </align>
Tarwasts Pastorath den 24ten November 1767 <page
index="4" /> P. S. Der Bruder läßt sich nochmals gehorsamst entschuldigen, daß er diesmal
nicht mit geschrieben. Er hat gestern den ganzen Tag mit Brautsleuten und Lehrlingen zu thun
gehabt, gestern abend um 12 Uhr in aller möglichen Eile noch nach Reval geschrieben, welchen
Brief er gehorsamst zu bestellen bittet und ist heut früh schon bey dem scharfen Frost den wir
seit einiger Zeit gehabt haben und bey dem Schnee und Sturm der verwichenen Nacht,
catechisiren mit Schlitten gefahren. Er läßt unterdessen Ihnen und seiner würdigsten Frau Mama
seinen kindlichen Handkuß und allen seinen Geschwistern besonders dem jungen Paar, wie auch
allen guten Freunden seinen zärtlichsten Gruß versichern. <line tab="1" />
<note>Friedrich
David Lenz Hand</note>
<hand ref="3">P. S. Theurester Papa. Diesen Augenblick komme von der
Catechesation. Von 8 Uhr heute Morgen bis 4 Uhr Nachmittag habe ich in der Kälte zugebracht,
und bin vom Frost und Ungestüm so durchgenommen, daß ich kaum die Fingern rühren kann. Ich bin
sonst Gottlob gesund, und werde mich innigst freuen, wenn Sie und meine geliebteste Frau Mama
es auch sind. Sie haben doch meiner gehorsamsten Bitte gemäß schon nach Reval an meine
Schwieger-Eltern geschrieben, und für mich eine Vorbitte in puncto der Hochzeit im Januario
eingelegt? 100000 Grüße und Küße an <insertion>Sie beyde verehrungswürdigten</insertion> alle
Geschwister Freunde und Gönner von Ihrem gehorsamsten Sohn. F. D. Lenz. Mit steifen Fingern </hand>
</letterText>
<letterText letter="5">
<page index="1" />
<align pos="center">Mein liebstes junges Paar!</align>
<line type="empty" />
<line
type="empty" />
<line type="empty" /> Wie sind Sie angekommen? Wieviel Glieder und Sinne
haben Sie noch übrig? (denn Ihren Leuten wird wohl Verstand und alle Sinne erfroren seyn). Wie
haben Sies zu Wasser und zu Lande gehabt? Sind Sie auch geirret? Und wie haben Sie alles zu
Hause gefunden? Wie lassen sich die Schwedischen Reichsräthe an? Und wie gefällt Ihnen, meine
liebe junge Frau, das einsame Tarwast? <line tab="1" /> Zum andern befinden wir uns alle so,
wie Sie uns gelassen haben. Papa ist Papa, und Mamma ist Mamma, und Moritz und seine Frau und
alle übrige sind gesund und vergnügt, und ich, ich sey Jakob. <line tab="1" /> Zum dritten,
vierten und zehnten habe ich auch die Ehre zum Geburstag zu gratuliren und zu wünschen <aq>
mmmmmmm</aq> und wieder der Herr <aq>mmmmm</aq> und wieder der Heiland <aq>mmmmm</aq> und
wieder sitzo. <note>am linken Rand, vertikal</note> Mamma bittet den Sak zurück in welchem
Dein Junge Salz mitgenommen hat. Sie grüßet Sohn und Tochter aufs zärtlichste und bittet sehr
um angeführten Sak. <page index="2" /> Oder besser: ich wünsche auch, daß Sie möchten zu einer
glüklichen Stunde geboren seyn ….. und nicht nur dieses sondern viele folgende zu erleben und
mit Gesundheit zu verzehren. <line tab="1" /> Oder dito feiner: Wünsche auch, daß der
barmherziger Gott verleihen wolle einen kräftigen Geist des <aq>Danielis</aq> und wenn es
sollte dermaleinst zum Jahre des Nestors kommen, dieselben; Sie gehen nimmer aus meinem
Gemüthe weg. Anbey wünsche auch daß in künftiger Zeit benebenst guter Gesundheit dermaleinst
mancher kleiner Herr Söhnlein um die Eltern wimmeln mag, benebst den Oelpflänzlein um dero
Tisch, sie grünen und blühen. Abkürze hier meine Gratulation, dieweile der drange Raum mich
verweigert, hierüber weiter herauszulassen. <line tab="1" /> Ernsthaft zu reden so ist es
Schade, daß wir an diesem Tage nicht hier zusammen vergnügt sein konnten. Doch ich bin jetzt
im Geist auf Tarwast und schwatze Ihnen was vor, dann werde ich ganz ernsthaft und wünsche
Ihnen beyden so viele und so angenehme Geburtstage, als Sie sich selbst wünschen, und soviel
Vergnügen, als Ihnen die ersten Umarmungen in Reval gaben, an dem heutigen Tage. Es sey euch
dieser Tag an tausend Zärtlichkeiten<line tab="5" /> An tausend sanften Freuden reich.<line
tab="5" />
<page index="3" /> Mit Küssen grüßet ihn: spielt ihm auf sanften Sayten<line
tab="5" /> Ein zärtlich Lied und unter Zärtlichkeiten<line tab="5" /> Verfließ er euch!<line
tab="5" /> Dies ist der Tag, müß jetzt Ihr Fritzchen sagen,<line tab="5" /> Der Dich mir
gab, mein Leben, meine Lust.<line tab="5" /> Für mich hat unter ihrer Brust<line tab="5" />
Die beste Mutter Dich getragen.<line tab="5" /> Für mich hat Deinen ersten Tagen<line tab="5" />
Gott jene teure Pflegerin geschenkt<line tab="5" /> Die zärtlicher, als hundert Mütter denkt<line
tab="5" /> Und deren Abschied noch Dich kränkt.<line tab="5" /> Für mich wuchs Deine holde
Jugend<line tab="5" /> Wie Frühlingsrosen auf: und Zärtlichkeit und Tugend<line tab="5" />
Keimt damals schon für mich in Deiner Brust empor.<line tab="5" />
<line type="empty" /> Dann
müß auch sie mit sanften Küssen sagen:<line tab="5" /> Geliebter, ja, ich bin nur da für Dich.<line
tab="5" /> Für Dich fing dies Herz an zu schlagen<line tab="5" /> Und ewig schlägt es nur
für Dich.<line tab="5" />
<line type="empty" /> So sey euch dieser Tag an unschuldsvollen
Freuden,<line
tab="5" /> So sey er euch an Liebe reich.<line tab="5" /> Wie mancher Hagstolz muß euch eure
Lust beneiden,<line tab="5" /> Wie manches Ehepaar wünscht heimlich eure Freuden!<line tab="5" />
Werd ich einst auch ein Mann, will ich euch nicht beneiden:<line tab="5" /> Allein zum Muster
nehm ich euch.<line tab="5" />
<page index="4" /> Neuigkeiten! <aq>Madem. Smoljan</aq> und die
Majorin Graß sind weggereist. Die Oldekoppin ist recht böse auf Dich, lieber Bruder, und auf
Deine junge Frau, daß ihr nicht bey ihr gewesen seyd. <line tab="1" /> Papa und Mama, die
sich Gottlob! noch erträglich befinden, Moritz und seine Frau, die vielleicht selbst auch
schreiben werden, Lieschen, Christian und die kleinen Geschwister, alle Freunde besonders die
Frau Obristin und die Fräuleins grüßen und küssen 1000mal Fräu- und Männlein. Auch wird die
alte Jungfer begrüßt. Leben Sie gesund und vergnügt mein liebstes Paar! und behalten Sie immer
lieb <line type="empty" />
<note>Albedylls Hand</note>
<hand ref="7">Ihres Herrn Bruders seine
grüsse von mich sind zu kalt, hier folgen die zärtlichsten die aufrichtigsten die feurigsten
von mich und meiner Tochter, von meiner eigenen Hand. <ul>
<aq>Albedyll</aq>
</ul></hand>
<line type="empty" /> zärtlichsten Bruder <line
type="break" /> Jacob Michael Reinhold Lenz<line type="break" /> Am Geburtstage 1768. <line
type="break" /> P.S. Wenn Du, liebster Bruder! einige <aq>Exemplare</aq> von <insertion>
den</insertion> hochzeitlichen Gedichten hast, so schicke sie mir doch, ich habe kein
einziges. Onkel Kellner vergaß auch uns welche mitzugeben. Die <aq>Capit. Sege</aq> und die
Lieutnantin Brandt von Fetenhof und die Majorin Toll von Wissus haben junge Söhne. Die alte
Oldenkoppin ist ziemlich krank. Heut hat H. Rektor für Reichenberg gepredigt. <aq>Adieu!</aq>
Dieses am Sonntage. </letterText>
<letterText letter="6">
<page index="1" /> Königsberg 1769. Octbr 14. <align pos="center">Gütigster Herr Papa.</align>
<line
type="empty" /> Um den Brief nicht überflüssig groß und dick zu machen, muß ich mich
begnügen, nur gegenwärtigen kleinen Zettel in denselben an Sie einzuschließen. Christian wird
vermutlich in seinem Schreiben weitläuftiger <del>zu</del> seyn und ich habe also nur noch
einige kleine Supplemente zu meinem vorigen Briefe zu geben. So sehr ich Ihnen für die gütige
Besorgung eines Theils meines jährlichen <aq>Fixi</aq> verbunden bin, so sehr sehe ich mich
genöthigt, Sie nochmals gehorsamst um die so viel möglich baldige Beförderung dessen, was Ihre
Gütigkeit zu unserer Kleidung bestimmt hat, zu bitten. <aq>Pranumeration</aq> ist nothwendig,
wenn ein Student gut wirthschaften will und also ist ihm im Anfange des Jahrs immer Geld
unentbehrlich. Noch einige Ausgaben habe Ihnen schon vorhin specificiren wollen, für die ich
gleichfalls von Ihrer Gewogenheit einigen Ersatz hoffe, wenn es Ihre Umstände zulassen. Der
Band einiger <aq>Exemplare</aq> meiner Landplagen, insonderheit der letzte, der nach Petersb.
bestimmt und den ich schon dem Herrn v. Schulmann an Sie mitgegeben: kostet mir wenigstens bis
2 Dukaten. Hernach haben alle Landsleute zum Begräbnis des seel. Herrn Langhammers was
beitragen müssen: weil seine Mutter eine Wittwe ist, die sich selbst nicht ernähren kann, und
derjenige, der ihn studiren lassen, nicht einmal so viel, als zu den Ausgaben, an Doctor etc.
in seiner Krankheit erfordert worden, überschickt<page index="2" /> hat. Dieser Beytrag war
bis über 4 Thlr. Wenn Sie von dem Obristen Bok was gehört haben, so seyn Sie so gütig, es
mir bey Gelegenheit zu melden. Neulich haben wir einen gewissen Bar. Cloth, Ihren gewesenen
Eingepfarrten, 2 Bar. v. Baranow und den jungen H. D. Stegemann, der vielleicht schon jetzt in
Dorpat angekommen seyn, allhier gesprochen. Der Catalogus lectionum ist zwar jetzt heraus,
allein ich fürchte er würde den Brief zu sehr anschwellen, wenn ich ihn hier beylegte. Ich
werde dieses halbe Jahr, außer den philosophischen und andern Collegiis von theologicis das
Theticum bey D. Lilienthal und ein Exegeticum über die Ep. Pauli an die Römer bey D. Reccard
hören. Die andern theologischen Collegia bedeuten in diesem halben Jahr nicht viel. Ueberhaupt
wenn man nebst einigen wenigen Professoren die Magister von Königsberg nähme, würde die
Akademie wenig oder gar nichts werth seyn. Nächstens werde ich weitläuftiger sein. Vergeben
Sie unser öfteres unverschämtes Geilen nach Geld: die Noth lehrt hier beten und betteln. Gegen
den Winter kommen viel neue Ausgaben. Holz: ein neuer Schlafrock, Tisch Grüßen Sie doch
alle Verwandte und Freunde, besond. aber meine theureste Frau Mama 100000mal von Ihrem <line
type="empty" /> gehorsamsten Sohn<line type="break" /> J.M. R. Lenz. <note>auf der ersten
Seite am rechten oberen Rand</note> P. S: Wenn Sie an den Tarwastschen Bruder schreiben, so
sagen Sie ihm doch, daß ich recht sehr begierig bin, einmal einen Brief von ihm zu sehen. </letterText>
<letterText letter="7">
<page index="1" /> I. <aq>Ni Deus fere miraculum fecisset, hae pecuniae non confluxissent.</aq>
1) Ursachen, Wenigkeit der <aq>Communicanten</aq>: armselige Beschaffenheit, die größten
Ausgeblieben, kein Rathsherr, keiner von den Aeltesten-Leuthen; <aq>excepto</aq> P.ker und
Teller das wenige Gesammelte zu Bezalung der Handwerker im Auditorium, die schon lange zu
Halse gegangen. 2) Art u. Weise, wie sie zusammen geflossen. <aq>Fick</aq> 20 Rbl.
Treuer 20 Rbl. Stryck 10 Rbl. Raths-Stipend. 20 Rbl. 3) <aq>Distributio.</aq> a) <aq>Jacob
Fick</aq> 10 Rbl. Raths<aq>Stip.</aq> 10 Rbl. S. 20 Rbl. b) <aq>Christian Fick</aq>
10. <aq>Treuer</aq> 20. <aq>Stryck</aq> 10. Raths-<aq>Stip.</aq> 10 S. 50 Rbl <line
tab="1" />II. Hiermit aber sind auch nun die vorigen Quellen verschlossen. Jacob hat Boks u.
der <aq>Baronne Wolf Stipendia</aq> weg <aq>Fick</aq> sagte 50 Rbl. habe er destinirt, 30
Rbl. hätte er vorher gegeben, nun die letzten 20. <aq>Treuer</aq> ein vor alle mal das
Raths-<aq>Stipendium</aq> für dich geschlossen, tritt nun So .. <aq>jun.</aq> an. <aq>Stryck</aq>
auch aufs letzte Jahr. Auf mich gar keine Rechnung zu machen. Denn da meine Erntezeit nichts
getragen u. ich also fast in allgemeinen Schulden sitzen bleibe, so ist auf die übrigen Teile
des Jahres wenig zu rechnen: u. es wird e. Wunder-Gnade Gottes seyn, wenn noch so viel
zusammen soll, als bis Michaelis nöthig ist. <page index="2" />
<line tab="1" /> III. <aq>
Porismata</aq> hieraus, daß sie 1) durchaus nicht länger als bis gegen Michaelis sich ihren <aq>Terminum
Academicum</aq> setzen, denn es wird ohnehin schwehr genug seyn, sie noch so hinge zu
unterstützen 2) sich nicht in Schulden einfressen, sonst sich so vest fressen, da ich sie
unmöglich würde lösen können u. da wären sie ganz verloren, denn ich könnte nicht, wenn sie
auch ins <aq>Carcer</aq> kämen 3) daß sie mittlerweile sehr fleissig seyn pp. <line tab="1" />
IV. Nachricht, so ich gehöret, daß Prof. Cant ihn nach Rehbinder in Danzig <aq>recommendiret</aq>
. <line tab="1" /> 1) Vorläufige Bestrafung, daß er nicht mit mir solche Sachen <aq>
communicire</aq>, böses Gewissen: Ich würde ihm Väterl. und aus reifer Ueberlegung und
Erfahrung rathen: Aber damit wäre ihm vielleicht nicht gedient, sondern Rath d. Jungen, die
auch noch flüchtig denken u. sich durch den anfängl. Falschen Schein, Dunst u. Glast blenden
lassen. Er mache es wie Rehabeam p. Vielleicht unsere Väter und mütterliche Zärtlichkeit
würde es nicht zulassen, ob es gleich dein Bestes wäre: Aber a) <aq>Si Supponis</aq> so viel
väter- u. mütterl. Zärtlichkeit; <aq>male</aq>, daß du nicht eben so viel kindl. Zärtlichkeit
hast, u. deine Eltern dadurch erfreuen wilst, daß du in deinem Vaterlande Gott und deinen
Nächsten, ihnen zur Ehre und Freude nützl. seyn wilst Zeigt wenig <aq>patriotismus</aq> an.
Ist doch auch wol e. Tugend <aq>Exempl.</aq> <page index="3" />Griechen, Römer. Was haben
wir, was alle Freunde, was alle deine hiesigen Compatrioten, bey denen du das beste Vorurth.
erweckt hast, von allen ihren Erwartungen. b) Aber wenn es dein wahrer Vorteil wäre; abnegarem
Alle mein eignes und der Meinigen Vergnügen p. So affenliebisch bin ich nicht pp. Allein <aq>
Suppono</aq>, daß d. <aq>H. Resident</aq>, als <aq>Resident</aq> (denn das bringt diese s. <aq>
Charge</aq> schon mit sich) in Danzig bliebe. Was wilst du dann bey ihm machen? Erst
Hofmeister, das hier auch, dann <aq>Secretair</aq>. Ein schlechter wol nicht, damit er
dich abdanken könne. Nein e. gut., folgl. e. ewiger <aq>Secretair</aq>, so wie dein
Mutterbruder <aq>Neoknapp</aq>, e. ewiger freier Unterthan s. Hauses, der nie s. eignes
anfangen, nie heiraten, nie selbst e. Wirtschaft fuhren kann, immer die Füsse unter e. fremden
Tisch stecken muß. Taugst du nichts u. must ihn verlassen, so jägt er dich ohne <aq>
Recommendation</aq> weg. Taugst du was, u. hat er dich lieb, so wird er aus Eigennutz dich
in s. Hause ewig festhalten wollen, u. ich weiß nicht, zu welchen <aq>emplois</aq> er dir in
Danzig helfen könnte, da es doch dort wol von geschickten Landes Leuten krimmelt u. wimmelt,
die nothwendig vor fremden den Vorzug haben. Vielleicht rechnest du darauf, daß er dich dort
in e. gute Pfarre helfen solle. In was für eine Etwa in e. Stadtpfarre in Danzig selbst? Nein
dazu nehmen die Herren Danziger wahrhaftig <aq>praejudicio</aq> keinen blossen und noch dazu
fremden Candidaten, wenn er auch Apoll selbst wäre, auch nicht jeden geschickten wahren
Prediger einmal, sondern verschrieben sich immer große <aq>Professores</aq> und <aq>Doctores
Theologiae</aq> von fremden Academien, wie so z.E. <aq>D.</aq> Kraft a.d. großen Pfarrkirche;
und D. Bertling aus Helmstädt dahin kamen. Nun wo dann hin? Aufs Land, aufs Dorf. 1) kannst du
das hier auch u. viel besser haben: denn wir haben hier 10mal bessere Land-Pastorate, als die
dortigen Dorf-Pfarren sind, wo die armen Prediger fast das Hungerbrod fressen. 2) ist nichts
Verachteteres, als e. dasiger Dorf-Pfaffe. <aq>In urbibus pastores magis honorantur,<page
index="4" /> quam hic. At in pagis quoque centies magis spernuntur, quam hic.</aq> Es
ist überhaupt die Frage, ob d. <aq>H. Resident</aq> dich dort zu e. geistl. od. weltl. Amt
befördern könne, oder wolle: (1) ob er könne! Denn warum solten sie sich <aq>Subjecta</aq> von
e. fremden Herrn vorschlagen lassen, da es ihnen weder an eignen <aq>consiliariis</aq> noch <aq>
Subjectis</aq> zu Aemtern fehlet b) ob er wolle! Denn gefällst du ihm, so wird er kein Thor
seyn, sich auf die Art von dir zu trennen u. sich selbst deiner guten Dienste zu berauben.
Gesetzt du wollest da nicht länger bey ihm bleiben; wo dann hin! da du dort fremd u. unbekannt
bist: hier aber (da dein Vat. überall und du auch schon zieml. weit und breit bekannt ist) dir
das ganze Land offen steht. <aq>Ergo plane dissuadeo ut amicus, at si non vis,</aq> befehle
ichs dir als Vater, daß du dies Project fahren lassest u. mit deinem Bruder hereinkommst. <line
tab="1" /> V. Anderwärtiger Vorschlag, den ich ihm gebe. D. H. Obrister Bok bey mir, hat e.
Schwester in Lettland, <aq>nomen nescio</aq> hat noch klein. Kind., fordert nur den ersten
Unterricht in Bstabiren, Lesen, Schreiben, Rechnen u. sonderl. im französischen, <aq>offerirt</aq>
selbst nicht das <aq>Salarium</aq>: du solst es fixiren. Ich meine im ersten Jahre, da dte
Kind. klein 150 rthl. Alb. (weil dort im lettischen Alberts-Tahler) so nach Rubeln doch zum
allerwenigsten 180 Rbl. ausmachen, und dabey 20 Rthl. zu freyem <aq>Thee</aq> und Zucker. Im
anderm Jahre wenn du bleiben wilst und kanst, aber 200 rthl. Alb. welches zum allerwenigsten
240 Rbl. ausmachet, u. abermal 20 rthl. Thée und Zucker. Ich wil auch suchen das Reisegeld für
dich mit zu verdingen, weil ich sorge, ich möchte es kaum aufbringen können. Wilst du dies, so
wil ich an Bok schreiben. Denn er wartet sehnl. auf Antwort u. bittet sehr darum. Wer weiß, wo
dieser Gönner auch wegen s. grossen Bekanntschaft mit den Größten des Hofes u. Einfluß bey d.
Majestät selbst dir hier noch beförderl. seyn könnte? Antworte bald. Das <aq>Salarium</aq>
däucht mir <aq>convenable</aq>. Man<page index="5" /> darf den Bogen nicht zu hoch spannen,
weil er dir in d. Noth geholfen p. Du hast Freiheit, kanst bleiben u. auch gehen, wenn dir die <aq>
condition</aq> nicht länger ansteht. <line tab="1" /> VI. Der Mamma Zustand: Marter von Viel.
1000 Plagen, schlechtes OsterFest. Meine Gesundheit auch schlecht. Kopfschmerzen vom Dunst. <line
tab="1" /> VII. Meine neue Verfolgung, wegen 1) d. Ober-Consistorial-Schrift 2) des
Kirchenbuches. <line tab="1" /> VIII. Erbärml. Zustand d. <aq>Sczibalski</aq> auf Rüggen. Sie
werden wol nicht mehr sehen. <aq>Extract</aq> aus den beyden letzten <aq>Sczibalskischen</aq>
Briefen. Unsere vielen Tränen. <line tab="1" /> IX. Lieschen 3 Tage schon krank.
Ueberhaupt dort viel Patienten, desgleichen in Lemsal von den <aq>Recruten</aq>. <line tab="1" />
X. Gestorben: 1) General Di..t.. ..: Schreckl. Krankheits-Umstände seel. Tod. Grots
Leichen-Predigt 2) Landrath <aq>Igelstrohm</aq> 3) <aq>Axel</aq> Bruiningk 4) d. <aq>Candid.</aq>
Hoffmann, d. euch auf dem Claviere informirte, in Lemsal 5) d. junge Reichenberg. <aq>Ejus
ultima</aq> Vorm Jahrd. junge Helm. <line tab="1" /> XI. Neuer General-<aq>Superint.</aq>
Sein guter Character. Nicht ein solcher Pedant. Neuer Grund einzukommen. <line tab="1" />
XII. <aq>Copulandi</aq> Inspect. Petersen mit e. Jungfer Rosenthal. <line tab="1" /> XIII.
Frage, obs wahr, daß die Preußen in Curland eingerückt sind? Ob sie <aq>communiciret</aq>
haben u. wann? <line tab="1" /> XIV. Schluß-Ermahnung. 3 Stangen fein. schwarzen Lak. Zu 40
Trauer-Briefen Pappier mit schwarzen Ränd. 2 Buch Pappusch Pappier von No. 1. </letterText>
<letterText letter="8"> Theurester Freund! <line tab="1" />Sie werden mir ein kleines
Stillschweigen zu gut halten, das auf eine Abreise ohne Abschied seltsam genug aussieht. Die
gegenwärtige Lage meiner Seele wird mich entschuldigen. Sie kriecht zusammen, wie ein Insekt,
das von einem plötzlichen kalten Winde berührt worden. Vielleicht sammelt sie neue Kräfte,
oder vielleicht ist dieser Zustand gar Melancholey. Sey es was es wolle, ich befinde mich eben
nicht unglücklich dabey, es ist kein Schmerz den ich fühle, sondern bloß Ernst und obschon
dieser den Jüngling nicht so sehr ziemet als den Mann, so denk ich, ist er auch für jenen
unter gewissen Umständen vortheilhaft. Geben Sie mir doch Nachricht von Ihrem Befinden, ändern
Sie Ihr sonst so gütiges Zutrauen gegen mich nicht. Meine Umstände können meine Oberfläche
zwar ändern, aber der Grund meines Herzens bleibt. Ich beschäftige mich gegenwärtig
vorzüglich mit Winkelmanns Geschichte der Kunst, und finde bei ihm Genugtuung. O daß dieser
Mann noch lebte! Schaffen Sie sich sein Werk an, wenn Sie einmal auf Verschönerung Ihrer
Bibliothek denken. Wenn seine Sphäre nur nicht von der Art wäre, daß er sich durch einen
großen Nebel von Gelehrsamkeit in derselben herumdrehen muß, der den gesetzten und edlen Flug
seines Geistes merklich niederschlägt. In der Jurisprudenz habe ich nur noch eine kleine Saite
in meiner Seele aufgezogen, und die gibt einen verhenkert leisen Thon. Der waltende Himmel mag
wissen, in was für eine Form er mich zuletzt noch gießt und was für Münze er auf mich prägt.
Der Mensch ist mit freien Händen und Füssen dennoch nur ein tändelndes Kind, wenn er von dem
großen Werkmeister, der die Weltuhr in seiner Hand hat, nicht auf ein Plätzchen eingestellt
wird, wo er ein paar Räder neben sich in Bewegung setzen kann. Ist Ihre Abhandlung schon
vorgelesen? Und wie haben sich <aq>Ott</aq> und <aq>Haffner</aq> das letztemahl gehalten; ich
zähle auf Ihr Urtheil davon. <line tab="1" />Ihre weisen Rathschläge über einen gewissen
Artikel meines Herzens, fang ich an mit Ernst in Ausübung zu setzen: allein eine Wunde heilt
allemahl langsamer, als sie geschlagen wird. Und wenn ich die Leidenschaft überwände, wird
doch der stille Wunsch ewig nicht aus meinem Herzen gereutet werden, mein Glück, wenn ich
irgend eines auf dieser kleinen Kugel erwarten kann, mit einer Persohn zu teilen, die es mir
allein wird reitzend und wünschenswerth machen können. Ich habe heut einen dummen Kopf, aber
ein gutes und geruhiges Herz: aus der Fülle dieses Herzens will ich Ihnen sagen, daß ich bin
Ihr <line type="break" /> unaufhörlich ergebenster Freund <line type="break" /> J. M. R. Lenz. <line
type="empty" />
<note>Am Rand</note> Von Herrn von Kleist ein ganz ergebenstes Compliment.
Wollen Sie so gütig seyn, mich Ihrer Tischgesellschaft zu empfehlen, vorzüglich Herrn <aq>
Leibhold</aq> und <aq>Hepp</aq>. <line type="empty" />
<note>Nachschrift</note> Ich sehe daß
mein guter Ott mich nicht versteht und durchaus glaubt, wenn ich nicht lustig bin, müsse ich
unglücklich seyn. Benehmen Sie ihm doch dieses schlechte Zutraun zu mir, welches mich in der
That schamroth machen muß. Der Himmel ist noch nie so strenge gegen mich gewesen, mir größeren
Kummer aufzulegen, als wozu er mir Schultern gegeben, und wenn ich jetzt die feige Memme
machte, der Ungedult und Thorheit über die Backen liefen, so verdient ich in Essig eingemacht
zu werden, damit ich nicht in <aq>putredinem</aq> überginge. Ich fürchte, weil ich an ihn
jetzt nicht mehr mit lachendem Munde schreiben kann, sein gar zu gutes und empfindliches Herz
wird glauben, ich sey niedergeschlagen und ich bin es doch niemals weniger gewesen als itzt. <line
tab="1" />Neulich als ich einige Stunden einsam unter einem Baum gelesen, sah ich
unvermuthet eine erschreckliche Schlange ganzgeruhig zwei Zoll weit neben mir liegen. Ich flog
schneller als ein Blitz davon, und dachte es muß doch noch nicht Zeit für dich sein Diese
Anekdote schreibe ich meinen Freunden nur darum, damit sie sich in Acht nehmen, unter einem
Baum auszuruhen denn sonst denk ich interessirt sie niemanden als mich. <line tab="1" />Ich
schick Ihnen zur Ausfüllung einer vegetirenden Stunde nach dem Essen, eine kleine Romanze, die
ich in einer eben so leeren Stunde gemacht habe. <line type="empty" />
<align pos="center">Piramus
und Thisbe.</align>
<line tab="4" />Der junge Piramus in Babel <line tab="4" />Hat in der Wand <line
tab="4" />Sich nach und nach mit einer heissen Gabel <line tab="4" />Ein Loch gebrannt. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Hart an der Wand, da schlief sein Liebchen, <line tab="4" />Die
Thisbe hieß, <line tab="4" />Und ihr Papa auf ihrem Stübchen <line tab="4" />Verderben ließ. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Die Liebe geht so, wie Gespenster, <line tab="4" />Durch Holz
und Stein. <line tab="4" />Sie machten sich ein kleines Fenster <line tab="4" />Für ihre Pein. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Da hieß es: liebst du mich? da schallte: <line tab="4" />Wie
lieb ich dich! <line tab="4" />Sie küßten Stundenlang die Spalte <line tab="4" />Und meynten
sich. <line type="empty" />
<line tab="4" />Geraumer ward sie jede Stunde, <line tab="4" />Und
manchen Kuß <line tab="4" />Erreichte schon von Thisbens Munde <line tab="4" />err Piramus. <line
type="empty" />
<line tab="4" />In einer Nacht, da Mond und Sterne <line tab="4" />Vom Himmel
sahn, <line tab="4" />Da hätten sie die Wand so gerne <line tab="4" />Beyseits gethan. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Ach Thisbe! weint er, sie zurücke: <line tab="4" />Ach
Piramus! <line tab="4" />Besteht denn unser ganzes Glücke <line tab="4" />In einem Kuß? <line
type="empty" />
<line tab="4" />Sie sprach: ich will mit einer Gabe, <line tab="4" />Als wär
ich fromm, <line tab="4" />Hinaus bei Nacht zu Nini Grabe, <line tab="4" />Alsdann so komm! <line
type="empty" />
<line tab="4" />Dies wird Papa mir nicht verwehren, <line tab="4" />Dann
spude dich. <line tab="4" />Du wirst mich eifrig bethen hören, <line tab="4" />Und tröste
mich. <line type="empty" />
<line tab="4" />Ein Mann ein Wort! Auf einem Beine <line tab="4" />Sprang
er für Lust: <line tab="4" />Auf Morgen Nacht da küß ich deine <line tab="4" />Geliebte Brust. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Sie, Opferkuchen bei sich habend, <line tab="4" />Trippt
durch den Hayn, <line tab="4" />Schneeweiß gekleidt, den andern Abend <line tab="4" />Im
Mondenschein. <line type="empty" />
<line tab="4" />Da fährt ein Löwe aus den Hecken, <line
tab="4" />Ganz ungewohnt, <line tab="4" />Er brüllt so laut: sie wird vor Schrecken <line
tab="4" />Bleich wie der Mond. <line type="empty" />
<line tab="4" />Ha, zitternd warf sie
mit dem Schleyer <line tab="4" />Den Korb ins Graß <line tab="4" />Und lief, indem das
Ungeheuer <line tab="4" />Die Kuchen aß. <line type="empty" />
<line tab="4" />Kaum war es
fort, so mißt ein Knabe <line tab="4" />Mit leichtem Schritt <line tab="4" />Denselben Weg zu
Nini Grabe <line tab="4" />Der rückwärts tritt, <line type="empty" />
<line tab="4" />Als
hätt ein Donner ihn erschossen: <line tab="4" />Den Löwen weit <line tab="4" />Und weiß im
Grase hingegossen <line tab="4" />Der Thisbe Kleid. <line type="empty" />
<line tab="4" />Plump
fällt er hin im Mondenlichte: <line tab="4" />So fällt vom Sturm <line tab="4" />Mit
unbeholfenem Gewichte <line tab="4" />Ein alter Thurm. <line type="empty" />
<line tab="4" />O
Thisbe, so bewegen leise <line tab="4" />Die Lippen sich, <line tab="4" />O Thisbe, zu des
Löwen Speise <line tab="4" />Da schick ich mich. <line type="empty" />
<line tab="4" />Zu hören
meine treuen Schwüre <line tab="4" />Warst du gewohnt; <line tab="4" />Sey Zeuge, wie ich sie
vollführe, <line tab="4" />Du falscher Mond! <line type="empty" />
<line tab="4" />Die kalte
Hand fuhr nach dem Degen <line tab="4" />Und dann durchs Herz. <line tab="4" />Der Mond fing
an sich zu bewegen <line tab="4" />Für Leid und Schmerz. <line type="empty" />
<line tab="4" />Ihn
suchte Zephir zu erfrischen <line tab="4" />Umsonst bemüht. <line tab="4" />Die Vögel sangen
aus den Büschen <line tab="4" />Sein Todtenlied. <line type="empty" />
<line tab="4" />Schnell
lauschte Thisbe durch die Blätter <line tab="4" />Und sah das Graß, <line tab="4" />Wie unter
einem Donnerwetter, <line tab="4" />Von Purpur naß. <line type="empty" />
<line tab="4" />O
Gott, wie pochte da so heftig <line tab="4" />Ihr kleines Herz! <line tab="4" />Das braune
Haupthaar ward geschäftig, <line tab="4" />Stieg himmelwärts. <line type="empty" />
<line
tab="4" />Sie floh hier zieht, ihr blassen Musen, <line tab="4" />Den Vorhang zu! <line
tab="4" />Dahinter ruht sie, Stahl im Busen: <line tab="4" />O herbe Ruh! <line type="empty" />
<line
tab="4" />Der Mond vergaß sie zu bescheinen, <line tab="4" />Von Schrecken blind. <line
tab="4" />Der Himmel selbst fieng an zu weinen <line tab="4" />Als wie ein Kind. <line
type="empty" />
<line tab="4" />Man sagt vom Löwen, sein Gewissen <line tab="4" />Hab ihn
erschröckt, <line tab="4" />Er habe sich zu ihren Füßen <line tab="4" />Lang hingestreckt. <line
type="empty" />
<line tab="4" />O nehmt, was euch ein Beyspiel lehret, <line tab="4" />Ihr
Alten, wahr! <line tab="4" />Nehmt euch in Acht, ihr Alten! störet <line tab="4" />Kein
liebend Paar. <line type="empty" />
<note>Auf einem beiliegenden Zettel</note>
<line tab="4" />Man
sagt daß keine Frau dem Mann die Herrschaft gönnt; <line tab="4" />So nicht Frau Magdelone. <line
tab="4" />Sie theilt mit ihm das Regiment: <line tab="4" />Behält den Zepter nur und lässet
ihm die Krone. </letterText>
<letterText letter="9"> Fort Louis, den 3ten Juni 1772. <line type="empty" /> S. T. Mein
theurester Freund. <line tab="1" />So nenn ich Sie, die Sprache des Herzens will ich mit
Ihnen reden, nicht des Ceremoniels. Kurz aber wird mein Brief werden, denn sie ist lakonisch,
lakonischer als Sallustius, lakonischer als der schnellste Gedanke eines Geistes ohne Körper.
Darum hasse ich die Briefe. Die Empfindungen einer so geläuterten Freundschaft als Sie mich
kennen gelehrt, gleichen dem geistigen Spiritus, der wenn er an die Luft kömmt, verraucht. Ich
liebe Sie mehr verbietet mir mein Herz zu sagen, der plauderhafte Witz ist nie sein
Dolmetscher gewesen. Ich bin wieder in Fort-Louis, nach einigen kleinen Diversionen, die meine
kleine Existenz hier, auf dem Lande herum, gemacht hat. Ob ich mein Herz auch spazieren
geführt <line tab="1" /> Ich habe die guten Mädchen von Ihnen gegrüßt: sie lassen Ihnen
ihre ganze Hochachtung und Ergebenheit versichern. Es war ein Mädchen, das sich vorzüglich
freute, daß ich so glücklich wäre, Ihre Freundschaft zu haben. Mündlich mehr. Ich komme in der
Fronleichnamswoche zuverlässig nach Straßburg. Schon wieder eine Visite und schon wieder
eine Ich bin mit einigen Offiziers bekannt und diese Bekanntschaft wird mir schon, in ihrer
Entstehung lästig. Ich liebe die Einsamkeit jetzt mehr, als jemals und wenn ich sie nicht in
Straßburg zu finden hoffte, so würde ich mein Schicksal hassen, das mich schon wieder zwingt,
in eine lärmende Stadt zurückzukehren. <line tab="1" /> Was werden Sie von mir denken, mein
theuerster Freund? Was für Muthmaßungen Aber bedenken Sie, daß dieses die Jahre der
Leidenschaften und Thorheiten sind. Ich schiffe unter tausend Klippen auf dem Negropont, wo
man mir mit Horaz zurufen sollte <line type="empty" />
<line tab="4" /><aq>Interfusa nitentes <line
tab="4" />Vites aequora Cycladas.</aq>
<line type="empty" />
<line tab="1" />Wenn ich auf
einer dieser Inseln scheitre wäre es ein so großes Wunder? Und sollte mein Salzmann so
strenge ·sein, mich auf denselben, als einen zweiten Robinson Crusoe, ohne Hilfe zu lassen?
Ich will es Ihnen gestehen (denn was sollte ich Ihnen nicht gestehen?), ich fürchte mich vor
Ihrem Anblick. Sie werden mir bis auf den Grund meines Herzens sehen und ich werde wie ein
armer Sünder vor Ihnen stehen und seufzen, anstatt mich zu rechtfertigen. Was ist der Mensch?
Ich erinnere mich noch wohl, daß ich zu gewissen Zeiten stolz einen gewissen G. tadelte und
mich mit meiner sittsamen Weisheit innerlich brüstete, wie ein welscher Hahn, als Sie mir
etwas von seinen Thorheiten erzählten. Der Himmel und mein Gewissen strafen mich jetzt dafür.
Nun hab ich Ihnen schon zu viel gesagt, als daß ich Ihnen nicht noch mehr sagen sollte. Doch
nein, ich will es bis auf unsere Zusammenkunft versparen. Ich befürchte, die Buchstaben
möchten erröthen und das Papier anfangen zu reden. Verbergen Sie doch ja diesen Brief vor der
ganzen Welt, vor sich selber und vor mir. Ich wünschte, daß ich Ihnen von Allem Nachricht
geben könnte, ohne daß ich nöthig hätte zu reden. Ich bin boshaft auf mich selber, ich bin
melancholisch über mein Schicksal ich wünschte von ganzem Herzen zu sterben. <line tab="1" />Den
Sonntag waren wir in Ses. den Montag frühe ging ich wieder hin und machte in Gesellschaft des
guten Landpriesters und seiner Tochter eine Reise nach Lichtenau. Wir kamen den Abend um 10
Uhr nach S. zurück: dieser und den folgenden Tag blieb ich dort. Nun haben Sie genug. Es ist
mir als ob ich auf einer bezauberten Insel gewesen wäre, ich war dort ein anderer Mensch, als
ich hier bin, alles was ich geredt und gethan, hab ich im Traum gethan. <line tab="1" />Heute
reiset Mad. Brion mit ihren beyden Töchtern nach Sarbrücken, zu ihrem Bruder auf 14 Tage, und
wird vielleicht <b>ein Mädchen</b> da lassen, das ich wünschte nie gesehen zu haben. Sie hat
mir aber bei allen Mächten der L geschworen, nicht da zu bleiben. Ich bin unglüklich, bester
bester Freund! und doch bin ich auch der glücklichste unter allen Menschen. An demselben Tage
vielleicht, da sie von Saarbrük zurük kommt, muß ich mit H. v. Kleist nach Straßburg reisen.
Also einen Monath getrennt, vielleicht mehr, vielleicht auf immer Und doch haben wir uns
geschworen uns nie zu trennen. Verbrennen Sie diesen Brief es reut mich, daß ich dies einem
treulosen Papier anvertrauen muß. Entziehen Sie mir Ihre Freundschaft nicht: es wäre grausam
mir sie jetzt zu entziehen, da ich mir selbst am wenigsten genug bin, da ich mich selbst nicht
leiden kann, da ich mich umbringen möchte, wenn das nichts Böses wäre. Ich bin nicht schuld an
allen diesen Begebenheiten: ich bin kein Verführer, aber auch kein Verführter, ich habe mich
leidend verhalten, der Himmel ist schuld daran, der mag sie auch zum Ende bringen. Ich
schließe mich in Ihre Arme als Ihr <line type="break" /> melancholischer <line type="break" />
Lenz. <line type="empty" />
<note>am Rand</note> Haben Sie die Gütigkeit, der ganzen
Tischgesellschaft meine Ergebenheit zu versichern. … Ums Himmels, um meines Mädchens und um
meinetwillen, lassen Sie doch alles dies ein Geheimnis bleiben. Von mir erfahrt es niemand als
mein zweites Ich. </letterText>
<letterText letter="10"> Fort Louis d. 10ten Junius 1772 <line type="empty" /> Guter Sokrates! <line
tab="1" />Schmerzhaft genug war der erste Verband den Sie auf meine Wunde legten. Mich
auszulachen ich muß mitlachen, und doch fängt meine Wunde dabey nur heftiger an zu bluten.
Nur fürchte ich soll ich Ihnen auch diese Furcht gestehen? Ja da Sie mein Herz einmal offen
gesehen haben, so soll kein Winkel Ihnen verborgen bleiben. Ich fürchte, es ist zu spät an
eine Heilung zu denken. Es ist mir wie Pygmalion gegangen. Ich hatte mir zu einer gewissen
Absicht in meiner Phantasie ein Mädchen geschaffen ich sah mich um und die gütige Natur
hatte mir mein Ideal lebendig an die Seite gestellt. Es ging uns beyden wie Cäsarn: <aq>veni,
vidi, vici</aq>. Durch unmerkliche Grade wuchs unsere Vertraulichkeit und jetzt ist sie
beschworen und unauflöslich. Aber sie sind fort, wir sind getrennt: und eben da ich diesen
Verlust am heftigsten fühle, kommen Briefe aus Strasburg und Vergeben Sie mir meinen tollen
Brief! Mein Verstand hat sich noch nicht wieder eingefunden. Wollte der Himmel ich hätte nicht
nöthig, ihn mit Vetter Orlando im Monde suchen zu lassen. Ich bin um mich zu zerstreuen, die
Feyertage über bei einem reichen und sehr gutmüthigen Amtsschulz in Lichtenau zu Gast gewesen.
Ich habe mich an meinem Kummer durch eine ausschweiffende Lustigkeit gerächt: aber er kehrt
jetzt nur desto heftiger zurück, wie die Dunkelheit der Nacht hinter einem Blitz Ich werde
nach Strasburg kommen und mich in Ihre Kur begeben. Eins muß ich mir von Ihnen ausbitten:
schonen Sie mich nicht, aber lassen Sie meine Freundin unangetastet. Der Tag nach meinem
letzten Briefe an Sie, gieng ich zu ihr: wir haben den Abend allein in der Laube zugebracht;
die bescheidne und englisch gütige Schwester unterbrach uns nur selten und das allezeit mit
einer so liebenswürdigen Schalkheit - Unser Gespräch waren Sie ja Sie, und die
freundschaftlichen Mädchen haben fast geweint für Verlangen Sie kennen zu lernen. Und Sie
wollten mit gewaffneter Hand auf sie losgehen, wie Herkules auf seine Ungeheuer Nein Sie
müssen sie kennen lernen und ihre Blicke allein werden Sie entwaffnen. Ich habe meiner
Friedrike gesagt, ich könnte für Sie nichts geheim halten. Sie zitterte, Sie würden zu wenig
Freundschaft für eine Unbekannte haben. Machen Sie diese Furcht nicht wahr, mein guter
Sokrates! Uebrigens tun Sie was Ihnen die Weißheit räth. Ich will mich geduldig unterwerfen.
Es ist gut, daß Sie meinen freundschaftlichen Ott nicht mit meiner Torheit umständlich bekannt
machen. Ich verbürge mich gern vor mir selbst nur nicht vor Ihnen. Leben Sie wohl, Ihr <line
type="break" />unaufhörlich ergebenster Freund <line type="break" />JMRLenz. <line
type="empty" /> Gestern ist der Herr Landpriester bei mir zu Gast gewesen. Er ist ein
Fieldingscher Charakter. Jeder andere würde in seiner Gesellschaft Langweile gefunden haben;
ich habe aber mich recht sehr darin amusirt; denn ein Auge, womit ich ihn ansah, war poetisch
das andere verliebt. Er läßt sein Leben für mich und ich für seine Tochter. </letterText>
<letterText letter="11"> Fort Louis, d. 15ten Junius n. St.<line type="empty" /> Mein theurester Vater!
<line tab="1"/>Abermal muß ich eine Gelegenheit kahl aus meinen Händen lassen, mit der ich in Ihre Arme zu
fliehen hoffte. Wenigstens soll mein Brief mitgehen, wenn ich mein Herz in denselben einschließen
könnte, ich thät es mit Freuden. Ich schreibe jetzt unter den grausamsten Kopfschmerzen an Sie, die
die hier jetzt unausstehliche Hitze und zugleich die Weindiät verursachen, und von denen ich sonst,
wie von andern Krankheiten, Gott sey Dank! nichts weiß: obschon äußere Umstände, Sorgen,
Kummer und Geschäfte mir sie oft genug hätten zuziehen können. Noch immer bete ich die
Vorsehung an, und noch immer muß ich Sie aufmuntern, sie mit mir anzubeten und alle Ihre
zärtlichen Sorgen auch in Ansehung meines Schicksals auf sie zu werfen. Bedenken Sie daß wir in
einer Welt sind, wo wir durch tausend in einander gekettete Mühseligkeiten zum Ziel gelangen und
niemals eine vollkommene Befriedigung auch unserer unschuldigsten und gerechtesten Wünsche
erwarten können. Wenn ich so eitel sein darf, zu glauben, daß meine Abwesenheit eine kleine Wunde
in Ihrer Seele macht: welch eine Wunde muß denn die Ihrige in der meinigen machen? Die
Abwesenheit meiner theuresten Mutter und Geschwister, meiner zärtlichsten Freunde die allezeit
Arme und Herz für mich offen hielten, da ich sie jetzt als Fremdling allenthalben für mich
verschlossen sehe. Umstände dazu, die ich Ihnen weder schildern will noch kann dennoch,
dennoch halte ich meine Augen zum Vater im Himmel emporgerichtet, der mir an jedem Ort
nachfolgt, und wenn ich entfernt von Himmel und Erde wäre und Leib und Seele mir verschmachtete.
<line tab="4"/>Im Herzen rein hinauf gen Himmel schau ich
<line tab="4"/>Und sage Gott, dir Gott allein vertrau ich
<line tab="4"/>Welch Glück, welch Glück kann größer seyn. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Nur daß keiner meiner Briefe zu Ihnen gelangt, daß Sie durch dieses Stillschweigen nicht allein
an meinen Schicksalen, sondern auch an meinem Charakter irre werden; das kränket mich. Ich habe seit
Ihrem letzten Briefe schon zweymal an Sie geschrieben, und dennoch krieg ich einen Vorwurf über
den andern wegen meines Stillschweigens. Und können Sie glauben, daß mein sonst doch weiches
Herz sich auf einmal in einen Stein verwandelt Gott, du weißts. Ich schätze kein zeitliches Glück so
hoch als dasjenige, Sie noch einmal zu sehen. Was soll ich Ihnen sonst noch von meinen äußern
Umständen sagen. Die Vorsehung Gottes hat mir einen liebenswürdigen Zirkel von Freunden
geschenkt, mir Ihren Verlust zu ersetzen: sie sind aber das was die Wachslichter gegen das Tageslicht
sind. Einen Namen muß ich Ihnen hersetzen, damit Sie seiner in Ihren Seufzern für mich erwähnen: er
ist mir zu teuer. <aq><ul>Salzman</ul></aq> o wenn ich einen so erfahrenen liebenswürdigen Mentor nicht hier zur
Seite gehabt, auf welcher Klippe würde ich jetzt nicht schon schiffbrüchig sitzen? Wenn Ehre ein
wahres Gut ist, so bin ich glücklich, denn die wiederfährt mir hier genug, ohne daß ich sie verdienet
habe. Sie ist aber vielmehr ein Joch, als ein Gut, und sie allein würde mich nie abhalten, in den stillen
Schoß meines Vaterlandes unbemerkt wieder zurückzukehren. So aber sind mir jetzt noch Hände und
Füße dazu gebunden, ich möchte lieber sagen, abgehauen. Ich bringe meinen Sommer in Fort Louis,
einer Festung sieben Stunden von Strasburg zu, auf den Winter werde ich wieder dahin zurückkehren.
Jetzt bin ich also in einer fast gänzlichen Einsamkeit. Auf den künftigen Frühjahr hoffe ich mit
Nachdruck und Succeß an meine Heimreise zu denken. Bis dahin, theuresten Eltern, geben Sie sich
noch zufrieden. Ich wünsche Ihnen den großen Gott, auf den ich bisher noch nie zu meinem Schaden
gerechnet, und, ich glaube es unverändert, auch niemals ins künftige rechnen werde. Wenn ich meine
Lebens Geschichte aufsetzte, würde sie vielen unglaublich scheinen. Ich setze dies aufs Alter aus
vorher aber auf unsere mündliche Unterredung. Freuen Sie sich in dieser Zeit Ihrer wohlgeratenen
anwesenden Kinder, theurester Vater, schließen Sie einen abwesenden Flüchtling in Ihr Herz und
Gebet, aber schließen Sie ihn aus Ihrer Sorge, und übergeben ihn dem großen Gott, der am besten
weiß, was für ein Gefäß er aus ihm machen will. Ich falle Ihnen und meiner theuresten Mama mit
den zärtlichsten Tränen in die Arme, als Ihr bis ins Grab gehorsamster und getreuester Sohn Jac. Mich.<line type="break"/>
Reinh. Lenz.</letterText>
<letterText letter="12"> Fort-Louis, den 28. Juni <line type="empty"/> Gütigster Herr Aktuarius!
<line tab="1"/>Ich habe einen empfindlichen Verlust gehabt, Herr Kleist hat mir Ihren und meines guten Otts Briefe
recht sorgsam aufheben wollen und hat sie so verwahrt, daß er sie selbst nicht mehr wieder finden
kann. Ich bin noch zu sehr von der Reise ermüdet, als daß ich Ihnen jetzt viel Vernünftiges schreiben
könnte. Denn ich habe noch fast keine Minute gehabt, in der ich zu mir selbst hätte sagen können:
nun ruhe ich. Eigene und fremde, vernünftige und leidenschaftliche, philosophische und poetische
Sorgen und Geschäfte zerteilen mich. Mein Schlaf selber ist so kurz und unruhig, daß ich fast sagen
möchte, ich wache des Nachts mit schlafenden Augen, so wie ich des Tages mit wachendem Auge
schlafe. In Sesenheim bin ich gewesen. Ist es Trägheit oder Gewissensangst, die mir die Hand zu Blei
macht, wenn ich Ihnen die kleinen Scenen abschildern will, in denen ich und eine andere Person, die
einzigen Akteurs sind. Soviel versichere ich Ihnen, daß Ihre weisen Lehren bei mir gefruchtet haben
und daß meinen Leidenschaft dieses Mal sich so ziemlich vernünftig aufgeführt. Doch ist und bleibt es
noch immer Leidenschaft nur das nenne ich an ihr vernünftig, wenn sie mich zu Hause geruhig
meinen gewöhnlichen centrischen und excentrischen Geschäften nachhängen läßt, und das thut sie,
das thut sie. Die beiden guten Landnymphen lassen Sie mit einem tiefen Knicks grüßen. Mein
Trauerspiel (ich muß den gebräuchlichen Namen nennen) nähert sich mit jedem Tage der Zeitigung.
Ich habe von einem Schriftsteller aus Deutschland eine Nachricht erhalten, die ich nicht mit vielem
Golde bezahlen wollte. Er schreibt mir, mein Verleger, von dem ich, durch ihn, ein unreifes
Manuscript zurück verlangte, habe ihm gesagt, es wäre schon an mich abgeschickt. Noch sehe ich
nichts. Lieber aber ist mir dies, als ob mir einer einen Wechsel von 1000 Thalern zurückschenkte.
Lesen Sie dieß andere Blatt in einer leeren Stunde. Unsere letzte Unterredung und die darauf
folgende schlaflose Nacht, hat diese Gedanken veranlaßt. Schreiben Sie Ihr Urtheil drüber <line type="empty"/>
Ihrem ergebensten Lenz.</letterText>
<letterText letter="13"> <align pos="right">Fort Louis, d. 13ten Jul. 1772</align> <line type="empty"/>
<align pos="center">Liebster Bruder!</align>
<line tab="1"/>Deine Vorwürfe würden mir so empfindlich nicht seyn, wenn ich sie <del>nicht</del> verdient hätte: aber sie
nicht verdient zu haben und doch kein Mittel wissen, die üble Meinung abzulehnen die alle meine
vorige Bekannte meines Stillschweigens halber von meinem Herzen zu fassen anfangen das ist in der
That niederschlagend. So mürbe ich aber auch von den Streichen des Schicksals bin, so soll doch kein
einziger, das hoffe ich zu Gott, mir meinen Mut rauben. Ich habe öfter an Dich geschrieben als Du an
mich wen soll ich anklagen, daß meine Briefe nicht zu Euch kommen? Ich freue mich über Dein
morgenröthendes Glück das meinige liegt noch in der Dämmerung. Es mag ewig darinne liegen
bleiben Dir nähere Nachrichten von meinen Umständen und Begebenheiten zu geben, ist mir
unmöglich. Sie geben das anmuthigste Gemählde von Licht und Schatten, wiewohl der letzte
bisweilen ein wenig tief ist. Aber im Briefe kann ich Euch nichts davon mittheilen: und ich halte es für
besser Euch lieber zu schreiben daß ich noch gesund bin und lebe, sonst nichts, als Euch mangelhafte
und unvollkommene Nachrichten zu geben, aus denen Ihr Muthmaßungen und Schlüsse ziehen
könntet, die Eurer und meiner Ruhe schaden würden. Ich habe mit Deinem Briefe einen sehr
lamentablen von unserm guten Frohlandt aus Königsberg bekommen, worin er mir meldet, daß fast
die ganze Landsmannschaft <ul>davon gelauffen.</ul> In der That, ich werde bald anfangen zu erröthen, mich
aus unserm Vaterlande zu bekennen, wenn unsere Landsleute sich Deutschland in einer solchen
Gestalt zeigen. Baumann, Hesse, Zimmermann, Hugenberger, Kühn, Meyer ich habe meinen Augen
nicht trauen wollen. Und der arme Frohlandt ist in der That fast aufs äußerste gebracht Hipprich
und Marschewsky sind gleichfalls aus Berlin mit Schulden davon gelauffen, der letzte hat dieses schon
in Leipzig und Jena getan. Das sind denn die würdigen Subjekte, mit denen in unserm Vaterlande
Ehren- und Gewissens-Aemter besetzt werden. Ich wünschte meine Verwandten und Freunde heraus,
in der That, ich wende keinen Blick mehr hin. Doch will ich Deinen Vorschlag mit der <aq>Condition</aq>
überlegen und Dir in dem nächsten Briefe von meinem völligen Entschluß Nachricht geben, bloß um
nur noch einmal, einmal das Glük zu haben meine Eltern und Euch alle wiederzusehen. Vor künftigen
Frühjahr, also jetzt über 10 Monate kann ich mich auf keine Weise allem Anscheine nach von Kleists
loß machen. Ins künftige wenn Du schreibst, so laß sie doch grüßen, liebster Bruder! es ist in der That
<page index="2"/>zu spröde, daß Du thust, als habst Du sie nie gekannt. Ich dependire einmal in gewisser
Absicht von ihnen. Kurz in meinem nächsten Briefe werde ich Dir von meinem Entschluß positivere
Nachricht geben. Reisegeld aber würde der Herr Etatsrath mir wohl schicken müssen, denn die <ul>Reise</ul>
<del>macht</del> legt meiner Zurükkunft die größte Schwierigkeit in den Weg. Du weißt die Oekonomie der
jungen Herrchen und wie viel sie baar liegen haben. Von Henisch kriege ich noch beständig Briefe,
von Miller aber keine, auch von Pegau nicht, wenn Du an einen von ihnen schreibst, so grüße doch
beide von mir 1000mahl und sage ihnen, daß ich gegen alle meine Freunde unter allen meinen
Umständen der alte Lenz bleibe. Vielleicht thu ich mit dem ältesten Herrn v. Kleist auf den Herbst
eine Reise auf einen Monath nach <aq>Nancy</aq> und mit dem jüngsten auf den Winter eine auf ein paar
Monate nach Mannheim. Warum hast Du die Bedienung in Dorpat nicht angenommen. Eine gute
Einschränkung <del>versp</del> erwirbt oft mehr als ein hohes Gehalt und wenn zu dem ersten die Gesellschaft
der zärtlichsten Freunde kommt und bey dem andern jede Freude des Lebens darbt, so sollte billig
der erste Zustand der vorzügliche seyn. Jetzt kann ich unmöglich weiter schreiben die <del>Post</del>
<insertion pos="bottom">Gelegenheit</insertion> geht o Himmel wie viel muß ich unterdrüken! Das sey aber versichert, mein theurer
Bruder, daß ich Dich vorzüglich liebe und unter allen Umständen meines Lebens lieben werde. Die
Gelegenheit mit der ich Dir diesen Brief schicke ist der Baron von Grothusen, welcher Morgen nach
Curland zurükreiset und mit dem ich anfangs mitzugehen mir schmeichelte, diese Hofnung ist aber
durch allerley <aq>Contretems</aq> zu Wasser geworden. Die vorigen Briefe habe ich Dir theils auf der Post,
theils durch Pegau (wo mir recht ist) teils durch einen Landsmann der auch nach Hause reiste teils
durch Herrn v. Sievers zugeschickt. Daß keiner angekommen, weiß ich auf keine Art zu begreiffen.
Schreibe mir durch Frohlandt oder H. v; <aq>Sievers</aq>, fast möchte ich itzt die erste Gelegenheit für besser
oder nimm doch die andere Mache wie Du es für gut findst. Meine Adresse ist <del>an H</del> abzugeben
beym Herrn Actuarius Salzmann, nahe bey der Pfalz. Actuarius ist hier eine der ersten
Magistratsbedingungen, nicht wie in Liefland Ich muß schließen. Ich hoffe gewiß daß wenigstens
dieser Brief Dich antreffen wird. Melde mir doch wie die Bedingungen Deiner <aq>Condition</aq> lauten. Bitte
Papa um ein paar Zeilen von seiner Hand, dies ist die einzige Wohlthat die ich mir von ihm ausbitte.
Küsse ihm und Mama 1000mal die Hand allen meinen theuren Geschwistern Freunden und
Freundinnen 1000000mal den Mund von <line type="empty"/>
Deinem zärtlichsten Bruder Lenz.
<sidenote pos="top left" page="2" annotation="am linken Rand, vertikal">Kleists lesen alle meine Briefe. Wir sind aber Freunde und Du darfst alles frey schreiben, nur nichts
von ihnen.</sidenote></letterText>
<letterText letter="14">Fort Louis, August 1772 <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Sie bekommen heut einen sehr elenden Brief von mir, darum wollt ich anfangs lieber gar nicht
schreiben. Aber <aq>non omnia possumus omnes</aq> dacht ich, mit Herrn Rebhuhn und geantwortet
muß doch seyn. Ich komme eben aus der Gesellschaft dreier lieben Mädchen und einer schönen,
schönen Frau und in allen solchen Gesellschaften wird das Fleisch willig und der Geist schwach. Wie
dieser Brief in Ihre Hände kommt weiß ich noch nicht. Es soll ein Hauptmann nach Straßburg gehen,
der dorthin allerlei mitnehmen wird, unter anderm Ihren <aq>Hobbes civem Malmesburgiensem</aq>,
den ich mich nicht überwinden kann zu Ende zu bringen. Es geht mir wie einem Kinde, das über ein
neues Spielzeug eines alten vergißt, das es doch so fest mit seiner kleinen Patsche umklammert hatte,
als ob es ihm erst der Tod herausreißen sollte. Der Zustand meines Gemüthes ist wie er ist; den Haß
kann man wohl auswurzeln, aber die Liebe nie, oder es müßte ein Unkraut seyn, das nur die äußere
Gestalt der Liebe hätte. Wenn mir Einer Mittel vorschlagen wollte, Sie nicht mehr zu lieben, glauben
Sie, daß diese Mittel bey mir kräftig sein würden? Vergeben Sie mir mein böses Maul, ich wünschte es
allemal böser als mein Herz. Ich habe einen vortrefflichen Fund von alten Liedern gemacht, die ich
Ihnen, sobald ich nach Straßburg komme, mittheilen werde. Wollen Sie meine letzte Uebersetzung
aus dem Plautus lesen, so fodern Sie sie unserm guten Ott ab, denn ich glaube schwerlich, daß sie so
bald in der Gesellschaft wird vorgelesen werden. Sie haben mir keine Nachricht gegeben, wie sie mit
der Ietztern gegenwärtig zufrieden sind. Vernachlässigen Sie diese Pflanzschule Ihrer Vaterstadt nicht,
theurer Freund, vielleicht könnten wohlthätige Bäume draus gezogen werden, auf welche
Kindeskinder, die sich unter ihrem Schatten freuten, dankbar schnitten: Auch dich hat Er pflanzen
helfen. Es sieht noch ziemlich wild und traurig in Ihrer Region aus aber der erste Mensch ward in
den Garten Eden gesetzt um ihn zu bauen. Wollten Sie wohl einst so gütig seyn, mir, zum
<aq>aequivalent</aq> für <aq>Hobbes</aq>, noch eine glühende Kohle aufs Haupt zu sammeln und etwa Puffendorfs
<aq>historiam juris</aq> zu schicken. Oder ein anderes juristisches Buch, denn Jurist muß ich doch werden,
wenn mir anders die Theologie nicht verspricht mich zum Papst von Rom zu machen. Ich halte viel auf
die Extreme und Niklaus Klimms <aq>aut</aq> Schulmeister <aq>aut</aq> Kaiser ist eine Satire auf Ihren
Ihnen stets ergebenen <line type="empty"/><line type="break"/>
Lenz. <line type="empty"/>
Herr von Kleist befindet sich wohl und empfiehlt sich Ihnen bestens.</letterText>
<letterText letter="15">Mein theurer Sokrates!
<line tab="1"/>Ich umarme Sie mit hüpfendem Herzen und heiterer Stirne, um Ihnen eine Art von Lebewohl zu
sagen, das in der That nicht viel zu bedeuten hat. Einige Stunden näher oder ferner machen, für den
Liebhaber erschrecklich, für den Freund aber nichts. Der Erste ist zu sinnlich eine körperliche
Trennung zu verschmerzen, der andere aber behält, was er hat, die geistige Gegenwart seines
Freundes, und achtet die zwei Berge oder Flüsse mehr oder weniger nicht, die zwischen ihm und
seinem Gegenstande stehen. Nur das thut mir wehe, daß ich nicht so oft werde nach Straßburg
kommen können, indessen soll es dafür jedesmal auf desto längere Zeit geschehen. Ich denke, Sie
werden mich nicht vergessen, meinerseits sind die Bande der Freundschaft so stark, daß sie noch
hundert Stunden weiter gedehnt werden können, ohne zu reißen. Bis in mein Vaterland hinein bis
ins Capo de Finisterre<!-- Erfolgt hier ein Schriftwechsel aufgrund des Sprachwechsels? -->, wenn Sie wollen. In Ihrem letzten Briefe haben Sie mir Unrecht gethan. Wie,
mein liebenswürdiger Führer, ich sollte wie ein ungezähmtes Roß allen Zaum und Zügel abstreifen,
den man mir überwirft? Wofür halten Sie mich? Ach jetzt bekomm ich einen ganz andern
Zuchtmeister. Entfernung, Einsamkeit, Noth und Kummer, werden mir Moralen geben, die weit
bitterer an Geschmack seyn werden, als die Ihrigen, mein sanfter freundlicher Arzt. Wenn ich mit
Ihnen zusammenkomme, werde ich Ihnen viel, sehr viel zu erzählen haben, das ich jetzt nicht mehr
der Feder anvertrauen kann. Auftritte zu schildern, die weit rührender sind, als alles, was ich jemals
im Stande wäre zu erdichten, Auftritte, die, wenn Sie Ihnen zugesehen haben würden, Sie selbst noch
(meinen Sokrates) zu weinen würden gemacht haben. Noch ist meine Seele krank davon. Sie sind
mein bester Freund auf dem Erdboden, Ihnen, aber auch nur Ihnen, will ich Alles erzählen, sobald ich
Sie spreche. Zeigen Sie diese Stelle meines Briefes, nicht meinem guten Ott wenn er nicht noch
Jüngling wäre, wenn er die Stufe der Weisheit erstiegen hätte, würde ich über diesen Punkt nicht
gegen ihn zurückhaltend sein.
<line tab="1"/>Heute komme ich von Lichtenau, aus einer sehr vergnügten Gesellschaft, in welcher ich vielleicht
allein die Larve war. Ich will meinen Brief an Sie bis zum Ende bringen, ich erwarte heute abend noch
einen Gnadenstoß. O lassen Sie mich, mein beschwertes Herz an Ihrem Busen entladen. Es ist mir
Wollust zu denken, daß Sie nicht ungerührt bei meinem Leiden sind, obschon es Ihnen noch
unbekannt ist. Denn Trennung ist nicht die einzige Ursache meines Schmerzens. Wir wollen von
andern Sachen reden.
<line tab="1"/>Ich werde noch, vor meiner Abreise, einmal aus Fort-Louis an Sie schreiben und alsdann aus Landau,
sogleich nach meiner Ankunft. Mein Studiren steht jetzt stille. Der Sturm der Leidenschaft ist zu
heftig. Ich wünsche mich schon fort von hier, alsdann, hoffe ich, wird er sich wieder kümmerlich
legen. In Landau will ich, so viel es mein zur andern Natur gewordenes Lieblingsstudium erlaubt, das
<aq>Jus</aq> eifrig fortsetzen. Auf den Winter denk ich mit Herrn von Kleist, der sich Ihnen gehorsamst
empfehlen läßt, einige Monate in Mannheim, einige in Straßburg zuzubringen. Wo zuerst weiß ich
nicht. Seyen Sie so gütig und sagen es der Jungfer Lauthen noch nicht, daß ich von Fort-Louis
weggehe, ich will es ihr, wenn ich noch einen Posttag abgewartet, selber schreiben. Das weibliche
Herz ist ein trotzig und verzagt Ding. Leben Sie wohl bis auf meinen nächsten Brief. Ich bin von
ganzem Herzen
Ihr
Sie ewig liebender <aq>Alcibiades</aq><line type="break"/>
J. M. R. L.</letterText>
<letterText letter="16">Mein theuerster Freund! <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Auf einem Fuß, wie ein reisefertiger Kranich, steh ich jetzt und schmiere Ihnen mit dem anderen
mein Adieu aufs Papier. Ich glaube zum wenigsten, daß dies mein letzter Brief von Fort-Louis seyn
wird. Ich gehe jetzt nach Sesenheim hinaus, um den letzten Tag recht vergnügt dort zuzubringen.
Recht vergnügt Nicht wahr, Sie lächeln über meine stolze platonische Sprache, mittlerweile mein
Herz mit dem Ritter Amadis (oder was weiß ich, wie der Liebhaber der Banise hieß) von nichts als
Flammen, Dolchen, Pfeilen und Wunden deklamirt. Was soll ich sagen? Ich schäme mich meiner
Empfindungen nicht, wenn sie gleich nicht allezeit mit festem Schritt hinter der Vernunft hergehen. O!
und Salzmann bedauert mich sehen Sie die Schürze von Feigenblättern, die meine gefällige Vernunft
mir allezeit vor die Blöße meines Herzens bindet. Ich habe in Sesenheim gepredigt, sollten Sie das
glauben? Den Sonnabend nachmittags karessirt; nach Fort-Louis gegangen; das Thor zu gefunden;
zurückgegangen; den Pfarrer am Nachtessen unruhig gefunden, daß er so viel zu thun habe; mich
angeboten; bis vier Uhr in der Laube gesessen; mich von meinen Fatiguen erholt; eingeschlafen; den
Morgen eine Bibel und eine Concordanz zur Hand genommen und um 9 Uhr vor einer zahlreichen
Gemeine, vor vier artigen Mädchen, einem Baron und einem Pfarrer gepredigt. Sehn Sie, daß der
Liebesgott auch Candidaten der Theologie macht, daß er bald in Alexanders Harnisch wie eine Maus
kriecht, bald in die Soutane eines Pfarrers von Wackefield, wie ein der Liebesgelahrtheit Beflissener.
Mein Text war das Gleichniß vom Pharisäer und Zöllner und mein Thema die schädlichen Folgen des
Hochmuths. Die ganze Predigt war ein Impromptu, das gut genug ausfiel. Himmel die Uhr schlägt
sechs und ich sollte schon vor einer Stunde in S. seyn. Diesmal sollen Sie mich dort entschuldigen.
Ihren <aq>Heineccius</aq> nehme ich mit. Ohne Erlaubniß ach, mein Freund, <aq>dura necessitas</aq> läßt mich nicht
erst lange fragen, ich greife zu aber ich gebe auch wieder. Allein was werden Sie sagen, wenn ich
Ihnen Ihren <aq>Tom Jones</aq> noch nicht zurückschicke? Ich bin schuld daran, daß ihn mein faules Mädchen
noch etwas länger behält, er soll sie für meinen Verlust entschädigen, denn wenn man gute
Gesellschaft hat, sagte sie, so kann man nicht viel lesen. Ich habe so brav auf Ihre Güte gethan, daß
ich ihr mein Wort drauf gegeben, Sie würden es verzeihen, wenn sie Ihnen denselben erst durch
Mamsell Schell zuschickte; ja Sie würden sogar so gütig seyn und ihr noch die zween letzten Teile
alsdann dazu leihen, wenn sie die ersten wieder gegeben. Das heißt gewagt, mein bester Sokrates,
aber Jugend ist allezeit ein Waghals, und bricht doch nur selten den Hals; ich denke, Sie werden
meine tollkühne Freundschaft noch nicht fallen lassen: wenn sie älter wird, soll sie weiser und
vorsichtiger werden. Für Ihre Adressen in Landau danke ich Ihnen unendlich, wer weiß, wozu sie gut
sind. Ich hoffe eher nach Straßburg zu kommen, als nach Mannheim. Ich kann nicht mehr, theuerster,
bester, würdigster Freund! ich bin schon ein Jahr über meine bestimmte Stunde ausgeblieben. Leben
Sie recht sehr glücklich; mein Großfürst heirathet eine darmstädtische Prinzessin; leben Sie allezeit
gleich heiter und vergnügt; ich möchte gerne den Namen des Russischen <aq>Envoyé</aq> an diesem Hofe
wissen; erinnern Sie sich meiner zuweilen; der Friede soll auch schon geschlossen seyn; grüßen Sie
die Lauthsche Gesellschaft und die Mademoiselles tausendmal; doch was berichte ich Ihnen
Neuigkeiten, die bei Ihnen schon in der Hitze werden sauer geworden seyn und bleiben Sie
gewogen
Ihrem verschwindenden <aq>Alcibiades</aq><line type="break"/>
J.M.R.L.
</letterText>
<letterText letter="17">Weissenburg im Elsaß d. 2ten Septbr. 1772. <line type="empty"/>
Mein Vater!
<line tab="1"/>Ich schreibe Ihnen diesen Brief auf dem Marsch von Fort Louis nach Landau, wohin das Regiment
Anhalt, bey dem sich der H. v. Kleist, (der jüngere) befindt, den letzten des vorigen Monaths
aufgebrochen. Weil der letztere, dessen zärtliche Freundschaft für mich täglich zunimmt, mich immer
um sich haben will, so thue ich mit ihm und zugleich mit dem Regiment, zu Pferde eine zwar sehr
langsame aber auch nicht minder angenehme Reise.
<line tab="1"/>Ich bin Ihnen noch einige Striche von meinem Lebenslauf in Fort Louis schuldig, denn meinen letzten
Brief schrieb ich Ihnen, als ich eben dahin abgieng. Ob ich gleich nicht weiß, ob jemals einer von
meinen Briefen in Ihre Hände gekommen ist, oder kommen wird, so will ich doch meiner Seits nichts
ermangeln lassen. Vielleicht trägt ein gutherziger Wind doch eine Nachricht von mir wie ein
Blumenstäubchen fort, läßt sie noch bey Ihnen niederfallen, und zu einer kleinen Blume der Freude
aufgehn. Ich spähe hier vergebens jeden Winkel nach Nachrichten von Ihnen aus, fast keinen
Fremden, der aus Norden kömmt, laß ich entwischen, allein von Dorpat habe ich doch seit einem
halben Jahr nicht das mindeste erfahren können.
<line tab="1"/>Es ist mir in Fort Louis recht sehr wohl gegangen: eine Wirkung Ihres väterlichen Gebeths und der
Verheißung Gottes, frommen Eltern auch an ihren Kindern noch wohlzuthun. Denn was meine Person
betrifft, so bin ich viel zu gering alles dessen was die Barmherzigkeit des Herrn an mir getan hat. Je
länger ich mit d. Hrn. von Kleist umgehe, desto mehr spüre ich, daß seine Freundschaft zu mir wächst,
anstatt wie es sonst bei jugendlichen Neigungen gewöhnlich ist, durch Gewohnheit und Sättigung zu
erkalten. Ich habe mit seinen Nebenofficiers, die fast alle Deutsche sind, einen recht sehr artigen
Umgang, ob schon ich mich soviel möglich allezeit in mich selbst zurückziehe. Nahe bey Fort Louis
war ein Dörfchen, das ein Prediger mit drey liebenswürdigen Töchtern bewohnte, wohin sich die
Unschuld aus dem Paradiese schien geflüchtet zu haben. Hier habe ich den Sommer über ein so süßes
und zufriedenes Schäferleben geführt, daß mir alles Geräusch der großen Städte fast unerträglich
geworden ist. Nicht ohne Thränen kann ich an diese glückliche Zeit zurück denken! O wie oft hab ich
dort Ihrer und Ihres Zirkels erwähnt! O wie gern wollte ich in den schönen Kranz Ihrer Freunde eine
Rose binden, die hier in dem stillen Tale nur für den Himmel, unerkannt blühet. Ich darf Ihnen diese
Allegorie noch nicht näher erklären, vielleicht geschieht es ins künftige. Mündlich dereinst hoffe ich,
Ihnen das ganze Gemälde von meinem Lebenslauf aufzustellen, das in einem Briefe Ihnen viel zu
seltsam und romanhaft vorkommen würde. Glauben Sie mir aber, daß die menschliche
Einbildungskraft lange nicht so viel erdichten kann, als das menschliche Leben oft erfahren muß.
<line tab="1"/>Ich habe an diesem Orte kurz vor meiner Abreise eine Predigt, fast aus dem Stegreif gehalten. Sie fiel
für den ersten Versuch und für ein Impromptu gut aus, allein ich entdeckte einen wesentlichen Fehler
fürs Predigtamt an mir, die Stimme. Ich ward heiser und fast krank, und jedermann beschuldigte mich
doch, zu leise geredet zu haben, da überdem die Kirche eine der kleinsten war. Was für eine Stelle mir
also dereinst der Hausvater im Weinberge anweisen wird, weiß ich nicht, sorge auch nicht dafür. Noch
arbeite ich immer nur für mich und lerne von den Vögeln frei und unbekümmert auf den Armen der
Bäume den Schöpfer zu loben, gewiß versichert, das Körnchen das sie heute gesättigt, werde sich
morgen schon wieder finden. Nach Straßburg schicke ich von Zeit zu Zeit kleine Abhandlungen an
eine Gesellschaft der schönen Wißenschaften, die mich zu ihrem Ehrenmitgliede erwählt hat, und die
davon mehr Aufhebens macht, als mir lieb ist. Ob sich auch in Landau für mich ein Feld eröffnen wird,
in dem ich ein wenig graben kann, weiß ich nicht. Ich werde keinen Wink der Vorsehung aus der Acht
lassen, aber auch nicht murren, wenn ich dort noch eine Weile unerkannt und ungedungen am Markt
stehen bleibe. Meine Freundschaften und Verbindungen in Strasburg werden durch diese Reise, die
mich Ihnen einige Stunden näher bringt, nicht zerrissen, sondern nur noch enger zusammengezogen,
da auch bei Freunden und Gönnern immer das Sprichwort wahr bleibt <aq>Major ex longinquo reverentia.</aq>
Doch seit einiger Zeit, (ich rede von Herzen mit Ihnen) bin ich ziemlich gelassen auch bei den
empfindlichsten Trennungen und Verlusten. Ich habe ihrer schon so viel erfahren. Einige menschliche
Thränen, und alsdenn fröhlich ˕wieder˕ das ganze Herz dem übergeben, der uns für den Verlust einer
Welt entschädigen kann. Die große Moral, die ich aus meinen bisherigen Schicksalen mir abgezogen,
soll immer mein Hauptstudium bleiben: Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und
Erden. Jetzt will ich hier abbrechen und den Beschluß auf einige Tage weiter sparen, da ich Ihnen
auch etwas von Landau melden kann. <line type="empty"/>
Landau den 2ten October.
Viele Vorfälle, die mich ganz foderten, haben mir nicht soviel Zeit gelassen, meinen Brief an Sie zu
endigen. Hier muß ich ihn eben stehendes Fußes zum Ende bringen, da sich eine gute Gelegenheit
findet, ihn fortzuschaffen. Ich habe in Landau noch sehr wenig Bekanntschaft gemacht. Der Senior
Herr Mühlberge, ein Schwager meines geliebten Freundes, des Herrn Licentiats Salzmann in
Straßburg, scheint ein wackerer Mann zu sein. Ich bin bey ihm gewesen, habe ihn aber nicht
angetroffen. Seyn Sie doch so gütig, und lassen einliegenden Brief nach Reval kommen, er ist von
einem Feldwebel aus unserm Regiment, der mein Landsmann ist, und als solcher mich gar zu
inständigst gebeten, doch einmal einen Brief von ihm an die Seinigen zu schaffen. Er ist itzt schon 30
Jahr von Hause, verschiedene Landsleute haben seinen Brief angenommen, keiner aber bestellt. O
dacht ich, so werden deine saubern Landsleute es mit deinen Briefen auch gemacht haben
wenigstens will ich so leichtsinnig nicht sein. Sie werden mir vergeben, daß ich Ihnen dadurch Kosten
mache. Der Mann heißt Hönn, ist eines Predigers Sohn, und hat unter die Soldaten gehen müssen,
weil seine unmenschliche Stiefmutter, sogleich nach dem Tode seines Vaters, ihm da er kaum 1 Jahr
auf der Akademie gewesen, weder Geld noch Brief noch Anweisung mehr geschickt. Er macht noch
Ansprüche auf das Vermögen seines Vaters, wenn anders welches da ist, indem sie sich verheirathet
haben soll und zwar an einen gewissen Past. Oldekop: ich kann nicht begreifen, ob dieser Past.
Oldekop ein weitläuftiger Verwandte von unserm liebenswürdigen Freunde sein sollte. Übrigens führt
dieser Mensch sich ganz ordentlich.
<line tab="1"/>Jetzt muß ich abbrechen, wenn Sie anders diesen Brief noch erhalten sollen. Es heißt, das Regiment
soll auf den Winter nach Straßburg. Wenn ich nach Liefland komme, weiß Gott, indessen sorgen Sie
nie für mich, überlassen Sie dieses ihm. In dessen Vorsorge ich auch Sie empfehle. Tausend Grüße an
alle gute Freunde, tausend Küsse an alle meine Geschwister. Meine beste Mama! o könnte mein
Gebeth Sie gesund machen. Ich küsse Ihr und Ihnen aufs zärtlichste die Hände
als
Dero<line type="break"/>
gehorsamster Sohn<line type="break"/>
J. M. R. Lenz.</letterText>
<letterText letter="18">Landau, den 7. September. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>So wenig Zeit mir auch übrig ist, so muß ich Ihnen doch sagen, daß ich Sie in Landau noch eben so
hoch schätze, ebenso liebe, als in Fort-Louis. Unser Marsch war angenehm genug: vor Tage zu Pferde,
und vom Mittag, bis in die Nacht gerastet. Ich möchte so durch die Welt reisen. Weißenburg hat mir
gefallen, die dortige Schweizergarnison glich den Priestern der Cybele, so erfreute sie die Ankunft
eines deutschen Regiments. Landau kann in der That das Schlüsselloch von Frankreich heißen, da es
nur zween Thore hat, eins nach vorne, das andere nach hinten. Unsern Ausgang segne Gott, unsern
Eingang Ich wohne bei einem Herrn Schuch, der ein naher Verwandter vom Herrn Türkheim seyn
will. Seine Frau und er spielen mir alle Abende Komödie, wobei mein Herz mehr lacht, als bei allen
Farcen des Herrn Montval und Ribou. Er ist ein gutwilliger Schwätzer, gegen seine Frau, ein rechter
Adventsesel und auch gegen die Füllen bei ihr. Sie trägt Hosen und Zepter, eine Teintüre von Andacht
und koketter Prüderie in der That, meinen kleinen Plautus hinterdrein gelesen und ich brauche kein
Theater. Melden Sie mir doch, was das Ihrige in Straßburg macht und ob dort kein deutsches zu
erwarten sei. Beim Herrn Senior, der fast die alleinige Materie des Gesprächs meiner Wirthsleute ist
(ausgenommen den gestrigen vortrefflichen Abend, wo wir lauter Haupt- und Staatsaktionen
ausmachten) bin ich noch nicht gewesen. Der Bürgermeister Schademann soll schon seit geraumer
Zeit todt seyn. Vielleicht erlange ich die Bekanntschaft seines Sohnes, der sehr reich sein soll. Ein
Rektor bei der hiesigen Schule, der im Kloster einen Sohn hat, der schon Magister ist (wo mir recht
ist, hab ich ihn dort gesehen) soll eine gute Bibliothek haben: da muß ich suchen unterzukommen.
Seyen Sie doch so gütig und schreiben mir in Ihrem nächsten Briefe den Namen des Churfürsten von
der Pfalz; wie auch den Charakter und die Adresse des Herrn Lamey, ein Name, den ich in Straßburg
oft gehört. Sie lachen wozu das? Nun, nun, es hat nichts zu bedeuten, ein guter Freund hat mich um
beide in einem Briefe ersucht. Einen Nachmittagsprediger habe ich hier gehört, der keine Pfeife
Toback werth vorgebracht. Ich ging nach Hause und las Spalding, vom Werth der Gefühle im
Christentum. Welch ein Kontrast! Dieses Buch müssen Sie auch lesen, mein Sokrates! es macht
wenigstens Vergnügen zu finden, daß Andere mit uns nach demselben Punkt visiren. Ich freue mich,
daß man in einem Tage von hier nach Straßburg kommen kann, wer weiß wenn ich Sie überrasche.
Fahren Sie fort mit Ihrer Gewohnheit für mich.
Lenz.</letterText>
<letterText letter="19">Landau, den 18ten. <line type="empty"/>
Guter Sokrates!
<line tab="1"/>„Ohne mich nicht ganz glücklich“ Fürchten Sie sich der Sünde nicht, einen jungen Menschen stolz zu
machen, dessen Herz noch allen Passionen offen steht und durch Zeit und Erfahrung nur noch sehr
wenig verbollwerkt ist? Da ich so tief in Ihr System geguckt, da ich weiß, daß Ihre Religion die
Glückseligkeit ist so konnte mir kein größeres Compliment gemacht werden, als, daß ich im Stande
sey, mit etwas dazu beyzutragen, wenns auch nur so viel ist, als ein Mäuschen zum Rhein. Spaß bei
Seite, die Glückseligkeit ist ein sonderbares Ding, ich glaube immer noch, daß wir schon hier in der
Welt so glücklich seyen, als wir es nach der Einrichtung unseres Geistes und Körpers werden können.
Die Tugend ist das einzige Mittel diese Glückseligkeit in ihrer höchsten Höhe zu erhalten und die
Religion versichert uns, sie werde auch nach dem Tode währen und dient also dieser Tugend mehr zur
Aufmunterung, als zur Richtschnur. Da kommt nun aber die verzweifelte Krankheit, von der Sie
schreiben und wirft mir mein ganzes Kartenhaus über den Haufen. Allein sie muß doch auch wozu
heilsam seyn, vielleicht, wie Sie sagen, ist sie das Fegfeuer unserer Tugend, wenigstens macht sie uns
die Gesundheit desto angenehmer und trägt, durch den Contrast, also zu dem Ganzen unserer
Glückseligkeit auch mit das Ihre bei. Wiewohl, ich habe gut philosophiren, da ich sie, dem Himmel sey
Dank, schon seit so langer Zeit, bloß vom Hörensagen kenne. Ich bin jetzt auch von lauter Kranken
eingeschlossen und denke dabei beständig an Sie. Wiewohl ich aus dem Schluß Ihres letzten Briefes
zu meiner Beruhigung schließe, daß Sie jetzt wieder völlig hergestellt seyen. Sie werden von Herrn Ott
hören, wie ich mich amusire. Wenig genug und doch sehr viel. Wenn man Käse und Brod hat,
schmeckt uns die Mahlzeit eben so gut, als wenn das Regiment <aq>de Picardie</aq> traktirt, vorausgesetzt,
daß wir in einem Fall, wie im andern, recht derben Hunger haben. Um also glücklich zu seyn, sehe ich
wohl, werde ich künftig nur immer an meinem Magen arbeiten, nicht an der Mahlzeit, die ich ihm
vorsetze. Die Umstände, in denen wir uns befinden, müssen sich schon nach uns richten, wenn wir
selbst nur fähig sind, glücklich zu seyn. Bin ich doch ganz Philosoph geworden, werden Sie nur über
mein Geschwätz nicht von Neuem krank! Den Herrn Senior habe ich nur in seiner Kirche besucht und
noch nicht recht das Herz, ihn näher kennen zu lernen. Den Rektor der hiesigen Schule hab ich in
seinem Hause besucht und möchte wohl schwerlich wieder hingehen. Ich fragt ihn nach den hiesigen
Gelehrten: er lachte. Das war vortrefflich geantwortet, nur hätte der gute Mann die betrübte
Ahndung, die dieses Lachen bei mir erregte, nicht bestätigen sollen. Er beklagt sich über den
Schulstaub und die häuslichen Sorgen da, da, mein theuerster Freund, fühlte ich eine Beklemmung
über die Brust, wie sie Daniel nicht stärker hat fühlen können, als er in den Löwengraben hinabsank.
In seiner Jugend, sagt er, hätte er noch <aq>fait</aq> vom Studieren gemacht, jetzt o mein Freund, ich kann
Ihnen das Gemälde nicht auszeichnen, es empört meine zartesten Empfindungen. Den heiligen
Laurentins auf dem Rost hätt ich nicht mit dem Mitleiden angesehen, als diesen Märtyrer des
Schulstandes, eines Standes, der an einem Ort wie Landau, mir in der That ein Fegfeuer scheint, aus
dem man alle guten Seelen wegbeten sollte. Er hatte seine Bibliothek nicht aufgestellt, es waren
bestäubte, verweste Bände, die er vermuthlich nur in seiner Jugend gebraucht ausgenommen die
allgemeine Welthistorie figurirte, in Franzband eingebunden, besonders. Vielleicht daß ich da mich
einmal bei ihm zu Gast bitte. Er scheint übrigens der beste Mann von der Welt o Gott, eh so viel
Gras über meine Seele wachsen soll, so wollt ich lieber, daß nie eine Pflugschaar drüber gefahren
wäre. Jetzt bin ich ganz traurig, ganz niedergeschlagen, blos durch die Erinnerung an diesen Besuch.
Nein, ich darf nicht wieder hingehen. Wie glücklich sind Sie, mein Sokrates, wenigstens glänzt eine
angenehme Morgenröthe des Geschmacks in Straßburg um Sie herum, da ich hier in der ödesten
Mitternacht tappend einen Fußsteig suchen muß. Keine Bücher! ha Natur, wenn du mir auch dein
großes Buch vor der Nase zuschlägst (in der That regnet es hier seit einigen Tagen anhaltend), was
werd ich anfangen? Dann noch über die Glückseligkeit philosophiren, wenn ich von ihr nichts als das
Nachsehen habe? Doch vielleicht kriegt mich ein guter Engel beim Schopf und führt mich nach
Straßburg. Meine Lektüre schränkt sich jetzt auf drey Bücher ein: Eine große Nürnbergerbibel mit
der Auslegung, die ich überschlage, ein dicker Plautus, mit Anmerkungen, die mir die Galle etwas aus
dem Magen führen und mein getreuster Homer. Ich habe schon wieder ein Stück aus dem Plautus
übersetzt und werd es ehestens nach Straßburg schicken. Es ist nach meinem Urtheil das beste, das
er gemacht hat (doch ich kenne noch nicht alle). Noch an eins möcht ich mich machen: es ist eine Art
von Dank, den ich dem Alten sage, für das herzliche Vergnügen, das er mir macht. Ist es nicht reizend,
nach so vielen Jahrhunderten, noch ein Wohlthäter des menschlichen Geschlechts zu sein?<line type="empty"/>
<line tab="1"/>Heut möcht ich Ihnen einen Bogen voll schreiben, aber ich besinne mich, daß das, was mir ein
Präservativ für eine Krankheit ist, Ihnen leicht ein Recidiv geben kann. Ich bin ganz der Ihrige<line type="break"/>
Lenz.</letterText>
<letterText letter="20"><align pos="right">Arensburg in der Insel Oesel d. 24. Septbr: a. St. 1772</align> <line type="empty"/>
Mein zärtlich geliebter Bruder, <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Um die Freude auszudrücken, die Dein Brief mir verursachet, müßte ich mehr Muße und einen
größern Raum haben. Der Anblick einer Hand, die ich zwey lange Jahre zu sehn entwöhnt bin, war das
für mich, was Robinson auf einer wüsten Insel der erste Anblick einer Menschen-Gestalt nur immer
seyn konnte. Ich weiß jetzt daß Du lebst, daß Du wo nicht glücklich doch auch nicht ganz unglücklich
bist, und dieß ist alles. Aber die Schicksale, die Du verschweigst, mir verschweigst, in dessen Busen
Deine Geheimnisse, wenn Du welche hast, so gut verwahrt wären, wie in der Deinigen, gewiß diese
machen mich unruhig. Gott weiß, daß ich Dein Glück wünsche, und so sehr wünsche, als es vielleicht
keiner außer mir thut. Könnte ich zu Deiner Zufriedenheit was beytragen, wie sehr würde meine
eigne vergrößert werden. Sey offenhertzig gegen mich, wenn Du von meiner Zärtlichkeit überzeugt
bist; Und der Himmel verzeyhe es Dir, wenn Du es nicht bist. Sollte vielleicht Deine Rückreise durch
kleine Verwickelungen aufgehalten werden, so entdecke Dich mir, vielleicht kann ich Mittel erfinden,
Dir zu helfen? Denn was würde ich nicht dran wenden, Dich noch einmahl zu sehen, einmahl alle
meine bisherigen Schicksale in Deinen Busen auszuschütten, und aus Deinem Munde die Deinigen zu
hören, die mich wo nicht mehr doch eben so sehr <aq>intereßiren</aq> wie meine eignen. Unser guter alter
Vater, ich weiß, daß er Dich sehr liebt, es würde ihn tief beugen, wenn Du Hülfe nöthig hättest, und er
Dir nicht helfen könnte. Verschone ihn also, wenn Du in Verlegenheit bist, eben so wie unsere
Geschwister, die selbst in Schulden, eben so wie er begraben sind. Wende Dich an mich, mich wird
die Last nicht niederdrücken, die ich für meinen Bruder trage, den meine ganze Seele liebt. Ich bin
auch jünger wie sie, und habe keine Frau und Kinder, die mir Vorwürfe machen können. Was für ein
Verdienst, Dich unserm Vaterlande, unsern frommen Eltern, unsem frohen Geschwistern und
Freunden wiederzugeben, wie weit überwiegt es alle Ungemächlichkeiten! Und dieß erwarte ich
von Deiner Liebe, wenn es wahr ist, daß Du mich liebst. Laß mich immer bey meiner Einbildung
<page index="2"/> daß unter den vielen Ursachen, die Dich bewegen müssen, zurückzukommen, <insertion pos="top">ich</insertion> auch eine
kleine seyn könnte. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich zweifle nicht, daß Du ebenso ungeduldig bist, meine Geschichte zu hören, wie ich die Deinige. Ich
mache Dir keinen Vorwurf. Aber genung es ist traurig für mich, so wenig von Dir zu wißen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Du weißt, daß ich in meiner vorigen Condition einen Antrag zum Fiscalat in Dörpt bekam, den ich aus
vielen kleinen Ursachen ausschlug, die die Vorsehung vielleicht mir zu meinem Glück in den Weg
legte. Einige Wochen drauf kam ich in Vorschlag zum <aq>Stadts-Secretariat</aq> in <aq>Arensburg</aq>. Wunderbar hat
unser große u. gute Vater mich bisher geführt. Alle Hindernisse mußten gehoben werden, und seit
dem Anfange des vorigen Monats bin ich würklich ein 20jähriger <aq>Secretaire</aq>. Einige Ausarbeitungen,
die ich <aq>loco</aq> eines <aq>examinis</aq> machen muste, geriethen gut, weil ich mühsam in der Condition das
nachgeholt hatte, was ich auf der Akademie versäumt. <aq>Turzelmann</aq>, Ratsherr, u. ein Mutterbruder von
unsrer Tarwastschen Schwiegerin ist das Werkzeug meiner Beförderung, bey dem ich wohne und
speise, und der mich in allem, was mir noch am Schlendrijan fehlt, unterstützt und leitet. Meine
Bedienung trägt 300 Rbl. auch wohl beyguten Jahren gegen 400 Rbl. ein, ernährt also, wenn eine gute
Advokatur dazu kömmt, ihren Mann. Aber gegen 500 Rbl. die ich schuldig bin, und die ich ehrlich
bezahlen will, und die schlechten, armseligen Zeiten werden mich lange noch nicht in den Stand
setzen, meine eigene Hütte, zu verstehen mit einer zärtlichen Freundinn, die die Mühseeligkeilen
dieses Lebens mit tragen hilft, zu bewohnen. Es sey drum. So groß mein Begriff von einer solchen
Glückseeligkeit ist, so ist doch die Erfüllung unsrer Pflichten, und das nicht Bewustseyn einer bösen
Handlung <insertion pos="top">eine</insertion> nicht viel kleinere. Der Character dieser Nation, die Beschaffenheit der Stadt und
des Landes, und die kleineren Umstände meiner Geschichte, verspare ich bis zu unserer Gott gebe
baldigen Umarmung. Ich wiederhole noch einmahl, was ich wegen <insertion pos="top">der</insertion> Hinderniße die Dich abhalten
könnten, so bald als möglich in unsre Arme zurückzufliegen, gesagt habe. Eile mein Bruder. Du bist
Dich Deinem Vaterlande schuldig mir u. o wie vielen anderen. Der Himmel wird Dir hier schon
Brodt geben, und vielleicht, gleich sobald Du ankömmst. Ich erwarte bald Nachricht von Dir. Wenn sie
aber so wäre, daß sie unsern Vater kränken könnte, so <aq>adreßire</aq> den Brief nicht an ihn, weil er ihn
aufbrechen würde, sondern schicke ihn durch den jungen Sievers in Strasburg, wenn Du sicher bist,
daß er ihn gut bestellt. Ich unterhalte mit einigen aus dem Hause eine Corres<page index="3"/>pondence, und
bekomme ihn also gewiß, wenn er nur von dort abgeht. Sein Vater ist Land-Rath u. auf Euseküll.
Wenn Du ihn nicht kennst, so mache eine Gelegenheit zur Bekanntschaft. Ich habe viel Gutes von ihm
gehört. Die Condition, von der ich Dir schrieb, u. die ich gehabt habe, ist nun besetzt. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Meine Geschäfte, deren eine ungeheure Menge ist, laßen mir nicht Zeit, mehr zu schreiben. Ich
wünsche, daß dieser Brief zu Dir komme. Doch aus Deinen Briefen sehe ich, daß meine Briefe immer
angekommen sind. Aber die Deinigen ein feindseliger Dämon läßt sie nicht zu mir. Dieß war der
erste, wer weiß wie lange ich wieder werde schmachten müssen. Ein froher Tag wird es seyn, wann
wieder ein Brief von Dich kömmt. Unser leichtsinniger Freund <aq>Begau</aq> hat alle Einlagen an Papa u. an
mich, ich weiß nicht wo gelaßen. Er ist in Curland in Condition u. hat seinen Vater verloren. Genung
für dießmahl. Lebe wohl. Der Himmel erfülle die Wünsche, die die wärmste, feurigste Zärtlichkeit
eines Bruders für Dich thut. Es ist um desto schmertzhafter, daß die besten Herzen nicht die
glücklichsten sind, weil ihrer so wenige sind. Ich umarme Dich. Wie kalt ist diese Umarmung! O Gott!
wenn wird sie würklich werden. Wie dunkel ist die Zukunft unsrer Schicksale! Eine Anlage die ich
immer zur Melancholie gehabt, macht mich traurig, und beklemmt <del>mich</del>, wenn ich an eine so große
Entfernung denke, u. <insertion pos="top">an</insertion> alle Möglichkeiten, alle die <aq>Fantomes</aq> die sich schaarenweise einer
aufgebrachten Einbildung vordrängen. Wenn wird dieser frohe Tag kommen? Oder wird er j emals
kommen? Wozu der Vorwitz? Die Wege der Vorsehung führen uns am besten. Und noch ein
Lebewohl, ein Abschieds-Kuß, eine wollüstige kleine Thräne mit der Versicherung meiner innigsten
Zärtlichkeit, u. daß die Deinige eine der größten Glückseeligkeiten meines Lebens ist. <line type="empty"/>
Johann Christian Lenz. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Tausend Grüße an die Herrn v. Kleist. Ich wünsche sehr, u. mit dem aufrichtigsten Herzen, daß sie
meine Freunde sind, u. sich meiner noch erinnern. Sey glücklich! mein Bruder. Von der Seite der
Freunde bist Du es mehr als ich. Traurig genung, daß ich keinen eintzigen Busenfreund habe. Und was
ist ein Leben ohne Freundschaft? Du hast es nie empfunden, ich liebe Dich auch zu sehr, um es zu
wünschen. Laß mich bald in Dir meinen ersten und fast meinen eintzigen Freund wiederbekommen.
<page index="4"/>
<note>Adresse</note>
A Monsieur
Monsieur J. M. R. Lenz.
Kandidat der Theologie,
presentement a Fort Louis
P. Cond.
<note>nicht identifizierte Hand</note>
Capitaine Lieutenant Salomon Bodmer in der Mühle zu Wölflingen im Canton Zürich.<!-- "<hand>" benötigt zwingend eine Referenz. Wie kann dabei in dem Fall vorgegangen werden, wenn keine Hand identifiziert wurde? --></letterText>
<letterText letter="21"> <line tab="1"/>Herr Simon kommt zurück eh ich ihn haben will: ich kann Ihnen also das Versprochene nicht
zuschicken. Es war mein Trauerspiel, welches ich jetzt eben für Sie abschreibe. Ich werde schon eine
andre Gelegenheit finden es Ihnen zukommen zu lassen. Nicht einmal einen langen Brief erlaubt mir
seine beschleunigte Abreise. Gut, daß ich dann und wann, bei Lesung des Leibnitz ein hingeworfenes
Blatt für Sie beschrieben habe. Vergeben Sie mir, daß ich es nicht abschreibe und meine Gedanken in
Ordnung bringe. Ihnen, als einem unverwöhnten Auge, darf ich sie auch im Schlafrock zeigen; wenn
sie wahr sind, werden sie Ihnen auch alsdann besser gefallen, als falsche in einem Gallakleide. Wie
ich Ihnen gesagt habe, meine philosophischen Betrachtungen dürfen nicht über zwo, drei Minuten
währen, sonst tut mir der Kopf weh. Aber wenn ich einen Gegenstand fünf-, zehnmal so flüchtig
angesehen habe, und finde, daß er noch immer da bleibt und mir immer besser gefällt, so halt ich
ihn für wahr und meine Empfindung führt mich darin richtiger als meine Schlüsse. Nro. 11. ist eine
Apologie meines allerersten Briefes über die Erlösung. Nachdem ich aber Ihre Antwort wieder
durchgelesen, finde ich, daß wir fast einerlei gedacht und dasselbe mit andern Worten ausgedrückt
haben. Sie haben mich unrecht verstanden, wenn Sie glaubten, ich ließe Gott die übeln Folgen der
Sünde auf den Mittler lenken, bloß um seine strafende Gerechtigkeit zu befriedigen. Leibnitz dieses;
er sagt, es ist eine Convenienz, die ihn zwingt Gutes zu belohnen und Böses zu bestrafen. Ich denke
aber, es geschieht bloß um unsertwillen, weil, auf das moralische Uebel kein physisches Uebel, als
eine Strafe folgt; wir lieber Böses als Gutes tun würden, da das Böse leichter zu tun ist. Und warum
Gott das Gute für unsere Natur schwerer gemacht hat, davon ist die Ursache klar, damit wir nicht
müßig gehen; unsere Seele ist nicht zum Stillsitzen, sondern zum Gehen, Arbeiten, Handeln
geschaffen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Doch <aq>seriosa in crastinum</aq>. Ich werde hoffentlich noch mit Ihnen diesen Winter zusammenkommen;
wiewohl das Regiment jetzt die letzte Ordre erhalten hat, hier zu bleiben. Wenn ich Sie Sehe Jetzt
fühle ich, daß die ideale Gegenwart eines Freundes die persönliche nicht ersetzen kann, so werde ich
Ihnen viel zu sagen haben. Meine Seele hat sich hier zu einem Entschlusse ausgewickelt, dem alle Ihre
Vorstellungen dem die Vorstellungen der ganzen Welt vielleicht, keine andere Falte werden geben
können. Wenn ich anders ihn einem Menschen auf der Welt mittheile, ehe er ausgeführt ist. Mein
guter Sokrates, entziehen Sie mir um dessentwillen Ihre Freundschaft nicht; bedenken Sie, daß die
Welt ein Ganzes ist, in welches allerlei Individua passen; die der Schöpfer jedes mit verschiedenen
Kräften und Neigungen ausgerüstet hat, die ihre Bestimmung in sich selbst erforschen und hernach
dieselbe erfüllen müssen; sie seie welche sie wolle. Das Ganze giebt doch hernach die schönste
Harmonie die zu denken ist und macht daß der Werkmeister mit gnädigen Augen darauf hinabsieht
und <it>gut findet</it> <!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? -->was er geschaffen hat. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Nicht wahr, ich rede mystisch, Ihnen fehlten die Prämissen, um meine Folgesätze zu verstehen. Sie
werden sie verstehen, nur Geduld. In der Erwartung will ich Ihnen nur mit der größten logischen
Deutlichkeit sagen, daß ich von ganzem Herzen bin und bleibe <line type="empty"/><line type="break"/>
Ihr drollichter <aq>Alcibiades</aq>. <line type="empty"/>
Sagen Sie doch dem Ott, daß er den <aq>Lenz</aq> nicht über dem <it>Herbst</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> vergesse.</letterText>
<letterText letter="22">Würdiger Mann!
<line tab="1"/>Ich sehe in Ihrem Raritätenkasten alles, was uns die Herrn Modephilosophen und Moralisten, mit
einer marktschreierischen Wortkrämerei, in großen Folianten hererzählen, in zwei Worten
zusammengeraßt und so glücklich zusammengefaßt, daß sich dazu weder zusetzen noch davon
abnehmen läßt. Das ist vortrefflich also das Ziel ist gesteckt, nun Ihre Hand her, mein Sokrates, wir
wollen darauf zugehen, wie auf ein stilles und friedelächelndes Zoar und die hinterlassenen
Vorurtheile immer in Feuer und Schwefel aufgehen lassen, ohne uns darnach umzusehen. Mögen
furchtsame Weiber sich darnach umsehen und drüber zu Salzsäulen werden. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Um noch eine Stelle Ihres ohnendletzten Briefes zu berühren, wo Sie mir zu bedenken aufgaben, ob
Gott wohl uns das Gute könne schwerer machen, als das Böse, oder (um mit Ihren Worten mich
auszudrücken) ob er wohl die <aq>vim inertiae</aq> in uns stärker könne gemacht haben, als die <aq>vim activam</aq>,
so antworte ich, daß ich keine <aq>vim inertiae</aq> glaube. Bedenken Sie doch, mit welchem Fug, wir wohl für
die Unthätigkeit eine Kraft annehmen können? Vereinigung einer Kraft ist sie, Vernachlässigung der
<aq>vis activa</aq>, welche in Wirksamkeit und Thätigkeit zu setzen, allemal in unserm Belieben steht oder
nicht. Es ist aber die Natur einer jeden Kraft, daß sie nur durch Übung erhalten und vermehrt, durch
Vernachlässigung aber, so zu sagen eingeschläfert und verringert wird. Und daß die Übung dieser
Kraft schwerer, als ihre Vernachlässigung sey, liegt in der Natur der Sache und konnte von Gott nicht
verändert werden. <aq>Positio</aq> ist allemal schwerer als <aq>negatio</aq>, wirken schwerer als ruhen, thun schwerer
als nicht thun. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Was die Einwirkung Gottes in die Menschen betrifft, so kann ich mir nur vier Arten davon denken. Er
unterstützt und erhält die in uns gelegten Kräfte und Fähigkeiten diese ist <it>natürlich</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? -->, das heißt,
unsere Vernunft kann sie auch ohne Offenbarung erkennen; und <it>unmittelbar</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> hernach, er leitet die
äußern Umstände und Begebenheiten in der Welt so, daß eine oder die andere Fähigkeit in uns
entwickelt oder vergrößert werde, je nachdem es sein Rathschluß für gut befindet, diese ist gleichfalls
<it>natürlich</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> aber mittelbar. Zum dritten wirkt er durch die in uns geoffenbarten Wahrheiten diese ist
also, ihrem ersten Ursprung nach, <it>übernatürlich</it>, aber zugleich <it>mittelbar</it><!-- Handelt es sich hier um einen Kursivschreibung in der Drucküberlieferung, da hier nicht-lateinische Wörter kursiv gesetzt sind? --> und den Gesetzen der Natur
gemäß. Zum vierten wirkt er übernatürlich und unmittelbar, wie in den Propheten und Aposteln;
diese Einwirkung ist über die Gesetze der Natur erhaben, läßt sich also nicht mehr erklären (wiewohl
wir auch nicht das Recht haben, sie noch jetzt aus der gegenwärtigen Welt auszuschließen, im Fall die
Gottheit gewisse außerordentliche Endzwecke dadurch befördern wollte, welchen Fall aber, meiner
Meinung nach, unsere Vernunft nie determiniren kann, sondern vielmehr jedes Phänomen für
verdächtig halten muß, welches nicht die dazu erforderlichen Kennzeichen bei sich hat). <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Jetzt möge meine philosophische Muse ruhen, sich still zu Ihren Füßen setzen und von Ihnen lernen.
Spekulation ist Spekulation, bläset auf und bleibt leer, schmeichelt und macht doch nicht glücklich.
Zusammen mögen sich die Fittige des Geistes halten, und im Thal ruhen, ehe sie, wenn sie der Sonne
zu nahe kommen, in zerlassenem Wachs heruntertröpfeln und den armen Geist, welcher auf dem
Lande so sicher und lustig hätte einher gehe'n können, aus der Luft in das Meer herab wirft. <line type="empty"/>
Hier ist mein Trauerspiel mit dem Wunsch: möchte dieser Raritätenkasten des Ihrigen werth seyn.
Das beste ist, daß wir beim Tausch nicht verlieren, denn unter sympathisirenden Seelen ist <aq>communio
bonorum</aq>. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Es ist wahr, meine Seele hat bei aller anscheinenden Lustigkeit, jetzt mehr als jemals, eine tragische
Stimmung. Die Lage meiner äußern Umstände trägt wohl das Meiste dazu bei, aber sie soll sie, sie
mag sie nun höher oder tiefer stimmen, doch nie verstimmen. Eine sanfte Melancholei verträgt sich
sehr wohl mit unserer Glückseligkeit und ich hoffe nein ich bin gewiß, daß sie sich noch einst in
reine und dauerhafte Freude auflösen wird, wie ein dunkler Sommermorgen, in einen wolkenlosen
Mittag. Auch fehlen mir jetzt öftere Sonnenblicke nicht, nur kann freilich ein Herz, dem die süßen
Ergötzungen der Freundschaft und der Liebe sogar einer vernünftigen Gesellschaft genommen
sind, bisweilen einen Seufzer nicht unterdrücken. An den Brüsten der Natur hange ich jetzt mit
verdoppelter Inbrunst, sie mag ihre Stirne mit Sonnenstrahlen oder kalten Nebeln umbinden, ihr
mütterliches Antlitz lächelt mir immer und oft wird ich versucht, mit dem alten Junius Brutus, mich
auf den Boden niederzuwerfen und ihr mit einem stummen Kuß für ihre Freundlichkeit zu danken. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>In der That, ich finde in der Flur, um Landau, täglich neue Schönheiten und der kälteste Nordwind
kann mich nicht von ihr zurückschrecken. Hätt ich doch eines göttlichen Malers Pinsel, ich wollte
Ihnen gleich einige Seiten von diesem vortrefflichen Amphitheater der Natur hinmalen, so lebhaft
hats sich in meiner Fantasei abgedrückt. Berge, die den Himmel tragen, Thäler voll Dörfnern zu ihren
Füßen, die dort zu schlafen scheinen, wie Jakob am Fuß seiner Himmelsleiter.
Doch ich würde nur schwärmen, wenn ich fortführe und dafür muß ich meinen Geist in Acht nehmen.
Ich hatte vor einigen Tagen einen Brief an Sie fertig, aber ich verbrannte ihn, denn ich hatte darin
geschwärmt. Ich habe schon viel Papier hier verbrannt ein guter Genius hat über dies Trauerspiel
gewacht, sonst und vielleicht hätten Sie nichts dabei verloren. So viel muß ich Ihnen sagen, daß ich
es bei diesem ersten Versuch nicht werde bewenden lassen, denn ich fühle mich dazu Ich muß
abbrechen und Ihnen gute Nacht sagen. Möchten Sie doch aus Ihren Träumen lachend
erwachen, wie ich heute Morgen aus den meinigen.
Lenz.</letterText>
<letterText letter="23"><line tab="1"/>Ich will Sie auch drücken, mein Sokrates, aber erst, wenn ich Sie ganz kennen gelernt und von ferne
bewundert habe. Recht so wir stehen ganz beisammen; allen Ihren übrigen Meinungen
unterschreibe ich. Wir müssen das Ordentliche von dem Außerordentlichen, das Natürliche vom
Uebernatürlichen unterscheiden, nur müssen wir das Uebernatürliche nicht für unnatürlich halten,
oder aus einer Welt verbannen, in der Gott nach einem höhern Plane arbeitet, als unser kurzsichtiger
schielender Verstand übersehen kann. Ich bin sehr für das Ordentliche, für das Natürliche nur eine
aufmerksame Lesung der Briefe Pauli (der wirklich ein großer ein übernatürlicher Mann war) zwingt
mich eine übernatürliche Einwirkung nicht allein für möglich, sondern auch in gewissen Fällen (wie das
z. E. da die Religion erst im Keimen war) für nothwendig zu halten. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Um auf dem hohen Berge nicht stehen zu bleiben, sondern auch im Thale herumzuhüpfen muß ich
Ihnen sagen, daß Friedericke aus Straßburg an mich geschrieben und mir gesagt hat, sie habe dort
eine besondere Freude gehabt, die ich vielleicht boshaft genug seyn würde, zu errathen. Und das war
die, Sie am Fenster gesehen zu haben. Sie schreibt ferner, sie wäre durch Ihren bloßen Anblick so
dreist geworden, nach dem andern Theile des <aq>Tom Jones</aq> zu schicken und bittet mich sie desfalls zu
entschuldigen. Ist das nicht ein gutes Mädchen?
Und doch muß ich meinen Entschluß vor Ihnen verbergen. <line type="empty"/>
Was ist das für ein Zusammenhang? Ein trauriger <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich bin dazu bestimmt, mir selbst das Leben traurig zu machen aber ich weiß, daß, so sehr ich mir
jetzt die Finger am Dorne zerritze, daß ich doch einmal eine Rose brechen werde <line type="empty"/>
Zu allem diesem werde ich Ihnen die Schlüssel in Straßburg geben <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Der älteste Hr. von Kleist hat mir geschrieben, daß Briefe von meinem Vater da wären; er schickt sie
mir aber nicht, ich soll sie selbst abholen. <line type="empty"/>
Nun aber stößt sich meine Hinreise noch an vielen Dingen. <line type="empty"/>
<line tab="1"/>Ich muß schließen, ich sehe, ich kann dies Blättchen nicht mehr zusiegeln, aber wenn es auch nicht
unser Freund Ott wäre, durch dessen Hände es gienge, so sind unsere Briefe von der Art, als die
spartanischen Ephori an ihre Feldherrn schickten, die an einen gemeinschaftlichen Stab mußten
gewickelt werden, wenn man sie lesen wollte.
Ich bin bis ins Grab<line type="break"/>
Ihr<line type="empty"/>
Lenz.</letterText>
</document>
</opus>