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Einpflegung von Brief 60.
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fortschreiten. Amen. <line type="empty"/>
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Den 23. Julius 1775.</letterText>
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<letterText letter="60"><line tab="1"/><aq>Respectable pauvreté! J’apprendrai par mon experience a ne jamais blesser vos caurs par des idees et
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des termes insultants.</aq> <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Da wollt’ ich Sie haben, gnädige Frau! Hier leg’ ich Ihr Buch zu, und umarme Sie im Geist. – Sehen Sie
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da den ganzen Plan meines Lebens, meines Daseyns, meines Comödienschreibens, vielleicht einst
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meines Todes. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Ach, fürtrefliche Frau! So ist denn dieser Nerve des Gefühls bei Ihnen auch angeschlagen. Könnten
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aber Personen von Ihrem Stande, Ihren Einsichten, Ihrem Herzen, sich jemals ganz in den
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Gesichtskreis dieser Armen herabniedrigen, anschauend wie Gott erkennen, was ihnen Kummer, was
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ihnen Freude scheint, und folglich <ul>ist,</ul> und ihren Kummer, der oft mit einer Handwendung eines
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erleuchteten Wesens, wie der Stein von dem Grabe Christi weggewälzt werden könnte, auf die ihnen
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eigenthümliche Art behandeln. Ach! das große Geheimniß, sich in viele Gesichtspunkte zu stellen, und
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jeden Menschen mit seinen eigenen Augen ansehen zu können! Sie wären die erste Frau von Stande,
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die das gefühlt hätte. Ich bitte Sie, lassen Sie mich Sie umarmen. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Sie sollen einmal ein Stück von mir lesen: <ul>Die Soldaten.</ul> Überhaupt wird meine Bemühung dahin
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gehen, die Stände darzustellen, wie sie sind; nicht, wie sie Personen aus einer höheren Sphäre sich
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vorstellen, und den mitleidigen, gefühlvollen, wohlthätigen Gottesherzen unter diesen, neue
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Aussichten und Laufbahnen für ihre Göttlichkeit zu eröffnen. Dazu gehört aber Zeit, und viel
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Experimente. <ul>Menoza</ul> ist ein übereiltes Stück, an dem nichts als die Idee schätzbar ist. Das hier
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beygelegte ist gleichfalls nur ein Gemählde aus meinem Leben heraus gehoben. Sie könnten mir
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keinen höhern Beweiß Ihrer Freundschaft geben, als wenn Sie mir Ihr strengstes Urtheil darüber
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zuschickten. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Sie haben recht; Ihre Anmerkung über meine Stücke habe ich mir zuweilen selbst gemacht, und in
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meinen künftigen sollen auch keine solche Schandthaten mehr vorkommen. Doch bitte ich Sie sehr, zu
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bedenken, gnädige Frau! daß mein Publikum das ganze Volck ist; daß ich den Pöbel so wenig
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ausschließen kann, als Personen von Geschmack und Erziehung, und daß der gemeine Mann mit der
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Häßlichkeit feiner Regungen des Lasters, nicht so bekannt ist, sondern ihm anschaulich gemacht
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werden muß, wo sie hinausführen. Auch sind dergleichen Sachen wirklich in der Natur; leider können
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sie nur in der Vorstellung nicht gefallen, und sollen’s auch nicht. Ich will aber nichts, als
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dem Verderbnis der Sitten entgegen arbeiten, das von den glänzenden zu den niedrigen Ständen hinab
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schleicht, und wogegen diese die Hülfsmittel nicht haben können, als jene. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Sie sehen, warum ich Wieland als Menschen lieben, als komischen Dichter bewundern kann, aber als
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Philosophen hasse, und ewig hassen muß. Er glaubt, den Menschen einen Dienst zu erweisen, wenn
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er ihnen begreiflich macht, ihre Kräfte seyn keiner Erhöhung fähig. Und wer läßt sich das nicht gern
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einbilden, und beharrt gern auf dem Sinnlichen, zu dem er die meiste Gravitation fühlt. Daß W. Sie lieben,
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und doch so philosophiren konnte, bleibt mir, wie viele andre Dinge in seinem Character, noch immer
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ein unauflösliches Räthsel, wenn ich nicht den Aufschluß in dem großen Motiv aller im Schwang
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gehenden Autoren fände, daß er seine Rechnung dabei findet. Ich verdamme ihn deswegen nicht, ich
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zittre nur vor der Gefahr, einst in dieselbe Schlinge zu fallen. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Er liebte Sie in seinem siebenzehnten Jahre; – O Wieland! daß du diese Eindrücke heilig gehalten
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hättest, daß sie sich nie aus deinem Herzen und Imagination verwischt hätten. Freundschaft ist nicht
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genug; er hätte Sie sein ganzes Leben durch lieben sollen, und er hätte die Tugend geliebt. Sie hätten
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allen seinen Gemälden die hohe himmlische Grazie gegeben, die man izt an so vielen vermißt. Sagen Sie
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mir, welche Bewandniß hat es mit seinem Agathon, und spielen Sie auch eine Rolle darin? Durch welche
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wunderbare Mechanik in dem Kopfe des Dichters, ward Psyche so in den Schatten gestellt? Und ist Danae
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dieselbe, der die Grazien gewidmet wurden? Er malt sie so vorteilhaft als möglich, und doch schlägt
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jedes Herz für Psychen, so gern auch die Phantasey bey der Hauptfigur verweilet. – Wie war seine erste
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Liebe, und wo lernte er Sie kennen? <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Verzeihen Sie meine Effronterie. Doch mein Herz straft mich, so bald ich mich darüber entschuldige.
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Das aber verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen durch manche Ausdrücke meines letzten Briefes Ihr
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Publicum wider meinen Willen verleumdet habe. Wölkchen hangen immer noch vor Ihnen, (wie es
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denn auch so seyn muß, von Moses Zeiten an, dessen Angesicht das Volck nicht ertragen konnte);
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aber ganz verkannt sind Sie doch auch nicht, besonders von denen, die Sie gesehen und gehört haben,
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wie denn das sich auch leicht begreifen läßt. Überhaupt red’ ich auch nur einseitig, und der
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Zirkel meiner Bekanntschaften ist immer eingeschränkt gewesen. <line type="empty"/>
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<line tab="1"/>Ihre Erzehlung: die Gouvernante, ist ganz vortreflich, und gerad das Seltsame des Einfalls veranlaßt
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die rührendsten Situationen. Ich liebe alle seltsame Einfalle; sie sind das Zeichen nicht gemeiner
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Herzen. Wer in dem gebahnten Wege forttrabt, mit dem halte ich’s keine Viertelstunde aus. Nur,
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meine liebe gnädige Frau, wie kommen doch alle Ihre Heldinnen dazu, die heilige Sternheim ausgenommen,
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sich immer nur auf Hörensagen zu verlieben. Es freut mich; aber sollte das wirklich ein Zug in dem
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Character aller empfindsamen Damen seyn? Ich kann mir’s freilich wohl denken: Ihre Phantasey erschafft
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sich den Gegenstand sogleich in der glücklichsten, gefalligsten Gestalt. Aber sollte das allemal der
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beste Weg seyn, und könnte er nicht manchmal sehr fehl führen? Wie wär’s, wenn Sie einmal ein Exempel
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von der Gegengattung dichteten, liebenswürdige Schwärmerin! (O Gott! ich kenne keine höhere Klasse
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erschaffener Wesen!) auf allen Fall auch zu warnen, wenigstens vorsichtig zu machen. Denken Sie,
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wenn ein Geschöpf wie Ihre Gouvernante, in die Klauen eines gewöhnlichen Officiers gefallen wäre –
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doch weg mit diesem Gedanken! Er zieht mich von der Sonne ins Meer hinab. <line type="empty"/></letterText>
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@@ -898,6 +898,22 @@
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<isDraft value="false" />
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<letterDesc letter="60">
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<date value="Straßburg, Juli 1775" />
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<sort value="1775-07-25" />
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<letterTradition letter="60">
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Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, GSA 56/I,6,1, Bl. 7r–8v, zg. Abschrift
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