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 			Ihrem verschwindenden Alcibiades
 			J.M.R.L.
 		
+		
+		Weissenburg im Elsaß d. 2ten Septbr. 1772. 
+			
+			Mein Vater! 
+			Ich schreibe Ihnen diesen Brief auf dem Marsch von Fort Louis nach Landau, wohin das Regiment 
+			Anhalt, bey dem sich der H. v. Kleist, (der jüngere) befindt, den letzten des vorigen Monaths 
+			aufgebrochen. Weil der letztere, dessen zärtliche Freundschaft für mich täglich zunimmt, mich immer 
+			um sich haben will, so thue ich mit ihm und zugleich mit dem Regiment, zu Pferde eine zwar sehr 
+			langsame aber auch nicht minder angenehme Reise. 
+			Ich bin Ihnen noch einige Striche von meinem Lebenslauf in Fort Louis schuldig, denn meinen letzten 
+			Brief schrieb ich Ihnen, als ich eben dahin abgieng. Ob ich gleich nicht weiß, ob jemals einer von 
+			meinen Briefen in Ihre Hände gekommen ist, oder kommen wird, so will ich doch meiner Seits nichts 
+			ermangeln lassen. Vielleicht trägt ein gutherziger Wind doch eine Nachricht von mir wie ein 
+			Blumenstäubchen fort, läßt sie noch bey Ihnen niederfallen, und zu einer kleinen Blume der Freude 
+			aufgehn. Ich spähe hier vergebens jeden Winkel nach Nachrichten von Ihnen aus, fast keinen 
+			Fremden, der aus Norden kömmt, laß ich entwischen, allein von Dorpat habe ich doch seit einem 
+			halben Jahr nicht das mindeste erfahren können. 
+			Es ist mir in Fort Louis recht sehr wohl gegangen: eine Wirkung Ihres väterlichen Gebeths und der 
+			Verheißung Gottes, frommen Eltern auch an ihren Kindern noch wohlzuthun. Denn was meine Person 
+			betrifft, so bin ich viel zu gering alles dessen was die Barmherzigkeit des Herrn an mir getan hat. Je 
+			länger ich mit d. Hrn. von Kleist umgehe, desto mehr spüre ich, daß seine Freundschaft zu mir wächst, 
+			anstatt wie es sonst bei jugendlichen Neigungen gewöhnlich ist, durch Gewohnheit und Sättigung zu 
+			erkalten. Ich habe mit seinen Nebenofficiers, die fast alle Deutsche sind, einen recht sehr artigen 
+			Umgang, ob schon ich mich soviel möglich allezeit in mich selbst zurückziehe. Nahe bey Fort Louis 
+			war ein Dörfchen, das ein Prediger mit drey liebenswürdigen Töchtern bewohnte, wohin sich die 
+			Unschuld aus dem Paradiese schien geflüchtet zu haben. Hier habe ich den Sommer über ein so süßes 
+			und zufriedenes Schäferleben geführt, daß mir alles Geräusch der großen Städte fast unerträglich 
+			geworden ist. Nicht ohne Thränen kann ich an diese glückliche Zeit zurück denken! O wie oft hab ich 
+			dort Ihrer und Ihres Zirkels erwähnt! O wie gern wollte ich in den schönen Kranz Ihrer Freunde eine 
+			Rose binden, die hier in dem stillen Tale nur für den Himmel, unerkannt blühet. Ich darf Ihnen diese 
+			Allegorie noch nicht näher erklären, vielleicht geschieht es ins künftige. – Mündlich dereinst hoffe ich, 
+			Ihnen das ganze Gemälde von meinem Lebenslauf aufzustellen, das in einem Briefe Ihnen viel zu 
+			seltsam und romanhaft vorkommen würde. Glauben Sie mir aber, daß die menschliche 
+			Einbildungskraft lange nicht so viel erdichten kann, als das menschliche Leben oft erfahren muß. 
+			Ich habe an diesem Orte kurz vor meiner Abreise eine Predigt, fast aus dem Stegreif gehalten. Sie fiel 
+			für den ersten Versuch und für ein Impromptu gut aus, allein ich entdeckte einen wesentlichen Fehler 
+			fürs Predigtamt an mir, die Stimme. Ich ward heiser und fast krank, und jedermann beschuldigte mich 
+			doch, zu leise geredet zu haben, da überdem die Kirche eine der kleinsten war. Was für eine Stelle mir 
+			also dereinst der Hausvater im Weinberge anweisen wird, weiß ich nicht, sorge auch nicht dafür. Noch 
+			arbeite ich immer nur für mich und lerne von den Vögeln frei und unbekümmert auf den Armen der 
+			Bäume den Schöpfer zu loben, gewiß versichert, das Körnchen das sie heute gesättigt, werde sich 
+			morgen schon wieder finden. Nach Straßburg schicke ich von Zeit zu Zeit kleine Abhandlungen an 
+			eine Gesellschaft der schönen Wißenschaften, die mich zu ihrem Ehrenmitgliede erwählt hat, und die 
+			davon mehr Aufhebens macht, als mir lieb ist. Ob sich auch in Landau für mich ein Feld eröffnen wird, 
+			in dem ich ein wenig graben kann, weiß ich nicht. Ich werde keinen Wink der Vorsehung aus der Acht 
+			lassen, aber auch nicht murren, wenn ich dort noch eine Weile unerkannt und ungedungen am Markt 
+			stehen bleibe. Meine Freundschaften und Verbindungen in Strasburg werden durch diese Reise, die 
+			mich Ihnen einige Stunden näher bringt, nicht zerrissen, sondern nur noch enger zusammengezogen, 
+			da auch bei Freunden und Gönnern immer das Sprichwort wahr bleibt Major ex longinquo reverentia. 
+			Doch seit einiger Zeit, (ich rede von Herzen mit Ihnen) bin ich ziemlich gelassen auch bei den 
+			empfindlichsten Trennungen und Verlusten. Ich habe ihrer schon so viel erfahren. Einige menschliche 
+			Thränen, und alsdenn fröhlich ˕wieder˕ das ganze Herz dem übergeben, der uns für den Verlust einer 
+			Welt entschädigen kann. Die große Moral, die ich aus meinen bisherigen Schicksalen mir abgezogen, 
+			soll immer mein Hauptstudium bleiben: Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und 
+			Erden. Jetzt will ich hier abbrechen und den Beschluß auf einige Tage weiter sparen, da ich Ihnen 
+			auch etwas von Landau melden kann. 
+			
+			Landau den 2ten October.
+			Viele Vorfälle, die mich ganz foderten, haben mir nicht soviel Zeit gelassen, meinen Brief an Sie zu 
+			endigen. Hier muß ich ihn eben stehendes Fußes zum Ende bringen, da sich eine gute Gelegenheit 
+			findet, ihn fortzuschaffen. Ich habe in Landau noch sehr wenig Bekanntschaft gemacht. Der Senior 
+			Herr Mühlberge, ein Schwager meines geliebten Freundes, des Herrn Licentiats Salzmann in 
+			Straßburg, scheint ein wackerer Mann zu sein. Ich bin bey ihm gewesen, habe ihn aber nicht 
+			angetroffen. Seyn Sie doch so gütig, und lassen einliegenden Brief nach Reval kommen, er ist von 
+			einem Feldwebel aus unserm Regiment, der mein Landsmann ist, und als solcher mich gar zu 
+			inständigst gebeten, doch einmal einen Brief von ihm an die Seinigen zu schaffen. Er ist itzt schon 30 
+			Jahr von Hause, verschiedene Landsleute haben seinen Brief angenommen, keiner aber bestellt. O 
+			dacht ich, so werden deine saubern Landsleute es mit deinen Briefen auch gemacht haben – 
+			wenigstens will ich so leichtsinnig nicht sein. Sie werden mir vergeben, daß ich Ihnen dadurch Kosten 
+			mache. Der Mann heißt Hönn, ist eines Predigers Sohn, und hat unter die Soldaten gehen müssen, 
+			weil seine unmenschliche Stiefmutter, sogleich nach dem Tode seines Vaters, ihm da er kaum 1 Jahr 
+			auf der Akademie gewesen, weder Geld noch Brief noch Anweisung mehr geschickt. Er macht noch 
+			Ansprüche auf das Vermögen seines Vaters, wenn anders welches da ist, indem sie sich verheirathet 
+			haben soll und zwar an einen gewissen Past. Oldekop: ich kann nicht begreifen, ob dieser Past. 
+			Oldekop ein weitläuftiger Verwandte von unserm liebenswürdigen Freunde sein sollte. Übrigens führt 
+			dieser Mensch sich ganz ordentlich. 
+			Jetzt muß ich abbrechen, wenn Sie anders diesen Brief noch erhalten sollen. Es heißt, das Regiment 
+			soll auf den Winter nach Straßburg. Wenn ich nach Liefland komme, weiß Gott, indessen sorgen Sie 
+			nie für mich, überlassen Sie dieses ihm. In dessen Vorsorge ich auch Sie empfehle. Tausend Grüße an 
+			alle gute Freunde, tausend Küsse an alle meine Geschwister. Meine beste Mama! o könnte mein 
+			Gebeth Sie gesund machen. Ich küsse Ihr und Ihnen aufs zärtlichste die Hände 
+			als 
+			Dero 
+			gehorsamster Sohn 
+			J. M. R. Lenz.
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