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Präservativ für eine Krankheit ist, Ihnen leicht ein Recidiv geben kann. Ich bin ganz der Ihrige
Lenz.
+ Arensburg in der Insel Oesel d. 24. Septbr: a. St. 1772
+
+ Mein zärtlich geliebter Bruder,
+
+ Um die Freude auszudrücken, die Dein Brief mir verursachet, müßte ich mehr Muße und einen
+ größern Raum haben. Der Anblick einer Hand, die ich zwey lange Jahre zu sehn entwöhnt bin, war das
+ für mich, was Robinson auf einer wüsten Insel der erste Anblick einer Menschen-Gestalt nur immer
+ seyn konnte. – Ich weiß jetzt daß Du lebst, daß Du wo nicht glücklich doch auch nicht ganz unglücklich
+ bist, und dieß ist alles. – Aber die Schicksale, die Du verschweigst, mir verschweigst, in dessen Busen
+ Deine Geheimnisse, wenn Du welche hast, so gut verwahrt wären, wie in der Deinigen, gewiß diese
+ machen mich unruhig. Gott weiß, daß ich Dein Glück wünsche, und so sehr wünsche, als es vielleicht
+ keiner außer mir thut. Könnte ich zu Deiner Zufriedenheit was beytragen, wie sehr würde meine
+ eigne vergrößert werden. Sey offenhertzig gegen mich, wenn Du von meiner Zärtlichkeit überzeugt
+ bist; Und der Himmel verzeyhe es Dir, wenn Du es nicht bist. Sollte vielleicht Deine Rückreise durch
+ kleine Verwickelungen aufgehalten werden, so entdecke Dich mir, vielleicht kann ich Mittel erfinden,
+ Dir zu helfen? Denn was würde ich nicht dran wenden, Dich noch einmahl zu sehen, einmahl alle
+ meine bisherigen Schicksale in Deinen Busen auszuschütten, und aus Deinem Munde die Deinigen zu
+ hören, die mich wo nicht mehr doch eben so sehr intereßiren wie meine eignen. – Unser guter alter
+ Vater, ich weiß, daß er Dich sehr liebt, es würde ihn tief beugen, wenn Du Hülfe nöthig hättest, und er
+ Dir nicht helfen könnte. Verschone ihn also, wenn Du in Verlegenheit bist, eben so wie unsere
+ Geschwister, die selbst in Schulden, eben so wie er begraben sind. Wende Dich an mich, mich wird
+ die Last nicht niederdrücken, die ich für meinen Bruder trage, den meine ganze Seele liebt. Ich bin
+ auch jünger wie sie, und habe keine Frau und Kinder, die mir Vorwürfe machen können. – Was für ein
+ Verdienst, Dich unserm Vaterlande, unsern frommen Eltern, unsem frohen Geschwistern und
+ Freunden wiederzugeben, wie weit überwiegt es alle Ungemächlichkeiten! – Und dieß erwarte ich
+ von Deiner Liebe, wenn es wahr ist, daß Du mich liebst. – Laß mich immer bey meiner Einbildung
+ daß unter den vielen Ursachen, die Dich bewegen müssen, zurückzukommen, ich auch eine
+ kleine seyn könnte.
+
+ Ich zweifle nicht, daß Du ebenso ungeduldig bist, meine Geschichte zu hören, wie ich die Deinige. Ich
+ mache Dir keinen Vorwurf. Aber – genung es ist traurig für mich, so wenig von Dir zu wißen.
+
+ Du weißt, daß ich in meiner vorigen Condition einen Antrag zum Fiscalat in Dörpt bekam, den ich aus
+ vielen kleinen Ursachen ausschlug, die die Vorsehung vielleicht mir zu meinem Glück in den Weg
+ legte. Einige Wochen drauf kam ich in Vorschlag zum Stadts-Secretariat in Arensburg. Wunderbar hat
+ unser große u. gute Vater mich bisher geführt. Alle Hindernisse mußten gehoben werden, und seit
+ dem Anfange des vorigen Monats bin ich würklich ein 20jähriger Secretaire. Einige Ausarbeitungen,
+ die ich loco eines examinis machen muste, geriethen gut, weil ich mühsam in der Condition das
+ nachgeholt hatte, was ich auf der Akademie versäumt. Turzelmann, Ratsherr, u. ein Mutterbruder von
+ unsrer Tarwastschen Schwiegerin ist das Werkzeug meiner Beförderung, bey dem ich wohne und
+ speise, und der mich in allem, was mir noch am Schlendrijan fehlt, unterstützt und leitet. Meine
+ Bedienung trägt 300 Rbl. auch wohl beyguten Jahren gegen 400 Rbl. ein, ernährt also, wenn eine gute
+ Advokatur dazu kömmt, ihren Mann. Aber gegen 500 Rbl. die ich schuldig bin, und die ich ehrlich
+ bezahlen will, und die schlechten, armseligen Zeiten werden mich lange noch nicht in den Stand
+ setzen, meine eigene Hütte, zu verstehen mit einer zärtlichen Freundinn, die die Mühseeligkeilen
+ dieses Lebens mit tragen hilft, zu bewohnen. Es sey drum. So groß mein Begriff von einer solchen
+ Glückseeligkeit ist, so ist doch die Erfüllung unsrer Pflichten, und das nicht Bewustseyn einer bösen
+ Handlung eine nicht viel kleinere. – Der Character dieser Nation, die Beschaffenheit der Stadt und
+ des Landes, und die kleineren Umstände meiner Geschichte, verspare ich bis zu unserer – Gott gebe
+ baldigen Umarmung. Ich wiederhole noch einmahl, was ich wegen der Hinderniße die Dich abhalten
+ könnten, so bald als möglich in unsre Arme zurückzufliegen, gesagt habe. Eile mein Bruder. Du bist
+ Dich Deinem Vaterlande schuldig – mir – u. o wie vielen anderen. Der Himmel wird Dir hier schon
+ Brodt geben, und vielleicht, gleich sobald Du ankömmst. Ich erwarte bald Nachricht von Dir. Wenn sie
+ aber so wäre, daß sie unsern Vater kränken könnte, so adreßire den Brief nicht an ihn, weil er ihn
+ aufbrechen würde, sondern schicke ihn durch den jungen Sievers in Strasburg, wenn Du sicher bist,
+ daß er ihn gut bestellt. Ich unterhalte mit einigen aus dem Hause eine Correspondence, und
+ bekomme ihn also gewiß, wenn er nur von dort abgeht. Sein Vater ist Land-Rath u. auf Euseküll.
+ Wenn Du ihn nicht kennst, so mache eine Gelegenheit zur Bekanntschaft. Ich habe viel Gutes von ihm
+ gehört. – Die Condition, von der ich Dir schrieb, u. die ich gehabt habe, ist nun besetzt. –
+
+ Meine Geschäfte, deren eine ungeheure Menge ist, laßen mir nicht Zeit, mehr zu schreiben. Ich
+ wünsche, daß dieser Brief zu Dir komme. Doch aus Deinen Briefen sehe ich, daß meine Briefe immer
+ angekommen sind. Aber die Deinigen – ein feindseliger Dämon läßt sie nicht zu mir. Dieß war der
+ erste, wer weiß wie lange ich wieder werde schmachten müssen. Ein froher Tag wird es seyn, wann
+ wieder ein Brief von Dich kömmt. Unser leichtsinniger Freund Begau hat alle Einlagen an Papa u. an
+ mich, ich weiß nicht wo gelaßen. Er ist in Curland in Condition u. hat seinen Vater verloren. – Genung
+ für dießmahl. Lebe wohl. Der Himmel erfülle die Wünsche, die die wärmste, feurigste Zärtlichkeit
+ eines Bruders für Dich thut. Es ist um desto schmertzhafter, daß die besten Herzen nicht die
+ glücklichsten sind, weil ihrer so wenige sind. Ich umarme Dich. Wie kalt ist diese Umarmung! O Gott!
+ wenn wird sie würklich werden. Wie dunkel ist die Zukunft unsrer Schicksale! Eine Anlage die ich
+ immer zur Melancholie gehabt, macht mich traurig, und beklemmt mich, wenn ich an eine so große
+ Entfernung denke, u. an alle Möglichkeiten, alle die Fantomes die sich schaarenweise einer
+ aufgebrachten Einbildung vordrängen. Wenn wird dieser frohe Tag kommen? – Oder wird er j emals
+ kommen? – Wozu der Vorwitz? Die Wege der Vorsehung führen uns am besten. Und noch ein
+ Lebewohl, ein Abschieds-Kuß, eine wollüstige kleine Thräne mit der Versicherung meiner innigsten
+ Zärtlichkeit, u. daß die Deinige eine der größten Glückseeligkeiten meines Lebens ist.
+
+ Johann Christian Lenz.
+
+ Tausend Grüße an die Herrn v. Kleist. Ich wünsche sehr, u. mit dem aufrichtigsten Herzen, daß sie
+ meine Freunde sind, u. sich meiner noch erinnern. – Sey glücklich! mein Bruder. – Von der Seite der
+ Freunde bist Du es mehr als ich. Traurig genung, daß ich keinen eintzigen Busenfreund habe. Und was
+ ist ein Leben ohne Freundschaft? Du hast es nie empfunden, ich liebe Dich auch zu sehr, um es zu
+ wünschen. Laß mich bald in Dir meinen ersten und fast meinen eintzigen Freund wiederbekommen.
+
+
+ Adresse
+ A Monsieur
+ Monsieur J. M. R. Lenz.
+ Kandidat der Theologie,
+ presentement a Fort Louis
+ P. Cond.
+
+ nicht identifizierte Hand
+ Capitaine Lieutenant Salomon Bodmer in der Mühle zu Wölflingen im Canton Zürich.